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# taz.de -- Die Wahrheit: Lasst die Zeitung leben!
> Der neueste Medientrend: Deutschland liest zaghaft wieder Print und will
> seine Nachrichtenbedürfnisse schwarz auf weiß befriedigt sehen.
Bild: Immer öfter lesen neuerdings Menschen öffentlich Zeitung
Für Zeitungsfans sind die jüngsten Zahlen der Informationsgemeinschaft zur
Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern, kurz IVW, ein Schock. Die
Auflagen der von ihnen so geschätzten papierenen Leckerbissen rauschten
zuletzt weiter in den Keller.
Springers Bild verlor laut IVW im Vergleich zum Vorjahr über zehn Prozent.
Angesehene Blätter wie die Süddeutsche oder die Frankfurter Allgemeine
verkaufen im Schnitt nur noch knapp über 300.000 beziehungsweise 200.000
Exemplare pro Tag. Was läuft da schief? Verlernen die Deutschen das
Zeitunglesen?
„Absolut“, sagt Erno Pöttner. Er gehört zu den vielen ehemaligen Beziehern
einer lokalen Tageszeitung, die es sich allmorgendlich mit den News aus dem
Smartphone bequem machen. „Gleich beim ersten Schluck Kaffee stelle ich mir
zwar die Frage: Soll ich irgendwie losgehen und eine Zeitung holen? Aber
ich wohne im dritten Stock, zudem hat um die Uhrzeit der pakistanische
Kiosk noch nicht offen.“
Der 41-Jährige müsste also praktisch bis zum Woolworth südlich vom nächsten
U-Bahn-Eingang laufen – unzumutbar, wie nicht nur er meint.
## Hartnäckige Abo-Abstinenz
Ein Abonnement allerdings, das ihn von solcher Mühsal erlösen könnte, kommt
für den studierten Teilzeitgrafiker nicht mehr in die Tüte, „aus
Gewissensgründen“, wie er betont. „Ich möchte mich einfach nicht mehr so
festlegen“, erklärt Pöttner die hartnäckige Abo-Abstinenz. „Jeden Morgen
dieselbe voreingenommene Nachrichtenquelle mit all ihren Spleens und
Marotten, da könnte ich ja gleich wieder heiraten.“
Doch auch regelmäßige Wechsler verzichten inzwischen auf den täglichen Stoß
Papier vom Kiosk – so wie Ronnie Zübel (60). Bis vor anderthalb Jahren
bereitete er sein Nachtlager unter einer Mainbrücke stets auf einer
frischen Tageszeitung, an guten Tagen zum Beispiel auf dem Handelsblatt, an
schlechten auf der Welt kompakt – sein einziger Luxus, wie der Wohnungslose
beteuert. „Irgendwann las ich dann mal, worauf ich nachts mein Haupt
bettete, und war entsetzt: Da ging es ja nur um die kleinlichen Sorgen der
saturierten deutschen Mittelschichten!“
Aber ist Boykott der richtige Weg, die Zeitungen wieder zurück in die
Lebenswelten ihrer Leser zu zwingen? Nein, findet Reinhold Karstgen,
Volkshochschuldozent aus Ochtrup. „Für mich wird es langsam Zeit, ins
Zeitungsgeschäft zurückzukehren. Ich habe diese Industrie viel zu lange
boykottiert.“
Vor zehn Jahren kündigte er umstandslos sein Abo der Westfälischen
Nachrichten, um sich von einem tiefliegenden Trauma zu befreien: „Ich hatte
das Gefühl, den Medienwandel verschlafen zu haben, unangemessen lang an den
Papiermonstern hängengeblieben zu sein, die die Printmafia aus reinem
Profitinteresse in meinem Briefkasten deponierte.“
Gemeinsam mit Freundin Hiltrud verfolgte er das Tagesgeschehen fortan ganz
bewusst nur noch auf dem Notebook, später auf dem Handy: „Auch so konnten
wir uns Schneisen durchs aktuelle Politbrimborium schlagen, nur viel
schneller, minutenaktueller und vor allem: für lau!“ Nach Herzenslust
stöberten die beiden digital durch die besten Zeitungen der Welt, Lokales
aus Japan, Vermischtes aus Alaska, gediegene Leitartikel aus verschlafenen
Bergdörfern in der Schweiz. Hiltrud erinnert sich: „Es war wie im
Schlaraffenland, wir fraßen uns bis zum Anschlag mit Nachrichten voll, und
hinterher war uns schön schlecht.“ Kein Wunder, dass immer mehr
Gleichgesinnte ein Zeichen gegen die kommerzielle Ausbeutung ihrer
Nachrichtenbedürfnisse setzten und sich dem Boykott anschlossen.
Vor Kurzem zog das engagierte Paar jedoch schonungslos Resümee. Statt mit
einer Verbesserung und Verbilligung ihrer Gazetten hätten die
Zeitungskonzerne mit Einsparungen und Entlassungen auf die allgemeine
Kaufverweigerung reagiert, zuletzt sogar mit der Einführung von
Online-Bezahlschranken. „Zudem gehen mittlerweile Bildung und Demokratie
vor die Hunde“, seufzt Hiltrud. „Deshalb opfern wir uns jetzt wieder ein
paar mal in der Woche und kaufen von unserem guten Geld irgendeine
Zeitung.“
## Abbruch des Boykotts
Reinhold Karstgen sieht im Abbruch des Boykotts überdies mehr Vorteile als
Nachteile: „Man hat für das Blatt bezahlt, also muss man auch in die
uninteressantesten Teile wenigstens einen Blick werfen. Reise oder Motor &
Technik zum Beispiel: in der Regel grauenhaft langweilig!“ Aber dafür, so
Karstgen, erfahre man anders als im Internet „eben auch vieles, was man nie
wissen wollte – da schult sich der Geschmackssinn und bildet sich der
Charakter.“
Selbst Erno Pöttner gibt zu, dass er sich oft nach der alten Papierzeitung
zurücksehnt: „Da ist mehr Ruhe in der Lektüre, mehr Konzentration. Auf den
riesigen Seiten finden sich keine Links, die einen in eine gänzlich andere
Richtung ziehen.“
Hiltrud und Reinhold Karstgen haben jedenfalls ihre Lektion gelernt: „Wir
sagen allen: Schluss mit dem Zeitungsboykott! Und jetzt lesen Sie bitte
woanders weiter. Auf uns wartet das Tageblatt.“
3 May 2017
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Zeitung
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