# taz.de -- Krimi „Mord in der Mangle Street“: Die schillerndsten Farben de… | |
> In seinem neuen viktorianischen Schauerroman erfindet M.R.C. Kasasian ein | |
> Vorgängerduo von Sherlock Holmes und Doktor Watson. | |
Bild: Glasauge statt falscher Nase. Sidney Grice als nachträglicher Vorgänger… | |
Hm. Vielleicht sollte man sich auf das Schreiben von Schauerromanen | |
verlegen. Dieser ehemalige englische Zahnarzt jedenfalls, M.R.C. Kasasian, | |
scheint sie in einem geradezu rasenden Tempo zu verfassen, seit er den | |
Bohrer aus der Hand gelegt hat, um Schriftsteller zu werden. Jetzt ist der | |
erste Band seiner „Gower Street Detective“-Serie auch auf Deutsch | |
erschienen. „Mord in der Mangle Street“ kam im englischen Original 2013 | |
heraus, seitdem schon gefolgt von vier weiteren Bänden. | |
Offensichtlich gibt es viel an Verbrechensaufklärung zu erledigen im London | |
des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts. Zu jener Zeit, da Band eins | |
spielt, steckt das sehr neue Gewerbe des Privatdetektivs allerdings noch in | |
den Babyschuhen. | |
Wir begegnen der Ich-Erzählerin, der jungen March Middleton, als sie | |
gerade im Begriff ist, in die Großstadt zu ziehen: zu einem Mann, der | |
behauptet, ihr Vormund zu sein, und bereits zu beträchtlichem Ruhm gelangt | |
ist, da er etliche Verbrechen aufklären konnte, bei denen die Polizei sich | |
hilflos oder unzuständig zeigte. | |
Sidney Grice heißt dieser nachträgliche Vorgänger des Sherlock Holmes. Er | |
verfügt nur noch über ein Auge, dafür aber über einen umso schärferen | |
Verstand. Ein Gefühlsleben hat er nicht, und sein einziger Wunsch im Leben | |
scheint es, endlich ein Glasauge zu finden, das perfekt in seine leere | |
Augenhöhle passt. | |
## Ein weiblicher Watson | |
March Middleton wiederum ist ihrerseits eine Vorgängerin des Dr. Watson: | |
gesegnet mit einer gewissen literarischen Begabung sowie mit genügend | |
Geduld und Starrköpfigkeit, um ihren wenig menschenfreundlichen Vormund zu | |
ertragen und sich selbstbewusst als inoffizielle Mitarbeiterin bei seinen | |
Ermittlungen zu behaupten – auch gegen die frauenfeindliche Umgebung der | |
finsteren Großstadt. | |
Denn das London dieses Romans ist nicht jenes der Reifröcke und gepflegten | |
Teegesellschaften, sondern eines, in dem übel zugerichtete Frauenleichen in | |
dunklen Kellern gefunden werden. In dem tote Menschen so lange in | |
Abwasserkanälen treiben, bis Ratten sie fast zur Unkenntlichkeit zernagt | |
haben. Und in dem March und ihr Begleiter auf Schritt und Tritt von | |
Elendsgestalten angebettelt werden; von zerlumpten Kindern ohne Schuhe oder | |
zahnlosen Frauen mit toten Babys im Arm. | |
Einmal treffen March und Grice in einer üblen Spelunke auf einen | |
heruntergekommenen Stadtstreicher, der eigentlich aus einem alten | |
Adelsgeschlecht stammt. Es ist eine fantastisch morbide großstädtische | |
Szenerie, die M.R.C. Kasasian erschafft. Die Fantasie dieses spätberufenen | |
Autors blüht wirklich in den schillerndsten Farben des Elends. | |
Man versteht gut, warum er nicht bis an sein Lebensende Zahnarzt sein | |
konnte. Denn wie viel mehr Spaß muss doch dieses lustige Spiel hier machen, | |
das Spiel des gleichzeitigen „Wer kann die gruseligste Geschichte | |
erzählen?“ und des „Ich weiß was, was du nicht weißt!“, das ein Krimia… | |
mit seinen Lesern treiben kann. | |
## Wer hat Sarah Ashby getötet? | |
Denn der geniale Sidney Grice und sein listiger Autor wissen die ganze Zeit | |
viel, viel mehr, als die nur normal kluge March Middleton und wir uns | |
vorstellen können. Und auch wenn wir, anders als March, durch tausendfache | |
Lektüreerfahrung schon so unsere Ahnung haben mögen, wer wirklich die | |
hübsche, aber garstige Sarah Ashby auf dem Gewissen hat, die jemand zu | |
Beginn des Romans mit vierzig Messerstichen zerstückelt hat, wird unsere | |
Aufmerksamkeit doch ständig durch neue überraschende Entwicklungen auf Trab | |
gehalten. | |
Unser Ekelinstinkt wird nie so weit herausgefordert, dass er sich durch die | |
mitgelieferten Ironiemarker nicht noch neutralisieren ließe. (Ja, wenn man | |
beginnt, ernsthaft darüber nachzudenken, ist es vielleicht doch nicht so | |
leicht, einen wirklich guten Schauerroman zu schreiben.) | |
Über March Middleton, die mit ihren 21 Jahren ebenfalls bereits eine | |
bewegte Vergangenheit hat, wissen wir nach Band eins übrigens immer noch | |
nicht sehr viel mehr als das. Aber was soll man sagen: Ein kluger Autor | |
baut halt vor und plant von Anfang an eine Serie. Die geneigte Leserschaft | |
wird sich nicht lange bitten lassen, von Band zu Band tiefer in Marchs | |
Geheimnisse einzutauchen. | |
22 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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