# taz.de -- Referendum in der Türkei: Nein, Ja, Jein! | |
> Die Befürworter der Verfassungsänderung dominieren mit ihren Kampagnen | |
> die klassischen Medien. Ihre Argumente überzeugen nicht alle. | |
Bild: Am 16. April geht's an die Wahlurne | |
In rund eineinhalb Monaten stimmt die Türkei per Volksentscheid über eine | |
neue Regierungsform ab. | |
Bevor es Ja oder Nein zu einer Verfassungsänderung heißt, die die | |
umfassende Übertragung parlamentarischer Befugnisse auf den | |
Staatspräsidenten vorsieht, tragen alle Lager ihre Argumente für oder gegen | |
die Reform in die Medien. | |
Für die „Ja-Sager“ gibt es en masse Möglichkeiten, ihre Meinung kundzutun. | |
Da oppositionelle Medien nur noch einen Tropfen im Meer der türkischen | |
Medienlandschaft ausmachen, dominieren die Unterstützer der Reform die | |
Massenmedien und sind frei in ihrer Meinungsmache. | |
## Keine faire Kampagne | |
Unter diesen Umständen bleiben den „Nein-Sagern“ die sozialen Medien und | |
die Straße. Stellt sich nur die Frage, ob sie wenigstens hier über | |
ausreichende Bewegungsfreiheit verfügen? Leider liegt genau hier das | |
Problem. Die Gegner der Reform stoßen auf wenig Sympathie. Von einer | |
gleichberechtigten, fairen Kampagne kann nicht die Rede sein. | |
Am 10. Februar setzte der TV-Journalist İrfan Değirmenci, der ein beliebtes | |
Morgenmagazin moderierte, eine Reihe von Tweets ab, mit denen er sein Nein | |
zum Referendum erläuterte. Am nächsten Tag wurde er von seinem Sender, dem | |
zur Doğan-Mediengruppe gehörenden Kanal D, entlassen. Allerdings konnte | |
Fatih Çekirge in seiner Kolumne in der Zeitung Hürriyet, die ebenfalls zu | |
Doğan-Medien gehört, umfangreich darüber schreiben, weshalb er mit Ja | |
abstimmen werde. | |
Der Konzern begründete die Entlassung damit, dass ein Kolumnist seine | |
persönliche Meinung äußern dürfe, ein Moderator aber nicht, was die | |
Proteste umso stärker anfachte. Şevket Çoruh, ein Schauspieler, der seit | |
elf Jahren in einer beliebten Fernsehserie („Arka Sokaklar“, dt. | |
Hintergassen) des Senders Kanal D einen Kommissar darstellt, twitterte | |
solidarisch: „Auch ich sage Nein, feuert mich doch!“ | |
Die Repressalien sind nicht auf Entlassungen beschränkt. Laut des Berichts | |
von Transparency International zur Beobachtung des Referendums für die | |
Verfassungsreform vom Januar 2017 wurden 87 Personen festgenommen, weil sie | |
sich an „Nein“-Kampagnen beteiligt hatten. Darunter Jugendliche, die ein | |
Flugblatt mit dem Titel „Nein zum Präsidialsystem“ verteilt hatten, sowie | |
die CHP-Politikerin Sera Kadıgil. | |
## Nein mit Humor und Musik | |
Trotz allem ist die Tonart der „Nein-Sager“ positiv besetzt, so als könnten | |
sie alle Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, überwinden. | |
Täglich werden auf Twitter und Facebook satirische Nein-Lieder geteilt. Vor | |
allem junge Frauen produzieren und verbreiten Nachrichten in diesem Stil. | |
Mit der Adaption der Zeile „Frauen schwingen den Knüppel gegen die Ordnung | |
der Welt! Nein, Tausend Mal nein!“ aus dem kurdischen Lied „Keça Kurdan“ | |
(Kurdisches Mädchen) legte der 7-Farben-Chor, der wohl erste und einzige | |
LGBTI-Chor in der Türkei, eine amüsante Coverversion auf. | |
Efe Kerem Sözeri, bekannt für seine Texte und Kommentare in alternativen | |
Medien, griff zur Bağlama (Saiteninstument) und wandelte das Lied „Burçak | |
Tarlası“ (Das Saatwicken-Feld) zu dem Wortspiel „Hayır’lısı Var“ (e… | |
Nein tut gut) um. Das Video traf bei vielen Gegnern der Verfassungsreform | |
einen Nerv; es scheint als hätte die Kraft der Musik die Menge gegen das | |
Ein-Mann-Regime geeint. | |
## Die Ja-Sager vermeiden selbst im Alltag das Wort Nein | |
Das Wort „Hayır“ – das neben „Nein“ auch „gesegnet oder gut“ bed… | |
bereits die Sprache der „Ja-Sager“ geändert. So wurde der Hashtag | |
#HayırlıCumalar (Gesegneter Freitag), jeden Freitag Trend auf Twitter, | |
aufgrund des enthaltenen Hayır=Nein geändert zu #CumanızMübarekOlsun (Möge | |
Euer Freitag gesegnet sein). | |
Alltagsphrasen wie „Hayırlı günler, hayırlı işler“ („Einen gesegnet… | |
„Gesegnete Geschäfte“) scheinen bis zum Morgen des 17. April aus dem | |
Wörterbuch des „Ja“-Lagers gestrichen. Selbst Politiker der Regierungsseite | |
geben sich alle Mühe, bloß kein falsches „hayır“ zu sagen. Diese | |
gekünstelte Haltung stärkt gerade jene, die sich zum „hayır“ als Nein | |
bekennen, also den Gegnern der Verfassungsreform. | |
Erwähnenswert ist auch die Argumentation der „Nein-Sager“. Die Repressionen | |
gegen Journalist*innen und Akademiker*innen sowie die Massenentlassungen | |
per Dekret stoßen in breiten Kreisen der Gesellschaft auf Ablehnung. Das | |
„Nein“-Lager vertritt die Meinung, dass ein gestärktes Präsidialamt die | |
bereits vorhandene Situation verschlimmern würde. | |
Menschen, die türkische Militäreinsätze in Syrien, die Ausgangssperren oder | |
Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung im Osten des Landes | |
kritisieren oder gar selbst davon betroffen sind, machen die Regierung | |
verantwortlich für die Beschneidung von Grund- und Freiheitsrechten. Sie | |
denken, dass mit einem Nein zum Referendum diese Probleme gelöst werden | |
könnten. | |
## Ja, aber zu wem und wozu? | |
Im „Ja“-Lager hingegen scheint Unordnung in der Argumentation zu herrschen. | |
Die Botschaften der Politiker und die von öffentlichen Fürsprechern sind | |
unklar. Ihre Argumente überzeugen nicht, weshalb Meinungsumfragen Resultate | |
weit entfernt von einem „Ja“ für die Verfassungsänderung prognostizieren. | |
Ein gutes Beispiel für das Durcheinander ist die Aussage von Ozan Erdem, | |
dem stellvertretenden AKP-Vorsitzenden der Provinz Manisa, der im Zuge der | |
Ja-Kampagne in einer Rede sagte: „Wenn wir nicht über 50 Prozent bekommen | |
und im Referendum scheitern, müsst ihr euch auf einen Bürgerkrieg | |
einstellen.“ Die Äußerung zog zwar seinen Rücktritt nach sich, wurde aber | |
als Beispiel dafür registriert, dass ein „Ja“ auf Regierungsseite nicht gut | |
begründet werden konnte. | |
Auch die Autorin Elif Çakır schrieb in der regierungsnahen Zeitung Karar | |
einen Kommentar, der nach hinten losging: Sie räumte ein, dass das | |
Präsidialsystem äußerst umfangreiche parlamentarische Befugnisse für einen | |
Einzelnen bringe, und schlug deshalb vor, diese Befugnisse auf fünf Jahre | |
„ausschließlich Erdoğan zu geben“. (Anm.d.Red.: Diese Äußerung zeigt, d… | |
selbst in der AKP das Ein-Mann-Regime kritisch betrachtet wird.) Das war | |
ungewollt Wasser auf die Mühlen des „Nein“-Lagers, dessen Kritik lautet: | |
„Diese Systemänderung dient einem Ein-Mann-Regime.“ | |
Ein weiteres Argument der „Ja“-Kampagne lautet, dass vor allem | |
Organisationen wie die PKK und die sogenannte Gülen-Terror-Organisation | |
FETÖ die Verfassungsreform ablehnen. Diese These soll | |
nationalistische/konservative Kreise ansprechen, gleichzeitig das | |
Nein-Lager marginalisieren. Auf einer Fraktionssitzung der AKP verkündete | |
Premier Binali Yıldırım: „Da die PKK Nein sagt, da FETO Ja sagt, sagen wir | |
zu dieser Reform Nei-“, bemerkte seinen Fehler und korrigierte den Satz zu: | |
„Da FETO Nein sagt, sagen wir Ja.“ | |
## Die Macht der Unentschiedenen | |
Die Verwirrung auf Seiten der „Ja-Sager“, ihr Mangel an überzeugenden | |
Argumenten und die Art und Weise, wie sie „Nein-Sager“ diskriminieren, | |
könnte vermutlich dem Nein-Lager nützen. | |
Hier kommt eine große Gruppe von Wähler*innen ins Spiel, die zwischen Ja | |
und Nein schwanken, unentschieden sind oder sich scheuen, ihre Entscheidung | |
offen auszusprechen – die sogenannten „Jein-Sager“. Möglicherweise | |
bestimmen sie den Ausgang des Referendums. Entscheidend wird sein, welchem | |
Lager es gelingen wird, seine Argumente effektiver, vielschichtiger und | |
überzeugender darzustellen. | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
28 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Gülten Sarı | |
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