# taz.de -- Ausbeutung in der Textilindustrie: Aufstand der Nähsklaven | |
> Emdadul Haque schien einem verbrecherischen Textilfabrikanten | |
> ausgeliefert. Trotzdem erstattete er Anzeige. Und die Justiz half. | |
Bild: Ist die Situation in Italien wirklich besser? Näherinnen und Näher in e… | |
Neapel taz | Sichtbar werden unsichtbare Menschen nicht über Nacht. Bei | |
Emdadul Haque, 26, Näher aus Bangladesh, hat es drei Jahre gedauert. Drei | |
Jahre, in denen er, der rechtlose Arbeiter aus Bangladesch, in Italien sein | |
Recht erkämpfte. Und der damit erreichte, dass sein ehemaliger Chef, der | |
42-jährige Mohammed Alim, „wegen Menschenhandel und Ausbeutung von | |
Arbeitskraft in Verbindung mit Sklaverei“ vor Gericht kommt. | |
Drei Jahre sind eine lange Zeit, vor allem, wenn sie aus Demütigung, | |
Erniedrigung und Ausbeutung bestehen. Eine Spur dieser Zeit zieht sich als | |
Narbe über Haques Wange. Nicht nur seelische Qualen hat er erlitten, er | |
wurde auch körperlich misshandelt, weil er Fieber hatte und nicht schnell | |
genug arbeitete. | |
Aufgeregt reißt er die Autotür auf und lässt das lärmende Chaos Neapels in | |
den kleinen Fiat. Vom Vordersitz aus dreht sich Gianluca Petruzzo, ein | |
Aktivist, zu ihm um: „Was sagst du zur Verhaftung von Alim, Haque?“ Haque | |
grinst, mit ausgestreckter Faust ruft er: „Forte!“ | |
2013 arbeitete Haque in einem vierstöckigen Wohnhaus in Sant’Antimo, | |
nördlich von Neapel. Vor den Bars auf der Piazza sitzen einheimische | |
Männer, die ihre Gespräche unterbrechen und misstrauisch die bengalischen | |
Arbeiter beäugen, als sie ihre Flugblätter verteilen. Sie versuchen, auf | |
ihre Situation aufmerksam zu machen. Doch das ist gefährlich. Denn der | |
dörfliche Charakter täuscht. Sant’Antimo ist eine der vielen Kommunen der | |
Region, deren Verwaltung in den 1990er Jahren wegen „Infiltration“ | |
aufgelöst wurde. Das hier ist Mafialand. | |
## Sklavenarbeit in der Fabrik | |
Nichts deutete darauf hin, dass hier in einer Fabrik Menschen wie Sklaven | |
ausgebeutet wurden. Haque zeigt Videos auf seinem Smartphone. Ein | |
ehemaliger Kollege hat heimlich in der Fabrik gefilmt. Zwei Dutzend Männer | |
sind zu sehen, über Nähmaschinen gebeugt, inmitten von einem Meer aus | |
Stoff. Sie arbeiten für Mohammed Alim, der Hunderte Arbeiter aus seiner | |
Heimat Bangladesch nach Italien holte, ihnen die Pässe wegnahm, sie von | |
sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends einschloss und sieben Tage die Woche | |
arbeiten ließ. | |
So wie Haque. Wie er arbeiten etwa 1.000 Bengalen in der Textilindustrie | |
nördlich von Neapel. Die Hänge des Vesuvs ziehen am Autofenster vorbei. | |
Haque, der heute Aktivist ist, und Gianluca, der Gewerkschafter, sind auf | |
dem Weg nach San Giuseppe Vesuviano, einer anderen Kleinstadt, auch hier | |
gibt es vierstöckige Häuser, wo im Erdgeschoss Arbeitsmigranten am | |
Made-in-Italy schneidern. | |
Sie haben vom Widerstand in Sant’Antimo gehört. Jetzt wollen auch sie sich | |
wehren. Im Esszimmer drängen sich etwa fünfzehn junge Männer um einen | |
Tisch, an dem die Gäste und zwei Männer Platz nehmen, die die Ältesten zu | |
sein scheinen. | |
2011 lebte Haque noch in Bagerhat im Südwesten von Bangladesch bei seiner | |
Familie, als ihm ein Freund vom Businessmann Alim erzählte. „Alim bringt | |
dich nach Europa“, sagte er. Alim versprach einen Monatslohn von 2.000 Euro | |
für einen Job als Näher. Bald darauf wurde Haque von Alims Leuten am | |
Flughafen Rom abgeholt, in einen Kleinbus gesetzt und nach Sant’Antimo | |
gebracht. Sie nahmen ihm den Pass ab, wiesen ihm eine Kammer zu, in der | |
schon acht Männer schliefen. „Alim hat ungefähr 400 Leute ins Land | |
gebracht.“ Haques Stimme zittert. | |
## Der König der Bengalen | |
Das Leben vor Ort organisierte die bengalische Community, die Alim wie ein | |
König regierte. In Bangladesch ließ er sich als Wohltäter feiern, in | |
Italien senkten die Arbeiter die Augen, sobald der 42-Jährige in eine der | |
Fabriken kam. „Er sagte, ich müsse jetzt mindestens zwei bis drei Jahre | |
lang die Reise abarbeiten“, sagt Haque. Zwei Jahre gehorchte er. Dann | |
forderte er seinen Lohn. Alim lachte nur. „Ich bin stärker als du, ich | |
arbeite für große italienische Firmen. Du bist hier ein Nichts.“ | |
Er drohte Haques Familie Gewalt an. Keine Papiere, keine | |
Italienischkenntnisse, keine Beziehungen – Haque und die anderen waren in | |
der Schattenwelt der Vororte Neapels gefangen, in einem Netz, das die Bosse | |
der Bengalen mit der örtlichen Camorra gespannt hatten. | |
2013 begehren die Arbeiter auf und wenden sich an den Aktivisten Petruzzo. | |
„Erst schien es nur um einen arbeitsrechtlichen Konflikt zu gehen“, sagt | |
der 41-jährige Italiener mit den grauen Locken. Er arbeitet im | |
Nationalmuseum, seine Freizeit widmet er dem Verein „A3F“ (Associazione | |
antirazzista interetnica 3 Febbraio). Er vermittelt den Bengalen einen | |
Anwalt. | |
Drei Tage nach der erster Anzeige gegen den Fabrikbesitzer Alim versammeln | |
sich fünfzehn der bengalischen Arbeiter auf der Piazza in Sant’Antimo. | |
Haque ist einer von ihnen. Immer mehr Arbeiter schließen sich an, allen | |
enthält Alim ihre Löhne vor. Die Treffen, immer sonntags auf der Piazza, | |
werden größer. | |
## Die Gegenwehr wächst | |
Aber mit dem neuen Selbstbewusstsein der Arbeiter wächst auch die | |
Gegenwehr. Im Februar berichtet ein Arbeiter, Alim habe ihn zu sich nach | |
Hause gerufen, um ihm sein Geld zu geben. Doch dort erwartete ihn nur eine | |
Gruppe von Männern, die ihn zusammenschlugen. Haque ahmt mit seinen Händen | |
die Schläge nach. Von dem Tag an hat er nicht mehr für Alim gearbeitet. | |
Die Drohungen setzen den Arbeitern zu, aber juristisch haben sie Erfolg: | |
Als Opfer von Menschenhandel werden ihnen Aufenthaltstitel für Italien | |
zugesprochen. Sie sind nicht mehr illegal im Land. Eines der entscheidenden | |
Druckmittel Alims entfällt. Die Näher profitieren von einer | |
Gesetzesänderung: Bis vor Kurzem galt eine EU-Richtlinie zum Schutz der | |
Opfer von Menschenhandel praktisch nur für Zwangsprostituierte. Seit Kurzem | |
kann sie auch für Arbeiter angewandt werden. | |
Erst berichtete die Lokalpresse über den Kampf der Arbeiter, dann die | |
nationalen Medien, schließlich war auch in Saudi-Arabien, wo viele | |
bengalische Arbeitsmigranten leben, davon zu hören. Als Papst Franziskus im | |
März 2015 nach Neapel kommt, übergeben ihm die bengalischen Arbeiter einen | |
Brief, „um die traurige Realität der Sklaven in Italien kennenzulernen“. | |
Wenig später erhalten sie eine Einladung in den Vatikan. Vor Kurzem waren | |
sie zum zweiten Mal dort. Haque, der Näher, kann bis heute kaum glauben, | |
was in den letzten zwei Jahren alles möglich wurde. | |
Alim spielte bis zuletzt den starken Mann. Seine Leute sagten bei der | |
Polizei aus, dass Haque sie bestohlen habe. Am Abend stehen Carabinieri vor | |
Haques Tür. Bei der Polizei erwartet ihn Alims Ehefrau als Übersetzerin, | |
auf deren Namen eine der Fabriken eingetragen ist. Haque wird unter | |
Hausarrest gestellt. Erst als ein Anwalt der A3F interveniert, kommt er | |
frei. „Ich glaube, dass es Alim besonders geärgert hat, dass so ein ruhiger | |
Mensch wie Haque, den er für einen der schwächsten hielt, sich nicht hat | |
brechen lassen“, sagt Gianluca Petruzzo. | |
## Die Justiz meint es ernst | |
Seit Oktober 2016 sitzt Scheich Mohammed Alim, Boss der „Zishan | |
confection“, in Untersuchungshaft. Die regionale Antimafiaeinheit DDA hat | |
ihn gemeinsam mit seiner Frau und vier Komplizen verhaftet. Anfang Februar | |
2017 fand das sogenannte Beweissicherungsverfahren statt. | |
Petruzzo wertet es als ein Indiz dafür, dass es der Justiz ernst ist mit | |
der Verfolgung des Textil-Bosses: „Die Untersuchungen hat ein | |
Anti-Mafia-Staatsanwalt aus Mailand geleitet. Das und das vorgeschaltete | |
Verfahren zeigt, dass sie vermeiden wollen, dass Beweise und Zeugen | |
verschwinden, denn die Korruption reicht bis in die obersten Ebenen der | |
Justiz“, sagt er. Während des Prozesses könnte noch mehr über die rund 70 | |
Textilfabriken im Norden Neapels und ihre Verstrickungen mit der Camorra | |
ans Licht kommen. | |
Die Anklage gegen Alim lautet auf Menschenhandel und Ausbeutung von | |
Arbeitskraft in Verbindung mit Sklaverei sowie Bildung einer mafiösen | |
Vereinigung. Darauf stehen bis zu zehn Jahre Gefängnis. Haque arbeitet | |
inzwischen als Näher in einer Nachbargemeinde vonSant’Antimo. Sein Chef | |
zahlt pünktlich seinen Lohn, dafür arbeitet er acht Stunden am Tag. | |
17 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Martina Kollross | |
## TAGS | |
Textilindustrie | |
Ausbeutung | |
Bangladesch | |
Mafia | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Kleidung | |
Textilindustrie | |
Bangladesch | |
Textilindustrie | |
Textilindustrie | |
Fairtrade | |
Bangladesch | |
Bangladesch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verantwortung anziehen: Wer unser Zeug näht | |
Eine Bremerin ist um die Welt gereist, um die Menschen zu finden, die | |
unsere Kleidung herstellen und die Bedingungen ihres Alltags zu | |
protokollieren | |
TextilarbeiterInnen in Bangladesch: Nach Streik auf schwarzer Liste | |
In Bangladesch sind Hunderte von NäherInnen arbeitslos, weil sie für höhere | |
Löhne gestreikt haben. Eine Ausnahme ist H&M. | |
Explosion in Aldi-Fabrik in Bangladesch: Ermittlungen gegen die Toten | |
Nach einer Explosion in einer Textilfabrik in Bangladesch ermittelt die | |
Polizei gegen drei der 13 Getöteten. Die Fabrik soll Aldi beliefert haben. | |
Arbeiterproteste in Bangladesch: Langsame Normalisierung | |
Vor einem halben Jahr forderten TextilarbeiterInnen in Bangladesch höhere | |
Löhne. Hunderte wurden entlassen. Ihre Jobs haben sie noch nicht zurück. | |
Gewerkschafter in Bangladesch: „Als Landesverräter angezeigt“ | |
Weil Textil-Arbeiter in Bangladesch für höhere Löhne kämpften, landete | |
Gewerkschafter Mohammed Ibrahim in U-Haft. Hier spricht er über die | |
Vorwürfe gegen ihn. | |
Kommentar Faire Kleiderproduktion: Bündnis unter Erfolgsdruck | |
Das Textilbündnis von Entwicklungsminister Gerd Müller muss liefern. | |
Fortschritte für einer fairere Produktion sind bisher nicht überprüfbar. | |
Arbeitskampf in Bangladesch: Die Textillobby lenkt ein | |
Dass die verhafteten Arbeiteraktivisten in Bangladesch freikommen, ist ein | |
Durchbruch für die Gewerkschaften. Der Streit um Lohnerhöhungen bleibt. | |
Arbeitnehmerrechte in der Textilindustrie: Bündnis appelliert an Bangladesch | |
Selbst Arbeitgeberverbände fordern das Land auf, stärker auf Arbeiterrechte | |
zu achten. Für die Hersteller stehen Handelsprivilegien auf dem Spiel. |