# taz.de -- Amüsant feiern in Oldenburg: Das Theater macht sich nackig | |
> Mit dem neuen Festival „Banden!“ will sich das Staatstheater in Oldenburg | |
> für performative Formate und demokratische Arbeitszusammenhänge öffnen | |
Bild: Gefesselt von der Befreiung der Frau erzählen: Szene aus „Gulliveras R… | |
Das Theater soll sich nackig machen. Zur Eröffnung lässt Oldenburgs | |
Schauspieldramaturg Marc-Oliver Krampe keinen Zweifel daran, worum es beim | |
neuen „Banden!“-Festival gehen soll: „Ziehen sie sich aus und lassen sie | |
sich gehen“, ruft er dem Publikum zu. Akteure eines offenen künstlerischen | |
Diskurses sollen sie sein, inszenierte Begegnungsorte laden zum chilligen | |
Nachdenken (Reflexionssessel aus Omas Wohnzimmer), zum knuddeligen | |
Näherkommen (Bettenlandschaft), zur seligen Nachhaltigkeit (Bar) und zu | |
hitzigen Nacktgesprächen in einer Fasssauna. | |
Dass das Theater sich nackig machen soll, heißt für Krampe, den Wandel von | |
hierarchischen zu demokratischen Arbeitszusammenhängen zu beginnen und den | |
„Abschied vom Kerngeschäft“ fortzusetzen. Es gelte, das Ableben des | |
Literatur- und Regietheaters voranzutreiben und durch performative Formate | |
zu ersetzen. Also lüftet er dort erst mal durch, mit subversiven Aktionen | |
der Hildesheimer Eliteschule des performativen Künstlerns. Am dortigen | |
Institut für Medien, Theater und populäre Kultur hat der Dramaturg studiert | |
– und kam als Dozent zurück, um zwei Semester „Resetting Staatstheater“ … | |
lehren. Das Ergebnis ist die Festivalpraxis des Banden-Bildens. | |
Für die Banden meldeten sich sechs Oldenburger Ensemblemitglieder | |
freiwillig für drei mehrwöchige Probenphasen mit Performern von „Das Helmi�… | |
sowie „Markus & Markus“. Und fingen bei null an. In einer Konzeptionsphase | |
sollte erst mal herausgefunden werden, was Theater ist, anschließend guckte | |
jeder in sich hinein, ethnologisch in die Welt hinaus und googelte durchs | |
Internet. Dazu gab es Workshops in Sachen Live-Art, Medienkunst und einen | |
Crashkurs von She She Pop zu kollektivem Arbeiten und Projektentwicklung. | |
Während des Festivals wird nun mit Zuschauern diskutiert, was sie denn | |
davon haben, wenn Schauspieler alles selbst machen. Was die davon haben, | |
ist klar: viel gelernt. „Ihr seid jetzt alle knallharte Perfomer“, adelte | |
Krampe das teilnehmende Sextett zur Festivaleröffnung. Was für die beiden | |
Eigenproduktionen auch notwendig war – sich nackig machen sowieso. | |
Mösenschleim, Hurensöhne sind so Worte, die aus den Lautsprechern purzeln. | |
Nebel wird in die Bühnenluft gehaucht, zwei Frauen inszenieren ihre Brüste, | |
Pobacken und Scham zu Softporno-Kalenderposen. Als Möhren zur | |
Klitorisstimulation angesetzt werden, schleichen die Performer herein, | |
tragen aus Schaumstoffresten gebastelte Puppen in Blumengestalt und | |
becircen hauchend ein ebenso knautschiges Bienenobjekt: „Hey, komm zu mir.“ | |
Kein Zweifel: Es geht um Sex. | |
„Gulliveras Reise“ nimmt im Helmi-Design einige Möglichkeiten in den Blick, | |
erregt zu werden, um Orgasmen zu erleben. Mit dem Sponti-Charme des betont | |
Unfertigen dargeboten, wirkt der Abend angenehm entheikelnd – obwohl | |
Bondagekünstlerin Dasniya Sommer dabei ist, also viel gefesselt wird. Zum | |
Beispiel an Gulliver, der hier eine Frau ist, also Gullivera heißt. Während | |
das Ensemble ihren Körper mit Bindfäden arretiert und die Haare an den | |
Boden tackert, erzählt sie von Feminismus und der Befreiung der Frau in den | |
revolutionären Zeiten Russlands, „Gleichstellung per Gesetz“, wirft | |
Helmi-Mastermind Florian Loycke einschränkend ein. | |
Ebenso gebrochen die Mitteilung Gulliveras, sie haben sich bereits mit | |
sieben Jahren emanzipiert – weil ihre Eltern nie zu Hause waren. Immer | |
wieder stehen die Bühnenfiguren erfrischend ernsthaft als Darsteller ihrer | |
selbst im Scheinwerferlicht. Klaas Schramm erzählt vom Entlieben und wie er | |
1.000 Euro von einem Onanierer dafür bekam, auf High Heels einen Laptop | |
betrampelt zu haben. Florian Loycke propagiert die Abkehr von „der völlig | |
überbewerteten vorderen Körperhälfte“ und die Hinwendung zur Frauen und | |
Männer gleichstellenden Rückfront inklusive Lobpreisung des Anus. Nur | |
ergibt sich aus all den salopp theatralisierten Zeichenresten und | |
ironischen Infragestellungen bei konsequentem Ignorieren aller Regieregeln | |
nichts Neues. Schnipsel bleiben Schnipsel, nackt einfach nur nackt. | |
Bei „Markus & Markus“ müssen die Mitstreiter schwindelfrei sein bei der | |
Gratwanderung zwischen Bühnenillusion, Reality-TV und (ihrer eigenen?) | |
Realität. Jens Ochlast behauptet in „Die Rache“, nur Schauspieler geworden | |
zu sein, weil er nicht Sprengmeister werden durfte. Das wird später noch | |
wichtig. Lisa Jopt hat das Ensemble Netzwerk gegründet, um auf den Mangel | |
an Mitbestimmung und fairer Bezahlung sowie die Burn-out-Arbeitsbedingungen | |
am Stadttheater hinzuweisen. | |
Auf der Bühne wird Jopts Kündigungsschreiben vorgelesen, dazu tanzt sie im | |
schwarzen Ganzkörpertrikot. Drei Kollegen stimmen als Mitklatschnummer | |
Katja Ebsteins Ode ans „Theater“ an, was Markus und Markus für Käse halten | |
und sich mit einem entsprechenden Requisit vergnügen. Zur Bestärkung kotzen | |
drei Kollegen in einen Bottich und erklären, was alles in den Körper | |
hineingeschüttet werden muss, damit dieser Theatereffekt gelingt. | |
Daraufhin versuchen Jopt und ihr Partner Pirmin Sedlmeir zu weinen, was | |
nicht gelingt. Aber angemessen wäre, denn noch trauriger als die | |
Armutsfalle Schauspielerei ist Sedlmeirs verwirrende Entwirrung von Rolle, | |
Figur und Schauspieler bei der Ausformulierung seiner Biografie: den | |
Demütigungen in der Kindheit – Aufbruch zum Rachefeldzug gegen die | |
ehemaligen Peiniger. | |
Und da kommt dann das Sprengmeisterwissen ins Spiel. Eine Kamerafrau hält | |
alles fest, die Reportage wird ins Bühnenbild projiziert – äußerst witzig. | |
Sodass sich das szenische Drumherum schon Zirkusmittel bedienen muss, um | |
als Kommentarebene wahrgenommen zu werden. Der sich vor lauter | |
rampensäuischer Lust und Selbstreferentialität immer wieder verzettelnde | |
Showdiskurs über die Wahrheit der Lüge des Schauspielens amüsiert durchweg. | |
Auch am heutigen Samstag sind noch Resultate der Banden-Bildung zu sehen. | |
Unter anderem zeigen „Markus & Markus“ einen weiteren Film-Theater-Dialog, | |
in „Ibsen: Gespenster“ begleiten sie eine 81-Jährige in den Freitod. Die | |
Helmi-sierte Fassung von Pier Paolo Pasolinis Film „Große Vögel, kleine | |
Vögel“ ist zu erleben. | |
2 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
## TAGS | |
Theaterfestival | |
Schauspieler | |
Menschheit | |
Staatstheater Braunschweig | |
Regisseur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theaterstück „Mission Mars“ in Oldenburg: Menschheit unter Laborbedingungen | |
In Oldenburg spekuliert die Uraufführung von Björn SC Deigners „Mission | |
Mars“ über die Zukunft der Menschheit – und ihre Fallstricke. | |
Arabisches Theatertreffen: Das Theater als Zufluchtsort | |
Das dritte arabische Theatertreffen in Hannover präsentiert sieben | |
Produktionen unter anderem aus Syrien, Marokko und Tunesien. | |
Staatstheater sichtet Nachwuchs: Eine Bühne für Anfänger | |
Beim „Fast Forward“-Festival in Braunschweig bekommen junge Regisseure aus | |
ganz Europa die Chance, ihr eigenes Stück zu inszenieren. | |
Politischer Regisseur-Nachwuchs: Klamauk wird Tragik | |
Die Themen der zum Hamburger Theaterfestival „Körber Studio Junge Regie“ | |
Geladenen reichten vom Rechtspopulismus bis zum Flüchtlingsschicksal. |