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# taz.de -- Türkeistämmige und das Referendum: Hoffnung und Tränen in Berlin
> Unsere Autor*innen haben „Evet“- und „Hayir“-Unterstützer*innen am
> Wahlabend besucht.
Bild: Tränen bei der Wahlparty der CHP im Theater 28 in Berlin
Berlin taz | In der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg befindet sich der
Verein der Türkischen Idealisten e.V., der der Wählerschaft der
rechtsextremen Partei MHP zuzuordnen ist. Am frühen Sonntagabend finden
sich dort dreißig bis vierzig Männer zusammen, um Tee zu trinken, Billard
zu spielen und gemeinsam die Ergebnisse des Verfassungsreferendums in der
Türkei zu verfolgen. Die MHP-Führung gilt als wichtigste Verbündete des
türkischen Staatspräsidenten Erdoğan, da sie die Einführung des
Präsidialsystems unterstützt und sich im Vorfeld des Referendums ganz
offensiv für ein „Ja“ ausgesprochen hat.
Kurz nach Bekanntgabe des vorläufigen, äußerst knappen
Abstimmunsgergebnisses – um 19 Uhr liegen die „Ja“-Stimmen mit 51,3 Proze…
vorne – ist die Stimmung hier friedlich. Und irgendwie uneuphorisch. Die
Spaltung innerhalb der MHP, die sich in der Türkei in den vergangenen
Wochen abgezeichnet hatte, habe es in der deutschtürkischen
MHP-Wählerschaft nicht gegeben, erklärt der Vereinsvorsitzende Hüseyin
Güreli. Dementsprechend sei er keineswegs überrascht über das Ergebnis.
„Die EU hat kein Interesse daran, dass die Türkei wächst und an Macht
gewinnt. Das sah man am Verhalten einiger europäischer Länder, gerade kurz
vor dem Referendum. Darauf haben wir reagiert, deshalb haben wir mit ‚Ja‘
gestimmt“, sagt Güreli.
Die außenpolitischen Krisen der AKP-Regierung haben also, wie viele
Journalist*innen bereits prophezeit hatten, das Wahlverhalten der
Konservativen deutlich beeinflusst. In Deutschland stimmten fast 64 Prozent
der Wahlberechtigten mit „Ja“, also dreizehn Prozent mehr als im türkischen
Durchschnitt.
Hoffnung bei der HDP
Dass Berlin die deutsche Stadt mit den meisten „Nein“-Stimmen war (rund 50
Prozent), spendet ein wenig Trost beim Public Viewing der HDP zwei Straßen
weiter, im Nebenraum der Kreuzberger Kiezkneipe Südblock. Über hundert
Wähler*innen und Freund*innen der linken prokurdischen Partei sitzen
anfangs noch hoffnunsgvoll vor der großen Leinwand, auf der CNN Türk läuft.
Um 16 Uhr haben die Wahllokale geschlossen, noch vor 17 Uhr treffen die
ersten Schätzung bei CNN Türk ein: 68 Prozent für „Ja“. Quelle: die
staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajans. Sie folgt ein weiteres Mal der
sehr vorhersehrbaren Taktik, die TV-Zuschauer*innen hoffnungslos zu
stimmen. Im Südblock glaubt das keine*r. Und doch macht sich spürbar Unmut
breit.
„Ob ja oder nein, es wird sich sowieso nichts ändern“, sagt ein Zuschauer.
„Die Massaker werden nicht aufhören.“ Jemand anderes fragt in den Raum:
„Wie konnte das mit der Auszählung so schnell gehen?“ Alle zücken ihre
Handys, um sich über die Unstimmigkeiten in den Wahllokalen zu informieren.
Manche fluchen leise vor sich hin.
Sie warten, und in weniger als einer halben Stunde fallen die „Ja“-Stimmen
auf 54 Prozent. Dann wird bekanntgegeben, dass in der Stadt Varto in der
Region Mus, 86 Prozent der Wähler*innen mit „Nein“ gestimmt haben. Applaus.
In der wähler*innnestärksten Region Istanbul liegt „Nein“ vorne. Wieder
Applaus. Und dann Ankara. Das hat es nie gegeben, dass eine Gruppierung
Istanbul und Ankara bekommen, aber nicht gewonnen hat. Die Hoffnung steigt,
der Saal füllt sich.
Doch spätestens als bekannt wird, dass auch Stimmzettel und Umschläge ohne
offizielle Stempel der Wahlleitungen gezählt werden, ist klar, dass diese
Wahl nicht fair verläuft. Eine ältere Zuschauerin hält das vorläufige
Ergebnis von 48 Prozent für „Nein“ eben deshalb für sehr erfolgreich: „…
grenzt an ein Wunder! Die haben alle Tricks und Ressourcen benutzt, und es
hat kaum etwas gebracht.“
Am späteren Abend gibt es eine Durchsage: „Liebe Freund*innen, die
Wahlmanipulationen belaufen sich auf vier Prozent. Es ist alles noch
unklar. Aber ob ja oder nein, unser Kampf wird sowieso weitergehen!“
Irgendwann erscheint der Ministerpräsident auf seinem Balkon, um seine
Siegesrede zu halten, aber die lächelnden Gesichter im „Südblock“ sehen
wirklich nicht nach Verlierer*innen aus.
Tränen bei der CHP
Auf der Bühne des Theater 28 in Berlin-Wedding warten die Mitglieder und
Unterstützer*innen der kemalistischen Partei CHP auf die Verkündung der
Ergebnisse. Zigarettenböreks und eine Gulaschkanone stehen herum, aber
Appetit hat hier kaum jemand.
Etwa 300 Menschen hoffen auf das merheitliche „Hayir“. Umrahmt von Bildern
des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und dem CHP-Vorsitzenden Kemal
Kiliçdaroğlu ist die Leinwand, auf der der CHP-nahe Sender Fox TV läuft.
Als im Laufe des Abends klar wird, dass die „Evet“-Front nach offiziellen
Angaben knapp vorn liegt, lautet das vorherrschende Gesprächsthema:
Wahlmanipulationen, die die Mutterpartei CHP anfechten will.
Die Jugendgruppe der CHP lässt sich unter der deutschen und türkischen
Flagge ablichten. Frauen weinen, Männer fluchen. Die 25-jährige
Krankenschwester Tülin Ergüdar kann noch lächeln. Sie hat wochenlang Flyer
verteilt und ist etwas geknickt: „Der Tag läuft eigentlich wie erwartet.
Ich wusste schon, dass es Skandale geben wird.“ Der Generalsekretär der CHP
Berlin, Oktay Çelebi, versichert sich und den Zuhörer*innen in einer kurzen
Ansprache, „dass der Kampf für Demokratie jetzt erst recht weitergeht.“ Und
Kenan Kolat, seit Oktober im Vorstand der CHP Berlin, freut sich über 20
neue Mitglieder, nach dem Motto: „Jetzt erst recht.“ Viele gehen – hitzig
diskutierend – um 21 Uhr nach Hause. Die Wahlparty ist vorerst vorbei.
[1][Lesen Sie hier die Analyse zum Referendum in der Türkei]
[2][Lesen Sie hier den Kommentar zum Referendum in der Türkei]
16 Apr 2017
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[1] /Analyse-zum-Tuerkei-Referendum/!5401248/
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## AUTOREN
Ali Celikkan
Ebru Tasdemir
Erk Acarer
Samil Sarikaya
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