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# taz.de -- Referendum in der Türkei: Vier Finger für ein „Evet“
> Im türkischen Wahlkampf lässt sich auch an den Händen ablesen, zu welcher
> Stimme die Türk*innen tendieren. Was bedeuten die Gesten?
Bild: Der türkische Präsident zeigt sich neuerdings überall mit dem Rabia-Gr…
Am Morgen des 16. Juli 2016, nach der – wie er später sagen sollte –
schwersten Nacht seines Lebens, trat Recep Tayyip Erdoğan vor seine
jubelnden Anhänger*innen und hob die Hand zum Gruß. Vier Finger in die Luft
gereckt, Daumen auf den Handballen gedrückt. Die Menschen, die sich in der
Nacht zuvor auf seinen Aufruf hin vor die Panzer gestellt hatten,
verstanden das Zeichen: Es erinnerte an den Rabaa-al-Adawiya-Platz in
Kairo, auf dem das ägyptische Militär am 14. August 2013 mit Waffengewalt
die Sitzblockade der islamistischen Muslimbrüder niedergeschlagen hatte.
Es war nicht das erste Mal, dass Erdoğan diese Handgeste zeigte. Bereits in
jenen Tagen im August 2013, die Polizei hatte gerade erst die Gezi-Proteste
brutal niedergeschlagen, griff Erdoğan den Rabia-Gruß auf, um sich mit den
Muslimbrüdern zu solidarisieren, die sich gegen den Militärputsch gestellt
hatten. Indem er die ägyptischen Demonstrant*innen unterstützte, während er
gegen die türkischen Demonstrant*innen mit aller Härte vorging, legte er
nahe, seine Partei verteidige Bürgerrechte nur für praktizierende
Muslim*innen.
Gesten wie der Rabia-Gruß transportieren eine politische Aussage, die in
Europa lange nicht wahrgenommen wurde – weil westliche Beobachter*innen das
Zeichen nicht lesen konnten. Und dass sich Erdoğan eine für den Westen
unverständliche Geste aneignet, ist kein Zufall. Muslim*innen von Tunesien
über Ägypten bis in den Irak verstehen das Zeichen schließlich. Mit dem
Rabia-Gruß reduziert der türkische Präsident die Reichweite seiner
politischen Aussage bewusst auf die arabischsprachige Welt und zeigt, dass
ihn die politische Meinung des Westens wenig kümmert.
Wenn Erdoğan bei jeder Wahlkampfveranstaltung den Rabia-Gruß zeigt, gibt er
seinen Anhänger*innen – und seinen Gegner*innen – zu verstehen: Uns ist in
der Putschnacht etwas genauso Schreckliches widerfahren wie den
Mulimbrüdern in Ägypten. Aber: Wir haben gewonnen.
## Abwendung vom Westen
In den Monaten vor dem Referendum in der Türkei zeigen AKP-Anhänger*innen
auf Wahlkampfveranstaltungen nicht nur den Rabia-Gruß, vermehrt taucht auch
der in die Luft gestreckte Zeigefinger auf. Das Tekbir-Zeichen verweist auf
die Größe und Allmacht Allahs. Gläubige Muslim*innen drücken damit aus,
dass es für sie nur einen Gott gibt, der alles sieht. Auf Demonstrationen
gezeigt, ist das Tekbir-Zeichen in der Türkei die politische Geste der
radikalen Islamist*innen.
Auch der sogenannte Islamische Staat hat die Geste für seine Zwecke
vereinnahmt: In den sozialen Medien tauchten diverse Fotos von
IS-Kämpfer*innen auf, die den rechten Zeigefinger in die Luft strecken.
Ikonisch wurde das Zeichen spätestens, als im Dezember 2016 ein türkischer
Polizist in Ankara den russischen Botschafter Andrej Karlow erschoss. Das
Foto des Terroristen, der in der einen Hand eine Pistole hält, die andere
Hand mit erhobenem Zeigefinger in die Luft reckt, wurde zum World Press
Photo des Jahres 2017 gekürt.
Nicht nur die Ausrichtung gegen den Westen vereint diejenigen in der
Türkei, die ihre Hand zum Rabia-Gruß und zum Tekbir-Zeichen heben. Mit
dieser Geste zeigen sie auch ihre Entschlossenheit, im Referendum am 16.
April mit Ja zu stimmen.
## „Vergesst nicht die Nationalisten“
Diejenigen, die noch unentschlossen sind, ob sie ihre Stimme für oder gegen
das Präsidialsystem abgeben, versuchte der türkische Ministerpräsident
Binali Yıldırım im Februar 2017 mit dem Zeichen der rechtsextremistischen
Grauen Wölfe ins Boot zu holen. Bei einem AKP-Parteitreffen zeigte Yıldırım
den Wolfsgruß, bei dem der Mittel- und Ringfinger auf den Daumen gedrückt
werden, während der Zeigefinger und der kleine Finger nach oben gerichtet
sind.
“Vergesst nicht die Nationalisten“, kommentierte er die Handgeste. Damit
bezog er sich auf die Anhänger*innen der rechtsextremen Milliyetçi Hareket
Partisi (MHP), auf Deutsch Partei der Nationalistischen Bewegung. Diese
hatte in den vergangenen Wochen ihre Wähler*innen mobilisiert, im
Referendum mit Nein zu stimmen.
Später rechtfertigte Binali Yıldırım die Geste mit den Worten: “Wir zeigen
die Zeichen aller. Alle Farben der Türkei sind für uns gleich. Wenn wir
sagen, dass wir 80 Millionen umfassen, sind die einzige Ausnahme die
Terrororganisationen.“
## Das Zeichen der Anderen
Undenkbar, dass der türkische Ministerpräsident die Geste derjenigen zeigt,
die sich gegen das Präsidialsystem wenden: Das Victory-Zeichen ist das
politische Symbol der anderen Seite in der Türkei. Kurd*innen, Linke und
Säkulare bilden auf Demonstrationen mit Zeigefinger und Mittelfinger ein V.
Symbolcharakter erhielt das Victory-Zeichen im Zweiten Weltkrieg durch
Winston Churchill. Ursprünglich von der BBC als Propaganda-Kampagne für die
Allierten konzipiert, um den widerständigen Geist der von den Deutschen
besetzten Territorien zu zeigen, wurde das Victory-Zeichen im Verlauf der
Jahrzehnte zur international bekannten Chiffre für Widerstand.
In der Türkei hat das Victory-Zeichen jedoch seine eigene politische
Dimension: Es wurde zum Symbol der Kurd*innen, die sich seit Jahrzehnten
gegen die Repressionen des türkischen Staates wehrten. “Der Rest der Welt
denkt beim Victory-Zeichen an Winston Churchill. In unseren Breiten jedoch
wird es das 'Zeichen der Kurden’ genannt, von den türkischen Nationalisten
mit säuerlicher Miene, von den Kurden wiederum mit einem Lächeln“, schreibt
die türkische Autorin Ece Temelkuran in “Euphorie und Wehmut“.
## Ein universales Symbol
Und die türkische Staatsmacht reagiert empfindlich auf Finger, die zum V in
die Luft gereckt werden. Anfang März forderte die Staatsanwaltschaft 20
Jahre Haft für die HDP-Abgeordnete Leyla Zana. Neben der Anklage wegen
“Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und Terrorpropaganda“
wird der kurdischen Politikerin vorgeworfen, bei dem 2012 verbotenen
kurdischen Neujahrsfest Newroz das Victory-Zeichen gezeigt zu haben. Das
könne als Propaganda für die in der Türkei als Terrororganisation
eingestufte PKK verstanden werden, so der Staatsanwalt.
Im Dezember 2016 amüsierten sich die Menschen in der Türkei über ein
Vorher-Nachher-Foto der HDP, das einen Schneemann zeigt – einmal mit zum V
gereckten Fingern, einmal ohne. Türkische Polizisten hatten dem Schneemann
das Victory-Zeichen abgeschlagen.
Anders als die Rabia- und die Tekbir-Geste transzendiert das
Victory-Zeichen Sprachen und Nationalitäten. Es ist das Symbol derer, die
sich nach Westen richten. Und das Symbol derer, die im Referendum für Nein
stimmen werden.
9 Mar 2017
## AUTOREN
Elisabeth Kimmerle
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Putschversuch Türkei
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