# taz.de -- Rassismus in Sachsen: Couscous und Grillhaxe | |
> Eine Studie der Bundesregierung attestiert Sachsen ein besonderes Problem | |
> mit Rechtsextremismus. Zu Recht? Erkundungen in Pirna. | |
Bild: Über tausend Besucher waren am Samstag beim Markt der Kulturen in Pirna | |
PIRNA taz | Zwei Iraker streiten sich in Pirna über Sachsen. Als der eine | |
sagt, dass die Menschen sehr nett seien, schüttelt der andere den Kopf. | |
„Nee“, sagt er. Die beiden Jesiden Azad Ali Hamad und Jalal Salih Ahmad | |
sitzen auf einer Bank an einem Spielplatz im Stadtzentrum. Sie wollten dem | |
Gedränge auf dem Marktplatz entkommen, wo Parteien und Organisationen zum | |
„Markt der Kulturen“ geladen haben. | |
Die beiden möchten in Ruhe darüber diskutieren, wie es sich denn als | |
Flüchtling lebt in Orten, die zu Chiffren für Fremdenhass geworden sind. | |
„Die Sozialarbeiter helfen uns sehr, ja, aber die normalen Deutschen hier | |
sind gegen uns“, sagt der 19-jährige Ahmad. Sein Freund Azad Salih Hamad | |
ist fünf Jahre älter, hat aber von beiden das kindlichere Gesicht. Er kippt | |
vor Empörung fast von der Bank. „Schreiben Sie auf, dass das seine Meinung | |
ist. Ich finde alle Menschen hier sehr nett!“, sagt er. | |
Die beiden Flüchtlinge scheinen in zwei verschiedenen Sachsen zu leben. Im | |
Sachsen von Azad Ali Hamad arbeitet die Pirnaer Ausländerbehörde wie eine | |
gut geölte Maschine. Sie saugt die Flüchtlinge ein und verwandelt sie in | |
Rekordtempo in Mustermigranten. Integration laufe in Pirna besser als in | |
den großen Städten Deutschlands, will Hamad wissen. Er werde bald studieren | |
oder eine Ausbildung machen. „In zwei oder drei Jahren bin ich kein | |
Ausländer mehr“, sagt er. Ob er langfristig in Pirna leben wolle? | |
Selbstverständlich, meint er. „Es gibt keine Probleme hier“, sagt er. | |
Die scheint es im Sachsen seines 19-jährigen Freundes durchaus zu geben. Er | |
lebt wenige Kilometer von Pirna entfernt in Heidenau. Einer Stadt, die sich | |
nach den Ausschreitungen im August 2015 einen Ruf erarbeitet hat genau wie | |
das benachbarte Freital. Als Ahmad in Heidenau ankam, war die von wütenden | |
Gegnern der Flüchtlingsunterkunft angepöbelte Bundeskanzlerin gerade wieder | |
weg. | |
## Schlimme Sachen | |
Mittlerweile wohnt er mit anderen Flüchtlingen zusammen in einem Mietshaus | |
in Heidenau. Die Nachbarn würden ihn weder grüßen noch Einladungen zum | |
Essen annehmen. Manche Leute würden auch schlimme Sachen hinter ihm | |
herrufen. „Abends verlasse ich nie die Wohnung, weil die Caritas uns das | |
geraten hat“, sagt er. Jetzt schüttelt sein Freund Azad den Kopf. „Ich gehe | |
abends auch nicht vor die Tür, weil ich Deutsch lerne“, sagt er. Er klingt, | |
als wolle er sagen: „Stell dich nicht so an.“ | |
Der Spielplatz ist nur wenige Minuten vom Festgeschehen rund um das Rathaus | |
entfernt. Die Pirnaer können sich an circa 60 Ständen davon überzeugen, | |
welche Vorteile eine offene Gesellschaft hat. Sie können etwa am Stand | |
eines afrikanischen Vereins einen Eintopf mit Couscous, Spinat und | |
Erdnüssen probieren. Er schmeckt mild, ist aber dennoch wohl ein Wagnis für | |
Menschen, denen im „Marieneck“ oder in der „Witwe Polte“ am Marktplatz | |
Grillhaxe mit Krautsalat angeboten wird. | |
Sebastian Reißig von der Aktion Zivilcourage schiebt sich mit seinem | |
Walkie-Talkie durch die Besuchermenge. Reißig findet den Auflauf | |
bemerkenswert. Schließlich hat seine Stadt nicht einmal 40.000 Einwohner. | |
Er hat vor 15 Jahren den Impuls zu dem interkulturellen Fest gegeben. Da | |
war seine eigene Initiative „Aktion Zivilcourage“ schon einige Jahre alt. | |
Aus purer Not hatten sich Reißig und ein paar Freunde nach dem Abitur Ende | |
der 90er Jahre zusammengetan, erzählt er. „Die Alternative wäre gewesen | |
wegzuziehen.“ | |
## Marktplatz der Kulturen | |
Was sich seitdem verändert hat – Reißig beantwortet die Frage, indem er den | |
Besucher über den Marktplatz führt. Er reagiert gelassen, als er auf die | |
Studie angesprochen wird, die wenige Tage vor dem Pirnaer Kulturfest | |
Sachsen ein besonderes Problem mit Rechtsextremismus attestierte. Im | |
Auftrag von Iris Gleicke, der Beauftragten der Bundesregierung für die | |
Neuen Bundesländer, fand das Göttinger Institut für Demokratieforschung | |
heraus, dass die Sachsen ihr Sächsischsein überhöhen würden. Ein neues | |
Schlagwort macht in den Medien die Runde: der Sachsenstolz. Sebastian | |
Reißig sagt, dass er die Studie nicht kommentieren werde, solange er sie | |
nicht gelesen hat. „Ich weiß nur das, was die Medien berichtet haben“, sagt | |
er. | |
Andere Festbesucher haben ein höheres Redebedürfnis über die Studie und das | |
Bild von Sachsen in den Medien. Jürgen Scheible ist Geschäftsführer der | |
Pirnaer Wohnungsgesellschaft. Er nennt den „Markt der Kulturen“ eine ganz | |
„tolle Sache“. Als er auf Iris Gleicke und die von ihr in Auftrag gegebene | |
Studie angesprochen wird, entgleisen ihm kurz die Gesichtszüge. „Ich | |
glaube, beim Spiegel kopieren sie einfach ihren alten Artikel und wärmen | |
die braune Soße wieder auf“, sagt er. | |
Die Wahrheit oder vielmehr seine Wahrheit ist eine andere. Es gebe eine | |
Klimaveränderung in Sachsen, die nicht ins Bild von demokratieverdrossenen | |
DDR-Nostalgikern passe. „In Pirna haben wir die Leute, so schnell es ging, | |
dezentral in Wohnungen untergebracht. Ich kenne Fälle, das sind die Leute | |
mit ihren neuen Nachbarn erst einmal nach Dresden gefahren, um ihnen die | |
Frauenkirche zu zeigen“, sagt er. Er hat sich in Rage geredet, ohne dabei | |
aggressiv zu wirken. Der Eindruck ist eher, dass Scheible überzeugen will. | |
Und dass er jämmerlich darunter leidet, dass ihm wegen seiner Herkunft aus | |
Sachsen unterschwellig etwas unterstellt wird. | |
## Sind die Medien schuld? | |
Sind die Sachsen vielleicht in einer ähnlichen Lage wie die Muslime? Müssen | |
sie sich wie jene nach den Taten Einzelner als Kollektiv verantworten, und | |
sind die Medien daran schuld? Sebastian Reißig findet das zu pauschal. Er | |
wisse aber von einer gewissen Trotzhaltung in Sachsen, sagt er. Er meint | |
damit, dass einige Sachsen das Gefühl bekommen, dass sie der Etikettierung | |
als fremdenfeindlich ohnehin nicht entkommen können. Das könne dazu führen, | |
Dinge mit einer gewissen Wurstigkeit zu ertragen, fürchtet Reißig. | |
Besonders ärgert ihn, wenn das Bild einer schweigenden Mehrheit in Sachsen | |
gezeichnet wird, die auf der Seite der Rechten stünde. Er berichtet von den | |
zahlreichen Demokratie-Initiativen und von eifrigen Kommunalverwaltungen, | |
die nichts unter der Decke halten, sondern im Gegenteil den Rat von | |
Aktivisten suchen würden. | |
Reißig verweist auf viele Dinge, die in der Debatte um den | |
Rechtsextremismus in Ostdeutschland immer wieder zu hören sind. Etwa, dass | |
die DDR ein abgeschotteter Mikrokosmos war, wird auch in der Göttinger | |
Studie erwähnt. Er verbindet die alten Argumente aber zu einem Narrativ, | |
das zumindest auf eine Lösung hinweist. Alles, was den gesellschaftlichen | |
Zusammenhalt stärkt und ein Wir-Gefühl jenseits der Heimattümelei fördert, | |
schadet aus seiner Sicht den Rechten. Couscous anbieten und die Grillhaxe | |
nicht schmähen, so lässt sich seine Methode beschreiben, mit der er die | |
Sachsen für eine offene Gesellschaft gewinnen will. | |
## Großmutter und Enkelin | |
Vielleicht liegt die Wahrheit über Sachsen irgendwo in der Mitte zwischen | |
Anja Radzanowski und ihrer Mutter Gabi. Gabi Radzanowski ist bereits | |
Großmutter. Aber sie wippt mit den Füßen zur Musik von der Bühne, als wäre | |
sie zwei Generationen jünger. Dann sagt sie etwas Erstaunliches für die | |
Besucherin eines interkulturellen Festes. Auch sie gehöre zu denjenigen, | |
die sich in die „rechte Ecke“ gestellt fühlen. „Ich habe eben Angst, dass | |
mit den Flüchtlingen auch Terroristen und Kriminelle ins Land kommen. Das | |
kann man aber nicht offen sagen“, findet sie. | |
Wer ihr das genau verbiete, erklärt sie nicht. Vielleicht will sie bloß | |
keinen Streit mit ihrer Tochter Anja. Die jüngere Radzanowski wirft den | |
Sachsen vor, wehleidig zu sein. „Ich bin arbeitslos, aber die meisten | |
jammern hier auf hohem Niveau.“ Über Politik will ihre Mutter eigentlich | |
gar nicht mehr diskutieren, sagt sie. Nur, dass sie das Fest gut finde, | |
obwohl sie nicht jedem Fremden gleich vertraue, betont sie. Da steht die | |
ältere Sächsin nun mit ihrer der Willkommenskultur zugeneigten Tochter auf | |
dem Marktplatz und schunkelt zu afrikanischer Trommelmusik. Vielleicht ist | |
es das, was der Aktivist Sebastian Reißig unter Mitnahme der Zweifler | |
versteht. | |
## Große Bedenken gehabt | |
Über den Marktplatz schlendert ein Paar, um das sich manche Sorgen machen | |
würden. Melanie Knoche und Zahid Zafar laufen Hand in Hand durch die | |
sächsische Kleinstadt. Sie ist dunkelblond, er hat schwarze Haare und einen | |
dichten Bart. Wer eine lebhafte Fantasie hat, malt sich aus, was | |
schiefgehen könnte, würden nun die falschen Leute auftauchen. Beide | |
berichten aber beseelt, wie schön Pirna sei. Zahid Zafar kommt aus | |
Frankfurt am Main und hat pakistanische Wurzeln. | |
In der Mainmetropole scheint es ihm gutzugehen. Diskriminierung habe er in | |
Frankfurt nicht erlebt, meint der Sozialarbeiter. Wie das im Osten auf dem | |
Land sein würde, da habe er große Bedenken gehabt, gibt er zu. „Aber meine | |
Freundin ist auch Ostdeutsche. Also habe ich es gewagt.“ Zafar hat als | |
Sozialarbeiter eine Meinung zum „Markt der Kulturen“ in Pirna. Er findet es | |
gut, dass so viele verschiedene Vereine Präsenz zeigen. „Das zeigt, die | |
Sachsen tun doch was“, sagt er. Ein kleines bisschen Sachsenstolz ist | |
offenbar schon auf manchen Besucher aus Westdeutschland übergegangen. | |
24 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Cedric Rehman | |
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