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# taz.de -- Rechte Szene in Chemnitz: Als die Nazis Reißaus nahmen
> Farbbeutel, Fäkalien und eine tote Ratte vor der Tür: Wie Rechte eine
> linke Abgeordnete in Chemnitz drangsalierten. Und Widerstand
> hervorriefen.
Bild: „Manchmal liefen sie vorbei und rotzten gegen die Scheiben“: Die Link…
Chemnitz taz | „Blau fehlt noch“, sagt Susanne Schaper vor dem großen
Fenster des Ladenlokals, in dem sie bis Ende Oktober ihr Bürgerbüro hatte.
Die Farbe Blau fehlt, ansonsten aber hat sich in den vergangenen 17 Monaten
ein bunter Reigen von Farbbeuteln über die Fensterfront in der Zietenstraße
53 ergossen. Dabei blieb es nicht, auch Fäkalien, eine tote Ratte wurden im
Eingangsbereich abgelegt, mal brannte der Briefkasten, war die Scheibe
eingeschmissen.
Auf mehr als 20 solcher Attacken kommt die Landtagsabgeordnete, Stadträtin
und Fraktionsvorsitzende der Linken in Chemnitz. Der Vermieter wurde dieser
fortgesetzten Sachbeschädigungen überdrüssig und kündigte der 39-Jährigen
die Räume.
Mutmaßliche Täter sind Rechte, die den Stadtteil zu einer „national
befreiten Zone“ machen wollen und Duftmarken setzen. Ihr Revier markieren.
Sogar einen Namen haben sie sich gegeben: Rechtes Plenum. Nicht nur in der
Zietenstraße 53, auch in den umliegenden Straßen finden sich Hakenkreuze
und Aufschriften wie „I love NS“. „Erst ignoriert man das“, erzählt die
Politikerin mit der roten Brille und den langen blonden Haaren, „doch im
Lauf der Zeit haben sich die Vorfälle deutlich gesteigert.“ Sie meldete
„vielleicht jeden dritten“. Eine schwierige Sache. „Manchmal bauten sie
sich in einer kleinen Gruppe gegenüber von meinem Stand auf und grinsten
einfach. Oder liefen vorbei und rotzten gegen die Scheiben. Da macht es
wenig Sinn, Anzeige zu erstatten.“
Einschüchterungsversuche. Zermürbungstaktik. Hasskommentare auf ihrer
Facebook-Seite. „Wir Linken sind ja relativ hart im Nehmen“, sagt Schaper,
die schon mit 16 Jahren der PDS beitrat. „Aber die Bedrohungen, die ich
jetzt erlebe, nenne ich Faschismus.“ Hat sie sich von der Polizei ernst
genommen gefühlt? „Nein“, sagt Schaper und zögert, „jetzt vielleicht.�…
jetzt ist die Presse auf die Vorfälle aufmerksam geworden. Und nun passiert
das, was alle hier so gerne vermeiden würden.
Die Verunglimpfung als rechtes oder braunes Sachsen, wo sich der NSU
jahrelang verbergen konnte. „Ich lehne es ab, den Stadtteil zu
stigmatisieren“, sagt Schaper. „Ich bin hier geboren. Ich will nicht
kapitulieren. Aber ich gebe zu, ich bin gewarnt worden.“
## Leerstand liegt bei 30 Prozent
Der Winter hat in diesen Tagen Chemnitz fest im Griff. Das Erzgebirge ist
nah, es hat viel geschneit, und strahlender Sonnenschein bringt trotz
Minustemperaturen die riesigen Eiszapfen an den Dachfirsten zum Tauen. Die
Zietenstraße ist eine der Querachsen im schachbrettartig angelegten
Gründerzeitviertel Sonnenberg, jenseits der Bahngleise, gebaut für Arbeiter
der Industriestadt, die einst als das sächsische Manchester galt. Heute
sind in Sonnenberg Fenster vernagelt, Geschäfte aufgegeben, ganze
Straßenzüge verlassen – der Wohnungsleerstand liegt offiziell bei 30
Prozent. In der Zietenstraße ist er sichtlich höher.
Warum haben sich die Rechten ausgerechnet Sonnenberg und die
Linken-Abgeordnete ausgesucht? „Weiß ich nicht“, sagt Susanne Schaper. „…
sind nicht viele, ungefähr ein Dutzend Leute, aber die sind eben sehr
laut.“ Kennt sie die Leute persönlich? „Nein. Eine Gesprächsgrundlage habe
ich mit denen nicht.“
Lars Fassmann hat eine Erklärung. „Der Sonnenberg bietet durch den
Leerstand Freiräume, Rückzugsmöglichkeiten. Und durch die soziale Mischung
ist die Toleranzschwelle deutlich höher als anderswo. Man mischt sich nicht
so schnell ein.“ Sonnenberg ist das Viertel mit dem höchsten Anteil von
Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, aber keine No-go-Area. Auch
Migranten, Studenten und Künstler leben hier, und nur ein paar Hundert
Meter weiter, Richtung Gablenz, betreibt Lars Fassmann das alternative
Veranstaltungszentrum Lokomov mit Probenräumen, Druckwerkstatt,
Künstlerateliers.
Auch hier hat es am 8. November einen Sprengstoffanschlag gegeben, nachts,
ein Fenster ging zu Bruch. Bekenner gab es nicht. Zu dieser Zeit
erarbeitete eine Theatergruppe gerade ein Stück über die rechte Terrorzelle
NSU. Das Operative Abwehrzentrum in Leipzig, eine Art Soko in Sachen
Rechtsextremismus, ermittele „noch immer sehr intensiv“ gegen unbekannt,
heißt es dort.
## Kulturelle Belebung des Viertels
Fassmann, 40, mit rotblonden Locken und kleinem Bart, sitzt in einem der
Clubsessel seiner Bar. Es ist kurz nach 18 Uhr und noch nicht viel los. Der
große Raum mit den riesigen Fenstern ist lila und grün gestrichen, an der
Decke hängen Kugellampen aus dem Berliner Palast der Republik. „Einige
haben immer noch nicht verstanden, was wir hier machen“, sagt Fassmann, der
für die Wählervereinigung Volkssolidarität im Stadtrat sitzt und mit seiner
IT-Firma Lernsoftware entwickelt. Kulturelle Belebung des Viertels, das ist
sein Konzept; Leipzig und Dresden haben vorgemacht, wie es auch in
Chemnitz, der drittgrößten Stadt in Sachsen, gehen könnte in der Zukunft.
Fassmann ist der Vorbote der Gentrifizierung, er zeigt aus dem Fenster auf
die andere Straßenseite, die Häuser dort hat er auch gekauft.
„Gentrifizierung läuft bei uns anders. Hier werden keine Leute vertrieben“,
sagt er, „sondern angesiedelt, bei so viel Leerstand.“ Fassmann hat 15
Häuser in Sonnenberg erworben, er lässt das Notwendigste sanieren und
überlässt sie Studenten und Künstlern gegen geringe Mieten. Ihr Wert wird
steigen. „Wir sind keine Sozialstation“, sagt er.
Fassmann ist in der Nähe von Chemnitz groß geworden, er sächselt leicht,
spricht bedächtig. Die Mentalität seiner Landsleute kennt er gut. „Sie
schweigen die Dinge lieber tot, bis es knallt. Das ist eine problematische
Grundhaltung, die sich durch die Strukturen zieht.“ Denn nicht nur im
Stadtteil Sonnenberg, sondern in ganz Chemnitz hat die rechte Szene nach
der Wende Fuß gefasst. In Polizei und Politik, sagt Fassmann, würden die
Aktivitäten der Neonazis eher relativiert und außerdem werde stets auf die
Straftaten der linken Szene verwiesen. „Das sind aber keine kleinen Kinder,
die sich prügeln und wo Bürgerinnen und Bürger außerhalb der Rangelei
stehen.“
## Keine Hirngespinste
Eine Kleine Anfrage des Chemnitzer Grünen-Abgeordneten Volkmar Zschocke vom
Dezember zu politisch motivierten Gewalttaten (PMG) in Chemnitz-Sonnenberg
gibt Fassmann recht. Laut Landeskriminalamt ist dort im Zeitraum Januar
2014 bis November 2016 die Zahl der PMG drastisch gestiegen; insgesamt
wurden 75 Straftaten aus der rechten Szene registriert gegenüber 5, die der
linken Szene zugerechnet werden.
Dass man über die Aktivitäten der Rechten in Chemnitz-Sonnenberg trotzdem
gut Bescheid weiß, verdankt sich Aktivisten der lokalen linken Szene. Am 4.
November, kurz nachdem Susanne Schaper ihr Büro aufgeben musste,
dokumentiert eine „Gruppe Avocado“ auf dem Internetportal indymedia.org die
Aktivitäten des Rechten Plenums, das in Sonnenberg ähnlich wie in Dortmund
einen „Nazikiez“ aufzubauen versucht habe. Ein umfangreiches Outing mit
Namen, Anschrift, Fotos, Videos, Social-Media-Profilen. Kurz darauf gibt
das Rechte Plenum per Twitter seine Auflösung bekannt, die Facebookseite
„Kopfsteinpflaster“ wird abgeschaltet, private, oft unter Pseudonym
betriebene Facebookprofile werden gelöscht.
Ist Schaper froh über das Outing? „Ich war nicht böse darüber“, sagt sie.
Immerhin habe die rechtspopulistische Stadtratsfraktion Pro Chemnitz vorher
ihre Privatadresse veröffentlicht. „Es zeigt, dass ich keine Hirngespinste
hatte. Ich war Freiwild für die Szene.“ Die gelernte Krankenschwester und
Mutter von drei Kindern seufzt. „Im Moment lassen sie mich in Ruhe.“
## „Nazisein muss weh tun“
Jeremy und Anke gehören zur linken Szene in Chemnitz, ihre wirklichen Namen
wollen sie nicht nennen. „Wenn Nazis in anderen Städten geoutet werden,
ziehen sie nach Dortmund oder Chemnitz“, sagt Jeremy, „deswegen war das
Outing wichtig. Chemnitz soll keine Wohlfühlszene für Nazis sein. Nazisein
muss wehtun.“
Nach dem Verbot der Nationalen Sozialisten Chemnitz im Jahr 2014 habe das
Rechte Plenum „frischen Wind in die Szene gebracht“, erklärt Anke im Café.
Junge Leute, die an die aktuelle Jugendkultur anknüpfen. Nazihipster, die
teilweise vegan kochen, monogam und drogenfrei leben, sich zum
antikapitalistischen Block zählen. „Das sind keine Dumpfbacken mehr wie die
alten NPD-Kameradschaften, die spielen mit Theoriekonzepten, sind belesen.
Das ist das Gefährliche daran.“
Das Rechte Plenum, sagen beide, habe seine Aktivitäten im Internet
geschickt ausgeschlachtet, „sie haben sich hinter ihrer Anonymität
versteckt“. Bis zum Outing. Und jetzt? „Im Moment ist nichts sichtbar.“
Auch die Polizei Chemnitz bestätigt seit November einen Rückgang politisch
motivierter Straftaten in Sonnenberg. Das Outingmaterial der „Gruppe
Avocado“ wurde der Staatsanwaltschaft übergeben, die nun die Beweislage
prüfen muss.
Anke und Jeremy gehören zu denjenigen, die nicht aus Chemnitz weggegangen
sind wie viele andere ihrer Generation. „Chemnitz ist keine Katastrophe“,
sagt Anke nüchtern. Die Aktivitäten eines Lars Fassmann sehen sie kritisch.
Die Aktivitäten des Quartiersmanagements finden sie unzureichend. „Ein
bunter Weihnachtsmarkt ersetzt kein politisches Statement.“ Sozialarbeit,
Präventionsarbeit ist wichtig. Die findet statt, aber nicht genug. „Es
gibt eine über Jahre gewachsene rechte Jugendkultur. Da reinzukommen ist
ganz schwierig.“ Jeremys Schule sei ein einziger Nazilaufsteg gewesen. „Es
ist normal, rechte Bands zu hören. Es ist normal, Thor-Steiner-Klamotten zu
tragen. Das gilt nicht als Nazisymbol, sondern als hipper Lifestyle.“
## Neues Büro gesucht
„Man erreicht mit Prävention nicht alle“, sagt Elke Koch, die
Stadtteilmanagerin. „Bislang gibt es keine Sozialarbeiter, die gezielt
gegen Rechtsextremismus eingesetzt werden. Das wäre überlegenswert.“
Rote Haare, orangefarbener Pullover, schwarze Weste, sitzt Koch in ihrem
Stadtteilbüro in der Sonnenstraße, der einzigen Ecke Sonnenbergs, wo noch
zu DDR-Zeiten Neubauten entstanden. Sie soll entwickeln, beraten,
vernetzen; es gibt einen gewählten Stadtteilrat, viele Vereine und
Initiativen wie den bunten Weihnachtsmarkt, Laternenpfähle umstrickende
Damen, alles das, was Frau Koch den „bunten Sonnenberg“ nennt. „Wir
überlassen den Stadtteil nicht den Rechten“, sagt sie. „Aber ich vermisse
ein klares Wort der Politik. Wir können nur als Zivilgesellschaft Zeichen
setzen.“
Dass Susanne Schaper im Stadtteil bleiben will und ein neues Büro sucht,
findet ihre Anerkennung. „Toll.“ Aber die Linken-Abgeordnete hat
Schwierigkeiten, neue Räume zu finden. Und das bei 30 Prozent Leerstand?
Viele Vermieter mauern, winken ab. Könnte ihr denn nicht die städtische
Grundstücks- und Gebäudegesellschaft (GGG) etwas anbieten? „Unbedingt “,
sagt Elke Koch. Bei der Stadt heißt es, man sei im Gespräch. Und was ist
mit Lars Fassmann? Der sähe lieber Gewerbe als ein Parteibüro einziehen.
Aber er hat Susanne Schaper ein Auktionsangebot weitergeleitet. Die
Büroräume in der Zietenstraße 53 stehen jetzt leer. Ein Haus weiter hat ein
Tattoo-Shop neu eröffnet.
6 Feb 2017
## AUTOREN
Sabine Seifert
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Rechtsextremismus
Sachsen
Chemnitz
Chemnitz
Tag der Arbeit / 1. Mai
Schwerpunkt Neonazis
Sachsen
Junge Alternative (AfD)
Schwerpunkt Ostdeutschland
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