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# taz.de -- Nach dem Massaker in Nigeria: Die Trauer der Schiiten
> Die nigerianische Armee tötete vor gut einem Jahr viele Angehörige der
> schiitischen Minderheit. Sie hatte Angst vor einer islamistischen
> Rebellion.
Bild: Abgerissene Grundschule in Zaria. Angeblich hatte man keine Baugenehmigung
ZARIA taz | Muhammad Abdulhamid hat eine Tour geplant. „Das Wohnhaus müssen
wir unbedingt ansehen, die Schule und den Friedhof“, sagt der 23-Jährige,
um sich schnell zu korrigieren, „oder das, was übrig geblieben ist“. Dann
schweigt er abrupt. Der Soziologiestudent will zeigen, was Nigerias Armee
in seiner Heimatstadt Zaria innerhalb eines Jahres zerstört hat und was
einst zur „Islamischen Bewegung in Nigeria“ (IMN) gehörte.
Diese schiitische Gruppierung ist seit 2014 stark ins Visier der
Sicherheitsorgane gerückt. In Nigeria sind die meisten Muslime Sunniten. Im
Bundesstaat Kaduna gibt es drei kleine schiitische Bewegungen, entstanden
nach der Islamischen Revolution im Iran 1979 mit der Forderung, auch in
Nigeria einen islamischen Staat zu errichten.
Breite Unterstützung findet das nicht. Als Gefahr wird es eigentlich auch
nicht angesehen, da die Anhängerschaft zahlenmäßig viel zu klein ist. Aber
dennoch sind die schiitischen Gruppierungen vielen suspekt.
Nasir Ahmad El-Rufai, Gouverneur des Bundesstaates Kaduna, hat die IMN als
erste der drei Gruppen verboten. Nicht aus religiösen Gründen, betont er.
Sie habe sich geweigert, sich vom Staat registrieren zu lassen.
## Traditionelle schiitische Prozession niedergeschossen
Muhammad Abdulhamid zuckt dazu mit den Schultern. „Das ist kein Grund, so
gegen uns vorzugehen“, klagt der junge Mann, dessen ganze Familie der
schiitischen Bewegung angehört. Er hält am ersten Ort, den er zeigen
möchte. In der Nachmittagssonne spielen ein paar Jungen Fußball. „Hier hat
das Haus von Scheich Zakzakys Mutter gestanden.“ Heute sind nicht einmal
mehr die Grundmauern zu sehen. Er ärgert sich über die „Zerstörungswut“.
„Was hat das Haus einer alten Frau damit zu tun?“, klagt er.
Scheich Ibraheem Zakzaky ist der Gründer der IMN und sitzt seit mehr als
einem Jahr im Gefängnis. Mit ihm dürften mehrere hundert Anhänger verhaftet
worden sein. Eine genaue Zahl nennt niemand. Im November nannte Nigerias
Oberster Gerichtshof die Untersuchungshaft zwar unverhältnismäßig und
forderte, Zakzaky auf freien Fuß zu setzen. Doch auch Wochen später ist das
nicht passiert.
Die Verhaftungen geschahen während und nach einem großen [1][Massaker im
Dezember 2015]. Menschenrechtsorganisationen gehen von 349 Toten aus: 348
Schiiten und ein Soldat. Eskaliert war die Situation während einer
traditionellen Prozession. Die IMN ist häufig dafür kritisiert worden, dass
sie für ihre Aufmärsche unerlaubt ganze Straßen blockiert. Kurz nach dem
Massaker hieß es von Seiten der Armee allerdings, dass es Pläne gab,
hochrangige Militärs zu ermorden. Die Menschenrechtsorganisation Human
Rights Watch (HRW) schrieb in einem Bericht, dass die Schiiten Steine und
Stöcke in den Händen hielten; die Soldaten hätten überzogen reagiert.
## Mit Boko Haram auf eine Stufe gestellt
Muhammad Abdulhamids nächster Halt liegt außerhalb Zarias Richtung Norden.
Abdulhamid fährt zu dem Friedhof, auf dem Mitglieder der Bewegung bestattet
werden. Bei einigen Gräbern sind die Steine aus den Verankerungen gerissen.
Eine große Grabstätte sticht hervor: Sie ist zentimetergenau eingefasst,
die Steinplatten sind sauber und gepflegt. Hier wurden im Juli 2014 drei
Söhne Zakzakys beerdigt – erschossen von der Armee, so die IMN.
Verschiedenen Quellen zufolge starben bei diesem Vorfall zwischen 12 und 35
Menschen. Auch hier hat es keine Aufarbeitung gegeben. Der zweite Schreck
kam nach dem Massaker 2015, als die Soldaten versuchten, Teile des
Friedhofs zu zerstören. Muhammad Abdulhamid kann nur mit dem Kopf
schütteln. Er hat das Gefühl, der Staat wolle eine ganze Bewegung
vernichten.
Sein Vater Abdulhamid Bello, der zu den führenden Mitgliedern gehört, sieht
es ähnlich. Damit verbunden ist die Anschuldigung, die IMN könne sich zu
einer Terrormiliz wie [2][Boko Haram] entwickeln. Diese gründete sich zwar
600 Kilometer entfernt in der Stadt Maiduguri im Nordosten Nigerias und hat
mit Schiiten nichts zu tun. Heute wird nigerianischen Politikern jedoch
vorgeworfen, dass Boko Haram über viele Jahre unbeobachtet und ungestraft
predigen konnte.
In seinem Haus in Zaria sagt Abdulhamid Bello: „Man hat versucht, uns als
Boko Haram dastehen zu lassen. Dabei waren sie es, die einen Anschlag auf
uns verübten. Nur weil jemand denkt, wir seien wie Boko Haram, sind wir es
doch noch lange nicht.“
## „Es gibt keine gemeinsame Geschichte“
So weit geht auch Gouverneur El-Rufai nicht. „Es wäre falsch, Parallelen
zwischen Boko Haram und der IMN zu ziehen. Es gibt keine gemeinsame
Geschichte“, erklärt er. Als Bedrohung schätzt er die schiitische Gruppe
dennoch ein. Es gebe einen militanten Flügel, der bewaffnet sei und
Ausbildung von Kämpfern betreiben würde. El-Rufai plädiert dafür, solche
Ansätze „im Keim zu ersticken“. In Zaria pochen Abdulhamid Bello und sein
Sohn Muhammad demgegenüber auf die Friedfertigkeit der Gruppe. „Wir haben
nie Vergeltung verübt“, sagt der Vater.
Muhammad Abdulhamid will unbedingt noch einen wichtigen Ort zeigen: das
Fudiyya Centre, seine ehemalige Grundschule. Hier rollten im November 2016
die Bulldozer an. Es soll keine Baugenehmigung gegeben haben. Bisher hat
sich niemand die Mühe gemacht, den Schutthaufen abzutragen. „Warum mussten
sie ausgerechnet einen Ort des Lernens vernichten?“ Muhammad Abdulhamid
blickt sich um. „Dabei war unsere Schule sogar registriert und genehmigt.“
6 Jan 2017
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## AUTOREN
Katrin Gänsler
## TAGS
Nigeria
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