# taz.de -- Türkischer Journalist vor Gericht: Abstruse politische Verrenkung | |
> Berichtete der Journalist Ahmet Şık zu kritisch über die Gülen-Sekte oder | |
> ist er ihr Propagandist? Für beides kam er in Haft. Nun steht er vor | |
> Gericht. | |
Bild: Der Journalist Ahmet Şık saß fast ein Jahr in Untersuchungshaft | |
ISTANBUL taz | Zu welchem Irrsinn die türkische Justiz aus politischen | |
Gründen gezwungen wird, wurde gestern in einem Gerichtssaal in Istanbul | |
eindrucksvoll demonstriert. Nämlich, als dem Richter Ahmet Şık, der | |
bekannteste Enthüllungsjournalist des Landes, vorgeführt wurde. | |
Ahmet Şık ist gemeinsam mit zehn weiteren Journalisten angeklagt, dem | |
Ergenekon-Netzwerk anzugehören. Das ist eine Gruppierung, die angeblich in | |
den Jahren 2008 bis 2011 den gewaltsamen Sturz der Erdoğan-Regierung | |
vorbereitet haben soll. Ahmet Şık ist den vermeintlichen Putschisten | |
deshalb zugeordnet worden, weil er gemeinsam mit seinem Kollegen Nedim | |
Şener ein Enthüllungsbuch mit dem Titel „Die Armee des Imam“ herausbringen | |
wollte. Thema: die Gülen-Sekte, die damals noch eng mit Erdoğan verbündet | |
war. | |
Ahmet Şık saß deshalb fast ein Jahr in Untersuchungshaft, wurde dann | |
gemeinsam mit Nedim Şener freigelassen und wartet nun auf sein Urteil. Seit | |
dem 29. Dezember sitzt Şık aber erneut im Gefängnis, dieses Mal wegen des | |
genau gegenteiligen Vorwurfes: Er soll Propaganda für die mittlerweile als | |
Terrororganisation eingestufte Gülen-Sekte verbreitet haben, als deren | |
schärfster Kritiker er in dem gestern verhandelten Prozess erst einmal | |
verurteilt werden soll. | |
Tatsächlich, sagte Şık kürzlich, habe er nichts anderes getan, als seiner | |
normalen journalistischen Arbeit nachzugehen, den Machthabern auf die | |
Finger zu schauen. Der Machthaber war damals, 2011, derselbe wie heute: | |
Recep Tayyip Erdoğan. Nur die politische Konstellation hat sich geändert. | |
Derzeit sitzt Şık in Untersuchungshaft, weil ihm vorgeworfen wird, nach dem | |
Putschversuch vom Juli letzten Jahres in einem Interview mit der Deutschen | |
Presseagentur (dpa) gesagt zu haben, Fethullah Gülen und Erdoğan gehörten | |
beide auf die Anklagebank. Und weil er in weiteren Tweets und in Artikeln, | |
die in der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet erschienen, den | |
Ausnahmezustand und die Dekrete Erdogans scharf kritisiert haben soll. | |
Dafür soll er nun zum Propagandisten der „Gülen-Putschisten“ gestempelt | |
werden. | |
## Unter Ausschluss der Öffentlichkeit | |
Die gestrige Verhandlung verlief quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit, | |
weil das Gericht außer den elf Angeklagten, ihren Anwälten und Angehörigen | |
niemanden mehr zuließ; angeblich war der Saal bereits überfüllt. Rund 200 | |
Prozessbesucher, darunter etliche Journalistenkollegen aus dem In- und | |
Ausland, wurde rund 100 Meter vom Gerichtssaal entfernt der Zugang von | |
Polizei und Ordnungsdienst verwehrt. Von einer Barrikade abgesperrt, | |
protestierten diese lautstark gegen die Behinderung ihrer Arbeit. Die Menge | |
war so zornig, dass es fast zu Handgreiflichkeiten kam. | |
Im Saal begründeten dann Ahmet Şık und die anderen Angeklagten, warum ihre | |
damaligen Artikel und Bücher über die Machenschaften der Gülen-Sekte nichts | |
mit einem Umsturzversuch zu tun hatten, sondern Aufklärung im besten Sinne | |
waren. | |
Selbst dem Staatsanwalt fiel es schwer, etwas dagegen zu sagen, da sich ja | |
nun auch in den Augen der Regierung die Gülen-Sekte als „Terroristen“ | |
herausgestellt haben. Ahmet Şıks Frau, Yonca Şık sagte zu Beginn der | |
Verhandlung, die Anwälte ihres Mannes rechneten deshalb fest mit einem | |
Freispruch. | |
Doch selbst wenn Ahmet Şık jetzt vom Vorwurf freigesprochen wird, mit | |
seinem Buch über die Gülen-Sekte einen Putschversuch gegen Erdoğan | |
unterstützt zu haben, wird er trotzdem in Handschellen zurück ins Gefängnis | |
gehen. Weil er jetzt noch als Unterstützer der neuerdings „terroristischen“ | |
Gülen-Sekte angeklagt ist. | |
15 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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