# taz.de -- Kitasuche in Leipzig: Der weite Weg zum Kitaplatz | |
> Für Eltern in Leipzig wird es immer schwerer, einen Betreuungsplatz zu | |
> finden. Ein Internetportal der Stadt ist weitgehend wirkungslos. | |
Bild: Viele Eltern wären froh, wenn sie wüssten, wo sie morgens ihren Kindern… | |
Wolfgang Roßmann ist kein Mann vieler Worte. Aber wenn er sich etwas in den | |
Kopf gesetzt hat, dann zieht er es durch. Im September 2015 lautet sein | |
Ziel, so schnell wie möglich einen Betreuungsplatz für seine Tochter Hannah | |
zu finden. Zwei Monate ist sie alt, als seine Frau wieder arbeiten geht und | |
Roßmann die Elternzeit übernimmt. | |
Der ehemalige Zeitsoldat geht streng nach Plan vor. Für die Suche legt er | |
sich zunächst eine nach den vier Himmelsrichtungen gegliederte Tabelle | |
aller Kindertagesstätten an. Er selbst lebt im Norden Leipzigs. Von der | |
gemeinsamen Wohnung in Gohlis aus bewegt er sich in konzentrischen Kreisen | |
langsam nach außen. Zehn Monate, viele Kitabesuche und unzählige Telefonate | |
später erhält er eine Zusage in Leipzig-Miltitz – am westlichen Ende der | |
Stadt. Es ist der 15. Juli 2016. Sechs Tage später endet Roßmanns | |
Elternzeit. | |
Dabei könnte alles so einfach sein: Für die Suche nach einem | |
Betreuungsplatz stellt die Stadt Leipzig ein Internetportal bereit. Hier | |
erhalten Eltern eine Übersicht über die Kindertagesstätten der Stadt. Freie | |
Plätze lassen sich direkt reservieren. Bei bis zu fünf Wunscheinrichtungen | |
können sie sich unverbindlich anmelden, wenn sie einen Eltern-Account | |
anlegen. | |
Die so gewonnenen Daten über den Wohnort, das Alter des Kindes und den | |
gewünschten Betreuungsbeginn liefern der Stadt wichtige Informationen über | |
den aktuellen Bedarf an Kitaplätzen. Den Kitas selbst hilft das Portal, | |
neue Anfragen und bereits bestehende Verträge zu verwalten. So weit die | |
Theorie. | |
## Den Mehraufwand haben die Eltern | |
Doch das Elternportal funktioniert nicht, sagt Victoria Jankowicz von der | |
Leipziger Kita-Initiative. Der Verein setzt sich für die Belange junger | |
Familien ein, die einen Betreuungsplatz suchen. Jankowicz kritisiert, dass | |
die Familien von den kommunalen Kitas häufig keine Rückmeldungen zum | |
Anmeldestatus erhalten. Und Kitas in freier Trägerschaft hätten über die | |
Jahre eigene Systeme für die Vergabe von Plätzen entwickelt, die sie nicht | |
aufgeben wollen. | |
Anders als in Dresden, wo sich die Mehrzahl der Kitas in kommunaler | |
Trägerschaft befindet, werden in Leipzig 75 Prozent der knapp 260 | |
Kindertagesstätten von freien Trägern betrieben. Die Stadt spart so | |
Personal- und Betriebskosten. Den Mehraufwand haben die Eltern. Denn im | |
Gegensatz zu kommunalen Kitas sind Einrichtungen in freier Trägerschaft | |
bisher nicht verpflichtet, ihren Anmeldeprozess über das Portal | |
abzuwickeln. | |
Zwar sind 95 Prozent der von freien Trägern betriebenen Einrichtungen mit | |
Adresse und Telefonnummer im Portal zu finden. Freie Plätze suchen und | |
reservieren können Eltern aber nur bei der Hälfte von ihnen. Dabei | |
gefährdet das Onlinesystem die Vertragshoheit der Träger keineswegs. Sie | |
können weiterhin eigene Prioritäten setzen und entscheiden, an wen sie | |
Plätze vergeben. Ein gültiger Vertrag kommt erst vor Ort im direkten | |
Kontakt zwischen Kitaleitung und Eltern zustande. | |
Joseph Petersohn von der Caritas ist trotzdem skeptisch. „Wenn die Anfragen | |
über das System kommen, können wir überhaupt nicht erkennen, ob unsere | |
Aufnahmekriterien erfüllt werden.“ Drei Kitas betreibt der Verband in | |
Leipzig. Eltern, die hier einen Platz bekommen wollen, müssen begründen, | |
warum ihr Kind aufgenommen werden soll. Auch nach der Konfession wird | |
gefragt. Zwar ist die Angabe freiwillig, doch Petersohn versteht die Kitas | |
als Angebot an Eltern, die nach Kitas mit einem christlichen Profil suchen. | |
## Status: „in Bearbeitung“ | |
Davon, dass sie sich am Ende doch über jede Einrichtung und deren | |
Vergabepraxis einzeln informieren wird, ahnt Anja Naumann noch nichts, als | |
sie sich im März 2016 im Elternportal registriert. Zwei Monate zuvor ist | |
die 35-Jährige Mutter geworden. Sie gibt ihre fünf Wunscheinrichtungen an | |
und vertraut darauf, dass die Kitas ihr antworten werden. Schließlich haben | |
ihr die kommunalen Kitas am Telefon signalisiert: Plätze vergeben wir nur | |
über das Portal. Und viele Kitas in freier Trägerschaft baten darum, von | |
telefonischen Anfragen oder gar Besuchen abzusehen. | |
Die Stadt weiß um die Probleme mit dem Elternportal. Ein Faltblatt des | |
Familieninfobüros fordert Eltern ausdrücklich dazu auf, unabhängig von der | |
Onlineplattform selbst aktiv zu werden. Verbesserungsbedarf sieht der | |
zuständige Sozialbürgermeister Thomas Fabian dennoch nicht: „Das System | |
funktioniert so lange nicht, wie wir einen Mangel an Plätzen haben. Erst | |
wenn insgesamt genügend Kitaplätze zur Verfügung stehen, sind alle Träger | |
gezwungen, freie Plätze über das Elternportal anzuzeigen.“ | |
Im Sommer 2016 merkt Naumann, dass sie über das Portal nicht weiterkommt. | |
Sie hat weder Absagen noch Einladungen zum Gespräch erhalten. Der Status | |
ihrer Wunscheinrichtungen lautet seit vier Monaten unverändert „in | |
Bearbeitung“. Doch spätestens zu Beginn des nächsten Jahres braucht Naumann | |
einen Platz für ihren Sohn August. Zusammen mit ihrem Mann und anderen | |
Familien hat sie ein Mehrfamilienhaus in Plagwitz gekauft und in | |
Eigenarbeit ausgebaut. Ihr Einkommen wird gebraucht. | |
Sie sucht 20 Kitas in der näheren Umgebung heraus, geht hin, meldet sich | |
an, telefoniert, schreibt Mails. Als sie im Herbst noch keinen Platz hat, | |
beschließt sie, ihren Rechtsanspruch einzuklagen. Wohl fühlt sie sich mit | |
der Entscheidung nicht: „Vielleicht hätte ich noch mehr tun müssen – Kuch… | |
backen oder Lebensläufe basteln.“ | |
## Elf Stunden lang wird Hannah täglich betreut | |
Theoretisch haben alle Eltern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ihres | |
Kindes Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Doch der Stadt fehlen im | |
Kitajahr 2016/17 laut eigenen Angaben 1.170 Plätze. Besonders angespannt | |
ist die Lage bei den unter Dreijährigen. In sieben von zehn Leipziger | |
Stadtbezirken gebe es aktuell Engpässe, räumt der Sozialbürgermeister auf | |
Anfrage der Linken ein. Was das für Familien bedeutet, in denen beide | |
Vollzeit arbeiten, erleben Wolfgang, Antje und Hannah Roßmann täglich. | |
Jeden Morgen verlässt Wolfgang Roßmann um 5:30 Uhr mit Hannah das Haus. | |
Eine Dreiviertelstunde und viele S-Bahn-Stationen später erreichen sie die | |
Kita in Miltitz. Für Roßmann geht es danach an den nördlichen Rand | |
Leipzigs. In der Nähe des Leipziger Flughafens arbeitet er für ein großes | |
Logistikunternehmen. | |
Derweil sitzt seine Frau 15 Kilometer weiter östlich schon seit einer | |
Stunde an ihrem Schreibtisch. Im gläsernen Bürogebäude am Torgauer Platz | |
arbeitet die 33-Jährige als Sachbearbeiterin für eine Krankenkasse. Sie hat | |
ihren Arbeitsbeginn so zeitig gelegt, damit sie um 15.15 Uhr Feierabend | |
machen kann. Anderthalb Stunden dauert es dann noch, bis sie bei ihrer | |
Tochter ist. Glücklich ist sie mit der Situation nicht: „Dass Hannah länger | |
als acht Stunden betreut werden muss, war uns klar. Aber knappe elf Stunden | |
– das wollte ich meinem Kind nie antun.“ | |
Die Ursache für den Mangel an Kitaplätzen sieht Sozialbürgermeister Fabian | |
in der Bevölkerungsentwicklung der Stadt. Mit den rasant ansteigenden | |
Geburtenzahlen und dem Zuzug junger Familien mit Kindern habe niemand | |
rechnen können. | |
## Der Sozialbürgermeister gibt sich zuversichtlich | |
Die Hofers sind so eine Familie. Im November 2015 sind sie aus der Schweiz | |
nach Leipzig gezogen, weil Fabian Hofer sich hier als Architekt | |
selbstständig gemacht hat. Ihr gemeinsamer Sohn Laurin war damals gerade | |
zwei Monate alt. Nina Hofer hatte gehört, dass es in Deutschland leichter | |
sein soll, einen Kitaplatz zu bekommen, als in der Schweiz. Heute ist sie | |
ernüchtert: Ihr Sohn ist mittlerweile 18 Monate alt, doch einen regulären | |
Betreuungsplatz hat sie nicht. | |
In der Tat wächst Leipzig seit 2011 durch Zuzug so stark wie keine andere | |
deutsche Stadt. Doch dass sich die Zahl der Vorschulkinder seit Mitte der | |
1990er Jahre mehr als verdoppelt hat, liegt nicht an Familien wie den | |
Hofers. Dass immer mehr kleine Kinder mit Anspruch auf einen | |
Betreuungsplatz in Leipzig leben, liegt an den Geburtenzahlen. Seit 1996 | |
steigen sie kontinuierlich. | |
Auf die Frage, ob die Stadt in der Vergangenheit zu wenig getan habe, | |
antwortet Fabian: „Einen allgemeinen Rechtsanspruch auf die Betreuung von | |
Krippenkindern gab es damals noch nicht.“ Im Klartext: Solange es nur den | |
Anspruch auf Kindergartenplätze gab, hatte deren Planung und Ausbau für die | |
Stadt Priorität. Erst als klar war, dass der Rechtsanspruch ab Sommer 2013 | |
auf alle Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, ausgedehnt wird, | |
verändern sich die Prioritäten. | |
Hinzu kommt, dass die Stadt jahrelang nicht über die geeigneten Methoden | |
verfügte, die Nachfrage nach Betreuungsplätzen zu erfassen. Erst 2013 wurde | |
auf Antrag der Linke-Fraktion beschlossen, den Bedarf der Eltern | |
systematisch über die Zahl der Anmeldungen im Elternportal zu ermitteln. Es | |
dauerte noch zwei weitere Jahre, bis diese Daten auch in die Berechnung | |
einflossen. | |
Sozialbürgermeister Fabian gibt sich zuversichtlich, bis zum Ende des | |
Jahres den Rechtsanspruch der meisten Eltern auf einen Kitaplatz zu | |
erfüllen. Darüber kann Anja Naumann nur lachen. Zwar wurde ihr ein | |
Kitaplatz zugesprochen, doch für die Strecken zwischen Wohnung, Kita und | |
Arbeit bräuchte sie täglich drei Stunden. Sie hat den Platz als unzumutbar | |
abgelehnt. Auch die Schweizerin Nina Hofer glaubt nicht mehr an Hilfe von | |
der Stadt. Dreimal die Woche lässt sie ihren Sohn mittlerweile privat | |
betreuen. Für zwölf Stunden Betreuungszeit kostet das fast so viel wie bei | |
Familie Roßmann für einen ganzen Monat. Die Roßmanns hingegen wollen noch | |
ein Jahr durchhalten. Dann ist Hannah ein Kindergartenkind. Sie hoffen auf | |
einen Kindergartenplatz in ihrer Nähe. | |
19 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Nadja Mitzkat | |
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