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# taz.de -- Ex-Nazis beim Aussteigen helfen: Im Hauptquartier der Ausstiegsprof…
> Erst eine radikale Revision der eigenen Biografie ermögliche einen
> Neuanfang, sagt der Ausstiegsberater Reinhard Koch. Aber Aufhören heißt
> nicht gleich Aussteigen
Bild: Meint das tatsächlich ernst: Hitler-Imitat im Neonazi-Umfeld beim Aufmar…
Wolfsburg taz | Vom Wolfsburger Hauptbahnhof ist es nicht weit. Keine fünf
Minuten zu Fuß, schon ist das zweigeschossige Gebäude des Zentrums für
Demokratische Bildung erreicht.
An der Heinrich-Nordhoff-Straße 77 liegt das Zentrum in einem ehemaligen
Möbelhaus. Hier wollte der verstorbene Rechtsextremist und Szeneanwalt
Jürgen Rieger 2009 ein Museum für die NS-Organisation „Kraft durch Freude“
(KdF) und den KdF-Wagen eröffnen, der VW und Wolfsburg groß gemacht hat.
Der zivilgesellschaftliche Widerstand und eine flexible Stadtverwaltung
verhinderten nicht nur die Eröffnung des rechten Szenetreffs, sie
ermöglichten auch gleich die Errichtung des Zentrums, das seit 2011 eine
wichtige Adresse für den Kampf gegen den Rechtsextremismus ist.
Zusammen mit der 1994 gegründeten Arbeitsstelle Rechtsextremismus und
Gewalt (Arug) in Braunschweig sind die Wolfsburger zuständig, wenn in
Norddeutschland Kader aus der rechten Szene aussteigen wollen – wenn sich
also Personen mit langer und tiefer Verankerung von sich aus melden, um
rauszukommen. Die anderen Beratungsstellen im Norden verwiesen in diesen
Fällen auf Braunschweig und Wolfsburg. Man stehe untereinander im
Austausch, sagt Reinhard Koch, der Leiter des Wolfsburger Zentrums. Es
gehe darum, voneinander zu lernen, sagt er, aber auch um einheitliche
Definitionen: Wann ist ein Aussteiger ein Aussteiger?
In den bundesweiten Hilfsangeboten ist dies nicht einheitlich festgelegt,
im Norden aber wohl: Dort gibt es den „Nordverbund Ausstieg Rechts“, der
von den Wolfsburgern und den Braunschweigern koordiniert wird. „In dem
Verbund haben wir das genau umrissen“, sagt Koch.
Koch, schlank, groß gewachsen, ist ein eher zurückhaltender Typ. Bei
Gesprächen nimmt er sich, die Brille immer wieder mal abnehmend, Zeit, um
zu erläutern und zu erklären. Auch wenn das Telefon im Büro immer wieder
klingelt, er möchte für seine Gesprächspartner da sein. Verschiedene
Kriterien müssen bei Aussteigern für sie zusammenkommen, sagt er, die alle
eines ausmachen: den totalen Bruch mit der rechten Biografie. Ein
Aussteiger darf keine Verbindungen mehr zu seinen früheren Kameraden haben.
Die Kameraden dürften darum auch nicht plötzlich als „Freunde“ weiter
kontaktiert werden, sagt Koch.
Ein Aussteiger müsse zudem eine „Totalrevision seiner Einstellungen und
Verhaltensmuster“ anstreben. Das sei ein langer Prozess mit Höhen und
Tiefen, sagt Koch. Die Sprache offenbare oft, wie weit sich jemand schon
entfernen konnte. „Wenn da noch immer von Zecken, Leute die unwert zu leben
sein, geredet wird, ahnt man, wie lange der Weg noch werden dürfte“, sagt
er.
Rund 20 Prozent der Aussteiger bei ihnen würde den Ausstiegsprozess
abbrechen, berichtet Koch. „Mit den Aussteigern entwickeln wir eine
To-do-Liste, die auch festlegt, bis wann was vorgelegt wird, doch wenn nur
wir liefern sollen, intervenieren wir.“ Solche Abbrüche seien allerdings
meistens anderen Problemen wie Alkoholabhängigkeit geschuldet. Nach einer
entsprechenden Therapie könne der Ausstiegsprozess meistens weiter verfolgt
werden.
Mit den betroffenen Männern und Frauen werde versucht, die Motive der
Hinwendung zu den jeweiligen Szenen herauszuarbeiten, sagt Koch. Für
manchen Jugendliche war Rechtsrock der individuelle Zugang. Beim Ausstieg
würden sie in diesem Fall nicht stehen lassen, dass es bloß um die Musik
gegangen sei. „Mit den Texten, ihren menschenverachtenden Inhalten, würden
wir den Betroffenen konfrontieren.“ Es werde auch erwartet, dass die eigene
Rolle in dem jeweiligen Spektrum hinterfragt werde.
Einfach aufhören, nicht mehr zum Kameradschaftsabend erscheinen, keine
Aufmärsche und Rechtsrockkonzerte mehr besuchen sei für sie kein Ausstieg,
sagt Koch – anders als etwa für den Verfassungsschutz, für den das
ausreiche, so wie es für die Polizei ausreiche, wenn jemand keine weiteren
Straftaten mehr begehe.
Ein vermeintlicher Aussteiger aus dem Raum Hannover sitzt derzeit beim
NSU-Prozess in München auf der Anklagebank: Holger Gerlach. Nach eigenen
Angaben verließ er 2004 die Szene, half aber dem NSU-Kerntrio Uwe Mundlos,
Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bis zu deren zufälligem Auffliegen 2011 mit
Papieren, Führerschein und Krankenkassenkarte. Er übergab den „Uwes“ auch
eine Waffe.
Zehn Morde, drei Bombenschläge und fünfzehn Überfälle schreibt die
Bundesanwaltschaft dem Trio zu, mit dem Gerlach zusammen Ausflüge in
Norddeutschland unternahm. Zur Szene in Hannover hielt er auch sonst
Kontakt, ging aber nicht zu Aufmärschen. Auch nach seinem Ausstieg sagte
Gerlach den Ermittlern nichts über die drei. Der Verfassungsschutz nahm ihn
nicht mehr wahr, seine Akte wanderte in den Keller.
Hätte ein Gerlach bei einem Ausstieg bei einer Beratungsstelle von seinen
strafbaren Handlungen erzählen müssen? „Sie müssen nicht auspacken über
alle und jeden, aber bei eklatanten Taten erwarten wir, dass sie reden“,
sagt Koch. Sie würden aber auch die Schilderungen der Aussteiger-Kandidaten
gegenrecherchieren. „Wir begegnen den Betroffenen mit großer Offenheit,
wenn uns gegenüber aber die eigene Rolle in der Partei oder Kameradschaft
kleingeredet wird, fragen wir nach seiner ernsthaften Offenheit zum
Wandel.“
Wenn jemand behaupte, nur ein, zwei Mal bei einen Aufmarsch bis zu einen
gewissen Datum mitgelaufen zu sein, und dann von den Beratern Bilder von
der Beteiligung an weiteren Aktionen nach diesem Termin vorgelegt bekommt,
sei das eine „Aufmunterung“, ehrlich zu sich selbst und den
Ausstiegsunterstützern zu sein, meint Koch. Bei strafrechtlichen
Tatbeständen müssten sie nicht gleich Ermittlungsstellen einschalten, aber
bei Waffenübergaben und Gewalttaten würden sie sich an diese Stellen wenden
– in Rücksprache mit dem Aussteiger. Denn sich den Taten zu stellen, gehöre
auch zum Ausstiegsprozess, sagt Koch.
Die meisten Aussteiger, die sie im Verbund betreuen, sind männlich. Das
Verhältnis sei 90 zu 10 Prozent, sagt Koch, was im Groben auch die
Beteiligung von 20 Prozent Frauen und Mädchen in der Szene widerspiegele.
Spezifische Projekte zur Rolle der Frauen in den rechten Szenen haben
gezeigt, dass Frauen in der Gesellschaft immer noch nicht als
Überzeugungstäterinnen, sondern eher als Freundinnen eines Rechtsextremen
wahrgenommen werden. Eine Folge: Die Frauen müssen keinen Ausstiegsprozess
durchlaufen, um ihren Wandel glaubhaft zu machen.
Bei den Ausstiegshilfen ist der Verfassungsschutz nicht dabei. „Wer
aussteigen will, befürchtet oft, bei staatlichen Stellen erst einmal
allumfassend auspacken zu müssen, bevor ihm Hilfe angeboten wird“, sagt
Koch. Viele möchten nicht gleich vom Aussteiger zum Verräter werden.
In einzelnen Fällen haben staatliche Stellen Ausstiegswillige ermutigt,
weiter als Informant in der Szene zu bleiben. Auch sei bei vielen immer
noch ein Misstrauen gegenüber dem „BRD-System“ vorhanden, sagt Koch.
Die Chance für eine Lebensperspektive jenseits der Szene dürfe nicht
verstellt werden, lautet das Credo des „Nordverbunds Ausstieg Rechts“. „W…
versuchen mit dem Aussteiger sein Leben neu aufzustellen, berufliche
Perspektiven zu finden, aber auch persönliche Alternativen zu schaffen, um
das zunächst bestehende alltägliche Vakuum des fehlenden Szeneumfelds
abzufedern“, sagt Koch.
Raus aus der rechten Biografie, rein in die gesellschaftliche Mitte? „Wir
gehen grundsätzlich davon aus, dass der einzelne Mensch sich verändern
kann, dieses Menschenbild unterscheidet uns von Rechtsextremen“, sagt Koch.
„Deswegen stehen wir in der Verantwortung, Aussteigewilligen zu helfen und
sie aufzunehmen.“
Doch auch dieses Angenommenwerden kann eine lange Auseinandersetzung sein:
Vor knapp fünf Jahren trennte sich der ehemalige Braunschweiger
Waldorfschullehrer Andreas Molau von der „nationalen Bewegung“. Molau war
über Jahrzehnte in der Szene aktiv, war Redakteur bei der Jungen Freiheit,
kandidierte nach seinem Selbstouting für die NPD, war Vorsitzender der
Gesellschaft für freie Publizistik und bei der Bürgerbewegung pro NRW
tätig. 2012 stieg er über das Aussteigerprogramm des niedersächsischen
Verfassungsschutzes „Aktion Neustart“ aus. Auch mit Koch stand er im regen
Austausch, beklagt jedoch, dass er noch immer nicht in der Gesellschaft
offen angenommen wird.
„Ich kann das nachvollziehen“, sagt Koch. „Aber wer 30 Jahre auch
ideologiebildend in der rechtsextremen Szene gewirkt hat, muss auch
nachvollziehen können, dass das eingeforderte Vertrauen erst einmal
aufgebaut werden muss – von ihm.“
17 Feb 2017
## AUTOREN
Andreas Speit
## TAGS
Schwerpunkt Neonazis
Rechte Szene
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Neonazis
NPD-Verbot
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Flucht
Wendland
Rechtsrock
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