| # taz.de -- Kopftuch-Debatte in Berlin: Gutes Vorbild, schlechtes Vorbild | |
| > Nach einem Gerichtsurteil wird wieder ums Berliner Neutralitätsgesetz | |
| > gestritten. Sollen Lehrerinnen mit Kopftuch endlich unterrichten dürfen? | |
| Bild: Die „Mutter aller Kopftuch-Klägerinnen“: die Muslima Fereshta Ludin … | |
| Für SchülerInnen scheint es keine große Sache zu sein. „Es würde mich nic… | |
| stören, wenn meine Lehrerin Kopftuch tragen würde. Hauptsache, sie | |
| unterrichtet gut und ist nett“, sagt die 14-jährige Sophie Helmer von der | |
| Evangelischen Oberschule Steglitz. Auch Franka Thurau vom | |
| Beethoven-Gymnasium meint: „Ich fände das voll in Ordnung, außer, sie würde | |
| wollen, dass wir Schüler alle auch muslimisch werden.“ Liv Hübner, | |
| Schülerin am Fichtenberg-Gymnasium, findet: „Es ist deren Religion, und es | |
| gibt auch Lehrer, die ein Christenkreuz um den Hals tragen.“ | |
| Für Erwachsene dagegen ist das Thema fast so etwas wie ein „rotes Tuch“. | |
| Seit das Berliner Landesarbeitsgericht am 9. Februar einer Lehrerin | |
| Entschädigung zusprach, weil sie wegen ihres Kopftuchs nicht eingestellt | |
| worden war, ist der „Kopftuch-Streit“ wieder voll im Gange. Dabei entstehen | |
| teils merkwürdige Konstellationen: So liegen die beiden großen Kirchen, die | |
| das Urteil begrüßten, plötzlich auf Linie mit islamischen Organisationen | |
| wie Millî Görüş und migrantischen wie dem Türkischen Bund | |
| Berlin-Brandenburg. | |
| Dagegen vergessen die Christdemokraten in diesem Fall ihr „christliches“ | |
| Erbteil: Sie zeigten sich entsetzt vom Urteil und drängen den Senat in | |
| Berufung zu gehen. „Gerade wir wertschätzen religiöse Bekenntnisse. Aber | |
| wir wissen auch, dass die Zur-Schau-Stellung religiöser Bekenntnisse von | |
| manchem als selbstgewählte Abgrenzung wahrgenommen wird“, sagte Burkhard | |
| Dregger, CDU-Abgeordneter, kürzlich im Abgeordnetenhaus. | |
| Teilweise läuft die Kontroverse auch innerhalb von Organisationen. Der | |
| religionskritische Humanistische Verband Deutschlands (HVD) etwa hat | |
| bislang keine einheitliche Position entwickelt. Der taz erklärte Jan | |
| Gabriel, Präsident des HVD Berlin-Brandenburg: „Für die Verfechter einer | |
| eindeutigen Trennung von Staat und Kirche im HVD sind staatliche | |
| Lehrkräfte, die sich erkennbar religiös positionieren, unvorstellbar.“ | |
| Andere Verbandsmitglieder würden dagegen „die individuelle Haltung der | |
| einzelnen Lehrkraft stärker berücksichtigt sehen“, so Gabriel, und das | |
| staatliche Neutralitätsgebot weniger streng auslegen wollen. „Sie finden, | |
| dass Lehrer_innen, die religiöse Symbole tragen, durchaus Mathe- oder | |
| Deutschunterricht erteilen können, solange sichergestellt ist, dass der | |
| Schulfrieden nicht gefährdet ist und sich die Lehrkraft im Unterricht | |
| weltanschaulich-neutral verhält.“ | |
| ## Senat genau so uneins wie die ganze Gesellschaft | |
| Auch der Senat ist sich höchst uneins, wie auf das Gerichtsurteil zu | |
| reagieren ist. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) sah in seiner ersten | |
| Reaktion das Ende des Neutralitätsgesetzes nahen – jenes Gesetzes, das | |
| Landesbediensteten in Schulen, Polizei und Justiz mit wenigen Ausnahmen das | |
| Tragen religiös-weltanschaulischer Kleidung im Dienst verbietet. Dagegen | |
| erklärte der fachlich zuständige SPD-Innensenator Andreas Geisel: „Wenn es | |
| das Gesetz nicht gäbe, müsste es sofort geschrieben und verabschiedet | |
| werden.“ | |
| Aber auch Kultursenator Klaus Lederer (Linke) macht sich vorsichtig für ein | |
| Umdenken stark. Zwar sei die Grundidee – die strikte Trennung von Staat und | |
| Religion sowie die „Gleichbehandlung zugunsten des multireligiösen | |
| Miteinanders“ – nach wie vor richtig, sagte er der taz. „Wenn die Praxis | |
| aber anders aussieht, muss das Gesetz diskutiert und in der Konsequenz auch | |
| neu verhandelt, überarbeitet werden.“ | |
| Tatsächlich betonen heute alle Verfechter des Neutralitätsgesetzes, dass es | |
| kein Kopftuchverbot sei, da alle religiösen Symbole gleichermaßen verboten | |
| sind. Die ursprüngliche Absicht war allerdings eine andere. Nach einem | |
| Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2003 (siehe Text rechts) preschte der | |
| damalige SPD-Innensenator Ehrhart Körting vor und wollte ein | |
| Kopftuchverbot-Gesetz. Nur war die PDS als damaliger Regierungspartner | |
| strikt dagegen. Erst nach mehrmonatigem Koalitionsstreit wurde das Verbot | |
| aller religiösen Symbole als Kompromiss gefunden. | |
| ## Gesetz trifft de facto nur Muslima | |
| De facto betrifft das Neutralitätsgesetz bis heute nur muslimische Frauen. | |
| Es sei daher als „Benachteiligung von Frauen bei ihrer Berufsausübung zu | |
| bewerten“, sagt Markus Hanisch, Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei der | |
| Lehrergewerkschaft GEW. „Insofern ist es angemessen, die Berliner | |
| Rechtslage zu überdenken.“ | |
| Zumal sich viele Frauen um das Verbot nicht mehr scheren. An den Berliner | |
| Universitäten gebe es immer mehr Lehramtsstudentinnen mit Kopftuch, | |
| beobachtet Sabine Achour, die Politikdidaktik und Politische Bildung an der | |
| FU unterrichtet. „Vor einigen Jahren gab es das fast gar nicht.“ Heute, | |
| schätzt sie, trügen etwa vier Studentinnen von 100 in Politikwissenschaft | |
| für das Lehramt Kopftuch, im Grundschulbereich seien es sechs bis acht von | |
| 100. | |
| Zum Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan e. V.), | |
| kämen auch immer mehr Frauen mit Beschwerden, sagt die Juristin und | |
| Projektleiterin Zeynep Çetin. Zum einen Studentinnen und Referendarinnen, | |
| die von Schulen im Rahmen ihres Praktikums und Referendariats aufgrund | |
| ihres Kopftuchs abgelehnt wurden, obwohl sie gesetzlich vom Kopftuchverbot | |
| ausgenommen sind. Zum anderen hätten sich nach dem jüngsten | |
| Kopftuch-Prozess, in dem unter anderem Inssan die Klägerin unterstützt hat, | |
| zwei weitere Lehrerinnen gemeldet, die klagen wollen. „Das Urteil macht Mut | |
| für angehende muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch“, so Çetin. | |
| Eine von ihnen ist Canan Özdemir. Die junge Frau, die aus Angst vor | |
| Stigmatisierung ihren richtigen Namen nicht nennen will, macht gerade ihr | |
| Referendariat an einer Ostberliner Grundschule. Im August will sie sich bei | |
| Lehrer-Castings um eine Stelle bewerben – und klagen, wenn sie nicht | |
| genommen wird. „Ich bin von Natur aus eine Kämpferin und werde das so nicht | |
| hinnehmen“, sagt sie. Beim derzeitigen Lehrermangel dürfe jeder | |
| Quereinsteiger an Grundschulen arbeiten. „Warum ich nicht, obwohl das mein | |
| Traumberuf ist, für den ich mich so angestrengt habe?“ | |
| ## „Aufhören, mich nach meinem Äußeren zu beurteilen“ | |
| Dass sie als Kopftuchträgerin nicht fähig sein soll, bei ihrer Arbeit | |
| Neutralität zu wahren, wie die Gesetzesbefürworter meinen, kränkt sie. „Nie | |
| würde ich Kindern meine Meinung aufdrücken. Ich will sie zu kritischen, | |
| selbstständig denkenden Menschen erziehen!“ Aber hier seien offenbar die | |
| üblichen Vorurteile am Werk: dass Muslime andere Lebens- und Sichtweisen | |
| nicht tolerieren würden. „So etwas höre ich, seit ich mit 14 Jahren das | |
| Kopftuch angelegt habe. Man soll doch bitte aufhören, mich nach meinem | |
| Äußeren zu beurteilen.“ | |
| An ihrer Schule seien alle – Lehrer, Eltern, Schüler – mit ihr zufrieden, | |
| so Özdemir. Die Direktorin würde sie auch gern übernehmen: „Sie sagt, sie | |
| bräuchten dringend Lehrerinnen mit Kopftuch, gerade als Vorbild für Kinder | |
| mit Migrationshintergrund.“ | |
| Ja, gute Frage: Was halten SchuldirektorInnen vom Neutralitätsgesetz? | |
| Offenbar ist das Thema heikel: Von zehn Anfragen der taz wurden neun | |
| ignoriert oder negativ beschieden. Nur Rita Schlegel von der | |
| Hermann-Sanders-Grundschule in Neukölln war zum Gespräch bereit. | |
| Sie liegt ganz auf Linie der Bildungsverwaltung und würde niemals eine | |
| Lehrerin mit Kopftuch einstellen. „Wir sollen neutral sein, ich darf auch | |
| nicht mit einem Parteiabzeichen durch die Schule laufen“, sagt sie. Und: | |
| „Mein Glaube ist das, was ich im Herzen trage, aber das muss ich doch nicht | |
| nach außen zeigen.“ Wer dies tue, etwa mit einem Kopftuch, signalisiere | |
| damit, dass er oder sie eben nicht neutral sei, sondern „streng gläubig“. | |
| Schlegel hält auch nichts von der These, dass Kopftuch tragende Lehrerinnen | |
| wichtig seien als Vorbilder oder Kulturmittler für muslimische Familien. | |
| Dafür habe man LehrerInnen mit türkischem oder arabischem Hintergrund, | |
| erwidert sie. Vielmehr sehe sie die Gefahr, dass muslimische Mädchen durch | |
| Kopftuch tragende Lehrerinnen verleitet würden, auch das Kopftuch zu | |
| nehmen. „Lehrer sind ja auch Vorbilder.“ | |
| ## In Neukölln schon Erstklässlerinnen mit Kopftuch | |
| Diese Gefahr beschwört auch Franziska Giffey, SPD-Bezirksbürgermeisterin in | |
| Neukölln und lautstarke Befürworterin des Neutralitätsgesetzes. Sie sehe es | |
| mit Sorge, dass in ihrem Bezirk schon Erstklässlerinnen mit Kopftuch und | |
| langen Gewändern zur Schule kommen, sagte sie der taz. Und: „Mädchen, die | |
| vor der Entscheidung stehen, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht, werden | |
| dabei von ihrem Umfeld beeinflusst, von Nachbarn, Familie, Freunden. Das | |
| erleben wir heute schon. Eine Lehrerin mit Kopftuch würde diesen Einfluss | |
| verstärken. Da braucht es keine aktive Beeinflussung, das Vorleben allein | |
| genügt dafür.“ | |
| Dieses Argument lässt Politikwissenschaftlerin Achour nicht gelten. Die | |
| Tatsache, dass es bereits Schülerinnen mit Kopftuch gebe, zeige, „dass | |
| diese Entscheidung anscheinend komplett unabhängig von den LehrerInnen | |
| fällt“. Für nicht erwiesen hält sie zudem die These, dass Kopftuch tragende | |
| Lehrerinnen weltanschaulich nicht neutral sein können. „Das kann man nicht | |
| wissen, ohne es auszuprobieren“, sagt sie – und: Bei ihren Studentinnen mit | |
| Kopftuch könne sie das nicht erkennen. | |
| Dagegen teilt Achour die Einschätzung, dass Frauen mit Kopftuch eher einem | |
| „traditionelleren, konservativerem Islam“ zuneigen. „Das Wertemuster ist | |
| vergleichbar mit dem ländlicher Milieus in Deutschland.“ So entspreche das | |
| Kopftuch zwar eher nicht dem westlich europäischen Begriff von | |
| Emanzipation. „Aber die Frauen haben oft innerhalb ihrer Communitys | |
| Emanzipationsprozesse durchlaufen und sind häufig gerade aufgrund | |
| konservativerer Wertemuster systemstabilisierend.“ Mitarbeit: Julia | |
| Karthigesu | |
| Dieser Text ist Teil des Wochenendschwerpunkts zur Debatte ums Kopftuch an | |
| Schulen. Darin außerdem: Ein Interview mit einem Psychologen, ein Essay und | |
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| 3 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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