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# taz.de -- Kolumne Nullen und Einsen: Der Friedhof der digitalen Kuscheltiere
> Wir stecken Zigtausende Stunden in Aufbau und Pflege von virtuellen
> Städten und Tieren. Doch irgendwann verlieren wir das Interesse an ihnen.
Bild: Die sind nicht tot, die schlafen nur!
Eine [1][traurige Nachricht] erreicht uns aus dem Internet: Am vergangenen
Samstag sind jede Menge virtuelle Kaninchen gestorben, und zwar in „Second
Life“.* Okay, streng genommen schlafen sie bloß. Der Schöpfer der Tiere
musste die Server abschalten, um einem Rechtsstreit aus dem Weg zu gehen.
Damit gibt es kein Kaninchenfutter mehr, ohne Futter schlafen die Tiere
nach 72 Stunden ein und wachen erst auf, wenn es neues gibt – also niemals.
Für die Kaninchenbesitzer bedeutet das wiederum, dass viele Stunden ihrer
Lebenszeit für Pflege und Aufzucht letztlich vergebens waren. Das ist
tragisch. Aber auch ganz normal.
Jeden Tag werden zigtausende Stunden in die Bewirtschaftung von virtuellen
Wesen und Gütern gesteckt. Pokémon werden trainiert und mit Sternenstaub
gefüttert, Sims machen Karrieren und führen Beziehungen. Magier lernen
Zaubersprüche und Orks komplettieren ihre Waffenkammer. Bauernhöfe und
Weltreiche werden aufgebaut und mit viel Akribie ausstaffiert. Und das
alles von Menschen, die meist auch im echten Leben Partnerschaften pflegen,
Kinder und Haustiere betüddeln, ihre Wohnung verschönern – oder nicht, denn
man hat eben nur Zeit für ein Leben und nicht noch für ein zweites. Da muss
man Prioritäten setzen!
Welchen persönlichen Wert solche virtuellen Karrieren besitzen, zeigt etwa
[2][eine Reportage] über eine Gruppe Syrer, die Ende November in Zeit
Campus stand. Die Jugendfreunde haben sich in den Kriegswirren aus den
Augen verloren, ihr letzter gemeinsamer Treffpunkt ist das
Multiplayer-Online-Battle-Arena-Spiel „Defense of the Ancients“.
Selbstverständlich nahm einer der Männer seinen Spielstand mit auf seine
Flucht über das Mittelmeer, gespeichert auf einem USB-Stick.
Doch nichts ist von Dauer. Irgendwann verliert man an jedem Spiel das
Interesse. Aus lustvollem Gefrickel wird erst ein To-do-Listen-artiges „Ich
sollte mal wieder …“ und wenn beim Kauf eines neuen Rechners/Smartphones
die alten Spiele nicht mehr installiert werden, ist es endgültig vorbei.
Eine Freundin, nennen wir sie A., zählt all die vergessenen Schätze ihrer
Gamerinnen-Laufbahn auf: „Zwei Tamagotchis aus den 90ern. Sims, über
mehrere Generationen aufgezogen, eingemottet etwa 2009. Mein Nintendog von
2006, er ist höchstwahrscheinlich längst weggelaufen. In ‚Animal Crossing‘
eine Stadt voller virtueller Tiere – die seltenen gezüchteten Blumen, alle
verdorrt! Und irgendwo in einem Karton verstaubt auf einem Nintendo-Spiel
eine Sim-City-Stadt, in die ich Stunden meiner Kindheit gesteckt habe.“
Das Problem ist: Selbst wenn man die Daten als Back-up ewig aufbewahrt,
fehlt irgendwann das Spiel drumherum. Oder die Konsole zum Abspielen. Oder
das Kabel, um die alte Konsole mit einem aktuellen Fernseher zu verbinden.
Oder im Spiel die Mitspieler. Wie in so einem Film, in dem sich ein Mensch
einfrieren lässt, und als er im Jahr 3000 wieder auftaut, ist er der
Einzige, der noch übrig ist.
Wir haben gigantische digitale Brachflächen geschaffen, bevölkert von
Zillionen von virtuellen Wesen. Medienarchäologen der kommenden
Generationen werden viel Freude damit haben.
„Ich frage mich, wie meine Haustiere und mein Kind noch leben“, sagt A.
„Würden sie von meiner Videospielgeschichte wissen, könnten sie sich zu
Recht Sorgen machen.“
* Die Älteren werden sich erinnern: die Online-3D-Welt, die vor ziemlich
genau zehn Jahren mal so aufregend war, dass sie es sogar [3][auf den
„Spiegel“-Titel] schaffte.
23 May 2017
## LINKS
[1] https://www.rockpapershotgun.com/2017/05/19/second-life-ozimals-pet-rabbits…
[2] https://www.google.com/url?q=http%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fcampus%2F2016%2F06%…
[3] http://fischmarkt.de/tag/spiegel-second-life/
## AUTOREN
Michael Brake
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