| # taz.de -- Analyse zum Türkei-Referendum: Die Macht der anderen 50 Prozent | |
| > Nach dem Referendum mehren sich die Hinweise auf Manipulationen. Die | |
| > Türken haben nun zwei Optionen: sich zu fügen oder sich zu wehren. | |
| Bild: Einer von 50 Prozent? Proteste gegen den Ausgang des Verfassungsreferendu… | |
| Der Ausgang der Volksabstimmung in der Türkei, mit der qua | |
| Verfassungsänderung das Parlament aufgelöst und Exekutive, Legislative und | |
| Judikative in eine Hand gelegt werden, ist bekannt gegeben worden. Die | |
| parlamentarische Regierungsform wird mit den Änderungen enden, und den Weg | |
| frei machen für ein “Staatspräsidentensystem“. | |
| Nach den vorläufigen Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu – | |
| das Wahlamt gibt das offizielle Ergebnis erst noch bekannt – lauten 51 | |
| Prozent der abgegebenen Stimmen “Ja“ und 49 Prozent “Nein“. Der geringe | |
| Abstand zeigt die emotionale, psychische und mentale Spaltung der | |
| türkischen Gesellschaft. Auffällig sind aber vor allem die | |
| Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung. | |
| Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu manipulierte auf eine besondere | |
| Art. Gleich zu Beginn der Auszählungen erklärte sie, dass die “Ja“-Stimmen | |
| bereits 70 Prozent erreicht hätten. Damit legten sie der Regierung eine | |
| Basis für mögliche Manipulationen. Auch war das ein probates Mittel, die | |
| Motivation der Oppositionellen zu drücken, so gab es weniger Beobachter in | |
| den Wahllokalen. | |
| „Ja“ und „Nein“ lagen trotzdem bald gleichauf. Und dann kam aus | |
| verschiedenen Landesteilen die Nachricht, dass nicht-offizielle Wahlzettel, | |
| also solche ohne behördliche Stempel, aufgetaucht seien. Sie wurden dem | |
| Hohen Wahlamt (YSK) gemeldet. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass gefälschte | |
| Stimmzettel bereits vorab in Umlauf waren. Was die YSK dann beschloss, ist | |
| ein Skandal: Obwohl qua Gesetz Wahlzettel und Umschläge ohne behördlichen | |
| Stempel ungültig sind, wurden diese für gültig erklärt. Zum ersten Mal in | |
| der türkischen Geschichte. Unregelmäßigkeiten oder gar Betrug hat die | |
| Wahlkomission am Montag aber zurückgewiesen. | |
| ## Oppostition widerspricht dem Wahlergebnis | |
| Die Oppositionsparteien CHP und HDP, die jeweils gegen die Einführung des | |
| Präsidialsystems mobilisiert hatten, haben gegen das vorläufige Ergebnis | |
| Einspruch erhoben. In sozialen Netzwerken und im Fernsehen riefen sie dazu | |
| auf, die Manipulationen nicht hinzunehmen. Demnach seien mehr als zwei | |
| Millionen ungültige Stimmen mitgezählt worden – das wäre ein Unterschied | |
| von drei bis vier Prozent. Auch aus dem Volk ist Kritik an diesem | |
| “Diebstahl“ zu hören. In Anspielung auf frühere Korruptionsskandale der | |
| Regierung skandierten Demonstranten: “Die Diebe sind zurück und haben | |
| unsere Stimmen geklaut!“ | |
| Der Hintergrund: Normalerweise bilden die Wahlergebnisse in den größten | |
| Städte der Türkei, allem die in Istanbul, den Durchschnitt des Landes ab. | |
| Beim Referendum aber waren die Ergebnisse widersprüchlich: In Istanbul, | |
| Ankara, Izmir und Diyarbakir kam es zu anderen Ergebnissen als im Rest des | |
| Landes. | |
| In den vergangenen Wochen hat die Türkei zugesehen, wie Abgeordnete dafür | |
| werben, das Parlament zu schließen, und der Ministerpräsidenten dafür, sein | |
| Amt aufzulösen. Binali Yildirim trat am Sonntagabend dann auch noch auf, um | |
| eine Siegesrede zu halten: Statt von den Verfassungsändeurngen zu sprechen, | |
| war die Rede von “Stabilität“ und der “Großen Türkei“. | |
| ## Was bleibt den 50 Prozent nun? | |
| Und was nun? Realistisch gesehen haben die Türken nun zwei | |
| Handlungsmöglichkeiten: Sie können sich mit dem Ergebnis abfinden, oder | |
| sich dagegen wehren. Beide Möglichkeiten hätten weitreichende Folgen und | |
| Risiken. | |
| Sich dem Ergebnis zu beugen, würde bedeuten, dass Erdoğan weiterführende | |
| Machtpläne hegen wird. Nachdem Sultanat wird es um das Kalifat gehen. Sich | |
| zu wehren aber könnte zur Folge haben, dass sich die Spannungen in der | |
| Bevölkerung verschärfen und das Risiko eines Bürgerkriegs steigt. Wie auch | |
| immer es laufen wird: In der Türkei wird es auf kurze Sicht keine | |
| Stabilität geben. | |
| Trotzdem kam es zu Protesten. In Istanbul gingen noch in der Nacht zu | |
| Montag viele Menschen auf die Straße, um gegen das als illegitim empfundene | |
| Wahlergebnis und die Regierung zu protestieren. Einige Protestierende | |
| wurden festgenommen, etwa der taz-gazete-Autor Murat Bay, der filmte. Die | |
| Polizisten hätten sein Filmmaterial von der Speicherkarte gelöscht, | |
| berichtet Bay, der inzwischen wieder frei ist. | |
| ## Erdoğan wird es nicht leicht haben | |
| Dies liefert schon einen Hinweis darauf, was uns in den nächsten Tagen | |
| erwarten könnte. Dass Erdoğan das Land mit leichter Hand regieren wird, ist | |
| schon deshalb unrealistisch, weil die säkularen und gebildeten Schichten, | |
| die Großstädte und die Mehrheit der Kurden gegen die neue Verfassung sind, | |
| ihre Stimme erheben. | |
| Und die Bevölkerung wird weiter gegeneinander aufgebracht. Auffällig waren | |
| die Schlagzeilen der regierungsnahen Medien, wie diese hier von der | |
| Tageszeitung Yeni Akit: “Die Republik ist Geschichte! Wir werden sie in | |
| Ankara neben Atatürk begraben“. Die Verfechter mögen sich derzeit in | |
| Sicherheit wiegen, doch die Unruhe der „anderen“ 50 Prozent der Bevölkerung | |
| wird es ihnen nicht leicht machen. | |
| Gefährlich aber ist es nun vor allem für die verhafteten Abgeordneten und | |
| JournalistIinnen. Um an seine Ziele zu gelangen, wird Erdoğan | |
| möglicherweise noch härter gegen Opposition und Presse vorgehen. | |
| Die türkische Fassung des Textes finden Sie auf [1][taz.gazete] | |
| 17 Apr 2017 | |
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| [1] https://gazete.taz.de/tr/ | |
| ## AUTOREN | |
| Erk Acarer | |
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