# taz.de -- Vereitelter Putschversuch: Das bittere Ende einer Zweckehe | |
> AKP-Regierung und Gülen arbeiteten lange als Verbündete – oben angelangt | |
> wollten sie nicht teilen. Wie es zum Putschversuch im Juli 2016 kam. | |
Bild: Am Tag nach dem Putschversuch: Das Polizei-Hauptquartier in Ankara | |
Seit rund 50 Jahren organisiert sich die Gülen-Bewegung in den staatlichen | |
Strukturen der Türkei. Den Höhepunkt ihrer Macht erreichte sie unter der | |
AKP-Regierung in den Jahren 2007 bis 2012. Als kein Gegner mehr zu | |
Bekämpfen übrig war, zerstritten sich die „Partner“ über die Verteilung … | |
Beute und der staatlichen Macht. | |
Ihre „Feindschaft“ begann mit [1][den Korruptionsermittlungen 2013] (die | |
von Gülenisten innerhalb des Justizapparats in die Wege geleitet wurden, | |
Anm.d.Red) und brachte die Türkei letztlich zur Nacht des 15. Juli 2016, zu | |
der viele Menschen nach wie vor Fragezeichen im Kopf haben. | |
Trotz umfangreicher Ermittlungen wegen Korruption und illegaler | |
Waffenlieferung in Geheimdienstkonvois nach Syrien gegen Erdoğan und andere | |
AKP-Funktionäre, ging die AKP aus den kurz darauf folgenden Regionalwahlen | |
als Siegerin hervor und wenige Monate später wurde Erdoğan sogar | |
Staatspräsident. | |
## Der Anfang vom Ende | |
Dies bedeutete für die Gülen-Bewegung den Anfang vom Ende. Neben | |
umfangreichen Entlassungen in Justiz und Polizei wurden zahlreiche Konzerne | |
und der Bewegung nahestehende Medienorgane durch Zwangsverwaltungen | |
übernommen, um der Bewegung die finanziellen Ressourcen zu entziehen. | |
Die Vereitelung des Putschversuchs vom 15. Juli 2016, bei dem 248 | |
Zivilisten beim Widerstand gegen Putschisten ums Leben kamen, verhinderte | |
den Beginn einer weit blutigeren Phase. Der Umsturzversuch, den ein Teil | |
der Opposition nach wie vor für eine Inszenierung von Erdoğan hält, wirft | |
heute noch Fragen auf. | |
Die Verhaftungswelle gegen Funktionäre der Gülen-Bewegung, die seit dem | |
Putsch als „Fethullah-Gülen-Terrororganisation“ (FETO) bezeichnet wird, hat | |
sich auf alle Gegner der AKP-Regierung ausgedehnt. Rund 40.000 Personen | |
wurden wegen „Putschverdachts“ verhaftet. | |
Während jeder mit widersprüchlichen Anschuldigungen konfrontiert und der | |
„FETO-Mitgliedschaft“ bezichtigt wird, ist die AKP-Regierung, die einst die | |
Gülen-Bewegung zum Teilhaber ihrer Macht und sich damit in ihrem Jargon | |
„des Terrors mitschuldig“ gemacht hat, von aller Kritik ausgenommen. | |
Behauptungen ohne Dementi und unbeantwortete Fragen nähren den Verdacht, | |
der Coup könnte inszeniert worden sein, um die Macht der AKP oder Erdoğans | |
zu stärken. | |
## Hatte man das nicht gemerkt? | |
Seit den 1990er Jahren wurden zahlreiche Artikel, Bücher und Berichte über | |
die Organisierung der Gülenisten innerhalb des Staats, vor allem in Armee, | |
Polizei, Justiz und der aus dem Geheimdienst MIT bestehenden | |
Sicherheitsverwaltung veröffentlicht. | |
Bedenken wir, dass diese Warnungen nicht beachtet wurden, stellt sich die | |
Frage: Hat man diese Entwicklung nicht bemerkt, oder wollte man nicht, dass | |
sie bemerkt wird? | |
Wenn die Gülen-Bewegung tatsächlich so gut in Armee und Verwaltung | |
organisiert war, hatte sie es da überhaupt noch nötig, einen Putsch | |
durchzuführen? Und noch viel wichtiger: Warum konnte der Putschversuch, der | |
248 Menschen das Leben kostete, nicht verhindert werden, obwohl die | |
Bewegung zuletzt mit den Korruptionsermittlungen ihre Feindseligkeit gegen | |
die AKP und Erdoğan offenbart hatte? | |
## Wie die Bewegung sich der Armee bemächtigte | |
In einer Anklageschrift gegen die Gülen-Bewegung, die wenige Tage vor dem | |
Putschversuch in Ankara erstellt wurde, findet sich folgende Passage: „Die | |
türkischen Streitkräfte haben seit 2003 niemanden entlassen, von dem sie | |
wussten, dass er Gülenist ist. Seither befindet sich das Militär in Händen | |
der Organisation (Gülen-Bewegung, Anm.d.Red.). Ergenekon und andere | |
Militärprozesse wurden geführt, damit die Organisation ihre Vormacht über | |
die Streitkräfte durchsetzt.“ | |
Staatsanwalt Okan Bato hatte eine Untersuchungsaktion gegen Anhänger der | |
Gülen-Bewegung innerhalb der Streitkräfte angeordnet. Als die Putschisten | |
bemerkten, dass sie kurz davor sind aufzufliegen, zogen sie ihre | |
Umsturzaktion, die ursprünglich am 16. Juli 2016 um 03.00 Uhr am Morgen | |
stattfinden sollte, einen Tag vor. | |
Einem unvollständigen Untersuchungsbericht zufolge begannen die Vorarbeiten | |
für den Putsch bereits im Januar 2016. In den Mittagsstunden des 15. Juli | |
2016, als im Generalstab die Vorbereitungen liefen, wurde auf Hinweis eines | |
unbekannten Offiziers namens H.A. ein Flugverbot für sämtliche | |
Militärhubschrauber- und Flugzeuge im Luftraum der Türkei verhängt. | |
Für alle weiteren, sich noch in der Luft befindenden Maschinen wurde der | |
Befehl zur Rückkehr zu ihren Stützpunkten erteilt. Der Putschversuch begann | |
um 21.00 Uhr Ortszeit, zeitgleich betrat Generalmajor Mehmet Dişli, Bruder | |
des AKP-Vize-Vorsitzenden Şaban Dişli, das Büro des Generalstabschefs Akar, | |
um ihn zum Umsturz zu überreden. Als er scheiterte, waren bald darauf | |
Schüsse im Generalstabsquartier zu hören, Militärjets flogen im Tiefflug | |
über Ankara und in Istanbul wurde die Bosporusbrücke von Panzereinheiten | |
gesperrt. | |
## Das große Gottesgeschenk | |
Als in den sozialen Medien von Explosionen und Schüssen in Ankara und | |
Istanbul berichtet wurde, sprach als erster Funktionsträger Premierminister | |
Binali Yıldırım von einem Putschversuch. Um 00:24 Uhr erschien Erdoğan im | |
Fernsehen. Er rief die Bürger dazu auf, die städtischen Plätze und | |
Flughäfen zu besetzen und sich dem Putsch entgegenzustellen. | |
Erdoğans Fernsehaufruf fand Widerhall, viele Bürger fuhren zum | |
Atatürk-Flughafen in Istanbul. Als Erdoğans Flugzeug dort um 03.18 Uhr | |
landete, waren Hubschrauber mit Sondereinsatzkommandos, die angeblich ein | |
Attentat auf ihn vorhatten, im Anflug auf Marmaris, wo Erdoğan sich zuvor | |
aufgehalten hatte. | |
In seiner Fernsehrede bezeichnete Erdoğan mehrfach die Gülen-Bewegung als | |
Drahtzieher hinter dem Coup. Er sagte: „Wie Sie wissen, gab es heute | |
Nachmittag bedauerlicherweise eine Dynamik in unseren bewaffneten | |
Streitkräften.“ | |
Der Satz, der andeutet, dass die Putschpläne der Regierung bereits bekannt | |
waren, rutschte ihm möglicherweise versehentlich heraus. Damit nicht genug, | |
fügte er diesem noch hinzu: „Diese Operation ist ein großes Gottesgeschenk | |
für uns.“ | |
Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. | |
* Dieser Text ist ein übersetzter Auszug aus einer Serie zum Putschversuch, | |
die 2016 in der Tageszeitung Cumhuriyet erschienen ist. | |
25 Jan 2017 | |
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## AUTOREN | |
Ahmet Şık | |
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