# taz.de -- Die Wahrheit: Lesedauer: 100 Minuten | |
> Dieser Beitrag gibt Ihnen als Leser etwas, das Sie sich schon immer | |
> gewünscht haben: eine exakte Zeitangabe, wie lange Sie für die Lektüre | |
> brauchen | |
Im Onlinejournalismus ist es inzwischen gang und gäbe, Beiträgen einen | |
Hinweis auf die voraussichtliche Lektüredauer voranzustellen. Daher gleich | |
zu Beginn eine Warnung: Die Lesezeit für diesen Text beträgt 100 Minuten! | |
Ich gehe nämlich davon aus, dass Sie einer jener konzentrierten Leser sind, | |
die ihren Zeigefinger wie eine Schnecke unter den Zeilen herkriechen | |
lassen, nach jedem Satz eine angemessene Denkpause einlegen und | |
anschließend ein wenig darüber twittern möchten. | |
Mit eingerechnet habe ich auch, dass Sie zwischendurch einen Kaffee kochen, | |
den Sie beim Einschenken versehentlich auf den Tisch gießen, was zum | |
prompten Aufwischen zwingt und jede Akzeleration des Lesevorgangs | |
wirkungsvoll verhindert. Ich habe sogar daran gedacht, dass Sie eine | |
Vokabel wie „Akzeleration“ eigens im Fremdwörterbuch nachschlagen müssen! | |
Für Sie als Textkonsument ist eine solche Serviceleistung praktisch, für | |
unser aller Zeitmanagement ein Fortschritt. Wie oft hatte man sich in der | |
Vergangenheit in üppig bebilderten Magazinstrecken verstrickt, die kein | |
Ende zu nehmen schienen. Wenn die Texte dann doch mal auf die Zielgerade | |
einbogen, dämmerte schon der Morgen, und eine frische Tageszeitung | |
klapperte fröhlich im Postkasten, um einen mit einer neuen diffusen | |
Gesamtlesedauer zu bedrohen. Wäre man vorgewarnt gewesen, hätte man auf das | |
Stück verzichtet und sich mit dem Leitartikel begnügt – Schreibdauer: zwei | |
Minuten, Lesedauer: vier Minuten. | |
Im Internet indes, dieser riesigen Maschine zur Beschleunigung alles | |
Irdischen, ist Zeit erst recht ein knappes Gut. Trockene Agenturmeldungen | |
konkurrieren mit süßen Erdmännchen-Fotos, da möchte man lieber exakt | |
wissen, wofür man seine mühsam verdiente Zeit hingibt. Einer glänzend | |
geschriebenen Geschichte über brutalistische Architektur würde ich zum | |
Beispiel nicht mehr als acht Minuten opfern, an einem mittelmäßigen | |
Impressum könnte ich dagegen eine Stunde hängenbleiben. Jedem, wie’s | |
gefällt! | |
Damit sich die Sache mit den Lesezeitenangaben zu einem flächendeckenden | |
Erfolg auswächst, müsste man allerdings verhindern, dass irgendwelche | |
Strebertypen daraus ein Wettrennen machen. Dass sie ihre Stoppuhr im | |
Smartphone anwerfen, um mal wieder der Schnellste zu sein. Dass sie Sätze | |
auslassen, Absätze überfliegen, mutwillig querlesen und heimlich zum | |
Schluss vorpreschen, ohne sich an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit | |
zu halten, und sich dann vor aller Welt damit brüsten. So nicht! | |
Mir schwebt da eher ein partnerschaftlicher Ansatz vor, bei dem Ehrlichkeit | |
Trumpf ist und sich jeder genau die Zeit nimmt, die er braucht. | |
Pünktlichkeit ist nicht immer das Wichtigste im Leben, und gegenseitige | |
Rücksicht hilft allen: dem Schreiber beim Schreiben, dem Leser beim Lesen. | |
Wenn Sie also in zwanzig Minuten einen Termin bei Ihrem Frisör oder | |
Steuerberater haben, sollten Sie sich auf den Weg machen. Eventuell | |
schaffen Sie es noch rechtzeitig. Der Text kann so lange warten. | |
13 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Schwerpunkt Meta | |
Kanzlerkandidatur | |
Informationen | |
Kriminalität | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: „Ich verknöpfe mich extra“ | |
Das große Wahrheit-Exklusiv-Interview: Kanzleringatte Joachim Sauer über | |
physikalische Chemie, Gender- und Merkelfragen. | |
Die Wahrheit: Glimmender Hass | |
Rasanter Einsatz für die Medienfeuerwehr mit ihren Datenschutzanzügen: Ein | |
Besuch in Facebooks neuem Berliner Löschzentrum. | |
Die Wahrheit: Auf keinen Fall Hype! | |
Privat: ein schmerzhafter Hausbesuch bei Martin Schulz. Es gibt | |
hausgemachte Süßkartoffelspaghetti an einer Ingwer-Avocado-Bolognese. | |
Die Wahrheit: Inhalte verzweifelt gesucht | |
Als alter Content-Junkie bin ich ständig auf der Jagd nach dem nächsten | |
Schuss Inhalt. Ich weiß, wie man an den Stoff rankommt. | |
Die Wahrheit: Mein und Dein nur Schein | |
Populäre Kriminalität: Unsere Gesellschaft hofiert Ganoven öffentlich bis | |
aufs Blut. Kriminelle besetzen inzwischen Spitzenpositionen. |