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# taz.de -- Die Wahrheit: Mein und Dein nur Schein
> Populäre Kriminalität: Unsere Gesellschaft hofiert Ganoven öffentlich bis
> aufs Blut. Kriminelle besetzen inzwischen Spitzenpositionen.
Bild: Geschickte Maskierung ist alles: Panzerknackerin auf Beutezug
Mit Schrecken erinnert sich Karl-Heinz Garbe an den Tag, als der neue
Nachbar einzog. Hilflos muss der pensionierte Kriminalbeamte mitansehen –
hinter zugezogenen Vorhängen, durch sein Fernglas –, wie die Bewohner der
Vorstadtsiedlung an der Haustür nebenan Schlange stehen, um den tätowierten
Neuankömmling samt Gattin mit saftigem Kuchen und knackigen Salaten zu
begrüßen. Doch der neue Nachbar ist kein normaler Nachbar, wie Garbe besser
als jeder andere weiß: Den Bankräuber hatte er einst höchstpersönlich
hinter Gitter gebracht!
Willkommenskultur für Kriminelle – kein Einzelfall, sondern schaurige
Realität des Jahres 2017. So wie der vormalige Gesetzeshüter Garbe wachen
immer mehr Menschen in einem Albtraum auf. Noch während sie sich die Augen
reiben, merken sie entsetzt: Deutschland ist zum Paradies für
Gesetzesbrecher geworden. Diese leben plötzlich mitten unter uns, in Saus
und Braus statt hinter schwedischen Gardinen, werden toleriert, akzeptiert
und immer öfter herzlich zu sommerlichen Grillpartys eingeladen. Nachts
aber, wenn die Gesellschaft beide Augen fest zukneift, gehen sie
ungehindert weiter ihren krummen Geschäften nach und drehen allerlei
Dinger, zum Beispiel Zahlenkombinationen an Tresorschlössern.
„Früher hat unsere Gemeinschaft Verbrecher noch geächtet“, sagt der
Ruheständler. „In vielen Fällen sogar ins Gefängnis geschickt. Doch jetzt,
da die Kriminalität in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, gilt sie
den meisten nur noch als Bagatelldelikt.“
Wo er recht hat, hat er recht. Ladendiebstahl zum Beispiel ist bei jungen
Erwachsenen regelrecht zum Sport geworden, dessen Popularität beständig
wächst: Erfolgreiche Ladendiebe werden von einem Millionenpublikum
angehimmelt, können das Klauen aufgeben und von ihren Werbemilliarden
leben. Den Antrag zur Aufnahme in die olympischen Disziplinen hat das
Nationale Komitee gerade rausgesandt.
## Einbrecher wurde zum Ausbildungsberuf
Daran, dass die Integration der Spitzbuben so mühelos vonstattengeht, ist
die Politik allerdings nicht ganz unschuldig. Erschütterndes Beispiel:
Einbrecher wurde im vorigen Jahr tatsächlich als Ausbildungsberuf wie jeder
andere anerkannt. Viele Industrie- und Handelskammern bieten bereits
Fortbildungen zum staatlich geprüften Panzerknacker an, einzelne auch
Umschulungen zum Juwelendieb – Tagungsort selbstverständlich Monte Carlo,
die Kosten trägt Vater Staat.
Überdies sorgt eine Vielzahl von Verordnungen bis ins kleinste Detail
dafür, dass Kriminelle sich gegen jede Form von Diskriminierung am
Arbeitsplatz wehren dürfen. Als solche gilt laut einem Urteil des
Oberlandesgerichts Bremen schon, wenn man ihnen den Weg durchs eigene
Schlafzimmer verwehrt! Oder sie dabei „Halunke“ schimpft.
Auch unser Bildungssystem macht begeistert mit. Es fängt schon auf dem
Schulhof an, wenn die Erstklässler Räuber und Gendarm spielen. In der
derzeit an Deutschlands Schulen geübten Version dürfen die Räuber die
Gendarmen fangen, zusammenschlagen und unter stinkenden Medizinbällen
begraben – wer gewinnt, kriegt eine Eins in Sozialverhalten. Gymnasiasten
verdienen sich ihr Taschengeld durch die Bank mit Mundraub und
Taschendiebstahl. Und wer auf Abifahrt mitwill, muss im Sekretariat zuerst
eine Anklage wegen räuberischer Erpressung vorzeigen und die wegen
Urkundenfälschung gleich hinterher!
## Kaum ein Buch ohne kriminelle Hauptfiguren
Für ihr weiteres Leben sind die jungen Menschen damit gut gerüstet,
jedenfalls in diesem Land. So geraten immer mehr von ihnen auf die schiefe
Bahn, die heutzutage nicht mehr abwärts, sondern schnurstracks nach oben
führt. Bis in die höchsten Kreise hinein werden Kriminelle nämlich hofiert.
Man dreht Filme über sie, zeigt sie unentwegt im Fernsehprogramm, kaum ein
Buch kommt mehr ohne kriminelle Hauptfiguren aus, die sogar einem ganzen
Genre den Namen geliehen haben – natürlich zu horrenden Zinsen!
Unterdessen erklimmen die rücksichtslosesten der Ganoven unaufhörlich
weitere Sprossen der sozialen Räuberleiter. Der Unterschied zwischen Mein
und Dein droht verloren zu gehen, und ein Ende ist nicht abzusehen:
Ausgewiesene Kriminelle besetzen inzwischen Spitzenpositionen in der
Wirtschaft und selbst etliche Posten in der Regierung!
## Puderzucker in den Hintern
Widerstand dagegen, dass unsere Demokratie auf dem besten Weg ist, sich in
eine Verbrecherherrschaft zu verwandeln, brauchen die Banditen indes nicht
zu befürchten. „Unsere Gesellschaft“, sagt Expolizist Garbe leise und spä…
durch die verhängten Fenster, „pustet diesen Leuten Puderzucker in den
Hintern.“
Draußen peitschen derweil Kugeln über den Asphalt, in den Rinnsteinen
liegen umgekippte Mülltonnen und ausgeplünderte Rentnerinnen. „Heute bin
leider ich dran“, lächelt er gequält und bricht mit einer Tüte Puderzucker
in der Hand auf zum neuen Nachbarn.
10 May 2017
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Kriminalität
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