# taz.de -- Kasachstan nach Nasarbajew: Die mit dem Plan B | |
> Nursultan Nasarbajew regiert Kasachstan seit über 25 Jahren. Bald, das | |
> spüren seine Landsleute, wird auch seine Herrschaft enden. Finden sie das | |
> gut? | |
Bild: In Astana kann man seine Hand in den goldenen Handabdruck des Präsidente… | |
ALMATY taz | Wenn etwas passiert. Dann. Wenn etwas passiert, dann bricht | |
hier das Chaos aus. Dann war’s das mit dem Frieden. Dann kommen die Russen | |
von Norden her oder die Chinesen aus dem Osten oder die Islamisten aus dem | |
Süden. Wenn etwas passiert, dann bin ich hier ganz schnell weg. Dann habe | |
ich einen Plan B. | |
So reden viele in Kasachstan, vor allem die Jungen, gut Ausgebildeten. Und | |
die Worte „Wenn etwas passiert“ sind zum Mantra geworden, das nur eines | |
heißt: Wenn der Präsident stirbt. | |
Der Präsident. So nennen sie ihn, sein Name muss nicht dazugesagt werden. | |
Nursultan Nasarbajew regiert Kasachstan seit 1990. Damals war Kasachstan | |
noch eine Sowjetrepublik, seit 1991 ist es unabhängig. Eine Generation ist | |
herangewachsen, die nur ihn als Staatsoberhaupt kennt. Nasarbajew ist der | |
einzige, der von den zentralasiatischen Diktatoren aus Sowjetzeiten noch | |
übrig ist. In Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan gab es schon | |
Machtwechsel. 2016 starb Islam Karimov, der Usbekistan 25 Jahre lang | |
regiert hatte. | |
Karimovs Tod kam plötzlich und wurde erst mal geheim gehalten. Seitdem wird | |
in Kasachstan die Gesundheit des Präsidenten noch intensiver beobachtet. | |
Im Oktober meldete Nasarbajews Pressesprecher, der Präsident sei wegen | |
einer Erkältung in Behandlung und könne eine Reise nach Aserbaidschan und | |
Armenien nicht antreten. Es war das erste Mal, dass Nasarbajews Gesundheit | |
offiziell zur Nachricht wurde. Was, wenn es mehr war als eine Erkältung? | |
Seit Jahren gibt es Gerüchte, der 76-Jährige habe Krebs. | |
Wenn man von Europa aus auf Kasachstan blickt, sieht man einen Diktator. | |
Einen, der die Leute nicht sagen lässt, was sie wollen. Der politische | |
Gegner einsperren lässt und sich am Geld bereichert, das durch das Öl ins | |
Land kommt. Auf 7 Milliarden US-Dollar wird das Vermögen seiner Familie | |
geschätzt. Im Dezember wurde ein Mann aus Aktobe, einer Stadt im | |
Nordwesten, wegen seiner Facebook-Posts zu drei Jahren Haft verurteilt. Er | |
hatte nicht einmal Nasarbajew selbst kritisiert, sondern dessen besten | |
Freund Wladimir Putin. Über den sagte Nasarbajew mal, sie seien einander | |
von Gott gegeben. Vor Kurzem haben sie sich in Kasachstans Hauptstadt | |
Astana gemeinsam einen Film angeschaut: Sowjetsoldaten bekämpfen die | |
deutschen Faschisten im Großen Vaterländischen Krieg. Russen und Kasachen | |
als Waffenbrüder. Dass die Geschichte historisch längst widerlegt ist, | |
interessierte keinen. Wichtig war die Botschaft: Wir gehören zusammen. | |
In Kasachstan sehen die Leute etwas anderes, auch die jungen, gut | |
ausgebildeten, die mit dem Plan B. Sie sehen einen klugen Staatsmann. | |
Einen, der die schwierige geografische Lage einzuschätzen weiß. Die | |
Großmächte Russland und China sind Nachbarn, Afghanistan im Süden ist auch | |
nicht weit. Nur er kann damit umgehen. Nasarbajew ist dann ein gütiger | |
Patriarch, dem das Volk am Herzen liegt. Und vor allem: einer, der ein | |
friedliches Zusammenleben der 130 Ethnien garantiert. Der den Nationalismus | |
der ethnischen Kasachen klein hält und die russische Minderheit verteidigt, | |
die früher mal eine Mehrheit war. Einer, der das mit Russland hinkriegen | |
kann. Das heißt: enge Freundschaft, aber trotzdem ein unabhängiger Weg. | |
„Ich weiß, dass ich in einer Diktatur lebe. Aber ich mag den Präsidenten. | |
Unter ihm wissen wir, wie was läuft und wie es laufen wird. Ich will nicht, | |
dass er geht“, sagt Anna Kupilowa an einem Novemberabend in ihrer Küche in | |
Almaty, der ehemaligen Hauptstadt im Süden Kasachstans. Kupilowa heißt | |
eigentlich anders. Sie ist vor Kurzem 28 geworden, hat ihr blondes Haar | |
nach hinten gebunden, die Lippen rot geschminkt. Sie schneidet Zwiebeln, | |
spricht schnell und mit hoher Stimme. „Man kann Kasachstan nicht mit | |
anderen Ländern vergleichen, wir haben eine spezielle Geschichte, waren | |
Teil der Sowjetunion, eines großen Imperiums.“ | |
## Kasachstan nur noch den Kasachen. Und die Russen? | |
„Unser Land ist sehr jung, wir müssen unsere Identität erst finden. Das ist | |
wie bei den Menschen. Was hat ein 25-jähriger Mensch schon erreicht?“, sagt | |
Aidana Zhantassova, die auch 25 ist, so alt ist wie das unabhängige | |
Kasachstan. Zhantassova ist ethnische Kasachin und wohnt mit Kupilowa und | |
deren Mann zusammen. Sie bereitet das Fleisch für den Beschbarmak vor, das | |
kasachische Nationalgericht. Zhantassova spricht leise und überlegt, sie | |
ist schüchterner als Kupilowa, die auch gern mal Anweisungen gibt oder mit | |
süßer Stimme Vorschläge macht, die Anweisungen sind. Das geht auf Russisch | |
besonders gut. | |
Küchengespräche, kuchonnye razgowory. Die Küche war in der Sowjetunion ein | |
heiliger Ort und ist es in den ehemaligen Republiken noch immer. Hier wird | |
nicht nur gegessen, sondern auch Tee oder Wodka getrunken. Stundenlang. | |
Dabei spricht man, oft über Politisches, so frei wie nirgends. | |
Die Heizung in Kupilowas Küche gibt Vollgas, ein Fenster steht offen. Nur | |
so lässt sich die Wärme regulieren. Von draußen kommt das Hupen der Autos | |
herein und der Geruch von Benzin, der aber bald von dem des Pferdefleisches | |
überdeckt wird. | |
„Ich liebe Kasachstan, aber ich merke auch, dass das Kasachstan, das ich | |
liebe, immer weiter verschwindet. Das macht mir Angst. Ich fühle mich immer | |
weniger als Teil dieser Gesellschaft“, sagt Kupilowa. | |
„Wirklich? Wieso?“, fragt ihre Mitbewohnerin Zhantassova. Die beiden | |
sprechen Russisch. Auch Zhantassova fühlt sich in dieser Sprache am | |
wohlsten, obwohl sie Kasachin ist. | |
„Ich habe immer mehr das Gefühl, dass dieses Land bald nur noch für die | |
Kasachen da sein wird. Vor zehn Jahren war das noch anders. So viele sind | |
schon weg. Die Deutschen sind fast alle weg, die Koreaner gehen auch nach | |
und nach. Viele Russen ziehen nach Russland. Die Städte sind leer. Und sie | |
werden aufgefüllt mit Leuten vom Land, die ungebildet sind und kein | |
Russisch mehr sprechen. Das klingt vielleicht versnobt und ich schäme mich, | |
das zu sagen. Aber mir macht das wirklich Angst.“ | |
Zhantassova schenkt Tee ein, der zweite Aufguss. Hin und wieder sieht sie | |
in den Topf, in dem das Fleisch kocht. „Ich glaube nicht, dass du Angst | |
haben musst. Die meisten sprechen immer noch Russisch oder verstehen es. | |
Wir Kasachen sind keine Nationalisten.“ | |
„89 Prozent der Erstklässler haben dieses Jahr ihre Schullaufbahn auf | |
Kasachisch angefangen.“ | |
„Was ist daran so schlimm?“ | |
„Es macht mir eben Sorgen“, sagt Kupilowa. „Die Kinder dieser Erstklässl… | |
werden bestimmt kein Russisch mehr sprechen.“ | |
„Ich weiß nicht, Anna. Ich finde, wir leben in einem toleranten Land“, sagt | |
Zhantassova leise. | |
## Diskriminierung oder einfach nur Gleichberechtigung? | |
Es ist das alte Phänomen: Die, die nicht von einer Diskriminierung | |
betroffen sind, wollen nicht einsehen, dass es sie gibt. Zhantassova stehen | |
als Kasachin, die sowohl Russisch als auch Kasachisch spricht, alle Türen | |
offen. Anna Kupilowa spricht nur schlecht Kasachisch. Ohne die Sprache und | |
vor allem ohne familiäre Beziehungen ist sie von manchen Bereichen | |
ausgeschlossen, zum Beispiel vom Staatsdienst. Nicht offiziell, aber | |
faktisch. | |
Es ist aber auch ein relativ neues Phänomen, das im Gespräch von den beiden | |
aufscheint: Die russische Kultur war während der Sowjetunion die | |
Leitkultur. Vor dem Zusammenbruch des Systems waren zwei Drittel der | |
Bevölkerung Russen, die Kasachen waren eine Minderheit im eigenen Land. | |
Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt, nur noch etwa 20 Prozent sind | |
ethnische Russen, die vor allem im Norden, entlang der russischen Grenze, | |
und in Zentralkasachstan leben. Viele sind ausgewandert, aus | |
wirtschaftlichen Gründen oder weil sie sich als Russen benachteiligt | |
fühlten. Sie haben ihren Plan B verwirklicht, die meisten in Russland. Die, | |
die geblieben sind, haben Angst. Vor Nationalisten, Islamisten, aber auch | |
vor dem Verlust ihrer Privilegien. | |
Früher war Russisch die Sprache Nummer eins, die der Gebildeten, der | |
Städter, der international denkenden Sowjets. Sowietski tschelowek, | |
„Sowjetmensch“, wird in Kasachstan von manchen noch immer als Bezeichnung | |
für einen modernen, weltoffenen Charakter verwendet. Kasachisch hingegen | |
galt lange als provinziell und war beinahe ausgestorben, als Kasachstan | |
unabhängig wurde. | |
„Nasarbajew ist fine mit Zweisprachigkeit“, sagt Kupilowa. Sie arbeitet in | |
Almaty bei einer britischen Organisation und mischt nach Feierabend | |
englische Wörter in ihr Russisch. „Anders als in den meisten Ex-Republiken | |
ist Russisch hier zweite Amtssprache. Das gibt es nicht mal in der Ukraine. | |
Aber was, wenn etwas passiert?“ | |
Wenn etwas passiert. Dann zieht Anna Kupilowa mit ihrem Mann nach Kanada. | |
Nach Russland wollen sie nicht. Bis zur Expo im Sommer dieses Jahres will | |
Kupilowa noch warten. Aber ihr erstes Kind will sie in einem anderen Land | |
bekommen, in spätestens zwei Jahren. | |
Sprache ist politisch, für jeden ein Thema. Es ist leichter, darüber zu | |
reden als über Korruption, die Wirtschaftskrise, das Fehlen einer | |
Opposition. Nursultan Nasarbajew weiß das. Wenn der Präsident zu seinem | |
Volk spricht, dann immer auf Kasachisch und auf Russisch. In dieser | |
Reihenfolge. „Er setzt unterschiedliche Akzente“, sagt Dosym Satpaev, | |
Politikwissenschaftler, Theaterautor und einer der bekanntesten | |
Intellektuellen des Landes. Er sitzt in einem der vielen Cafés Almatys. Es | |
läuft Lounge-Musik, aus dem Fenster sieht man die Berge des Tien-Shan. „Auf | |
Russisch redet der Präsident sehr pragmatisch: über Wirtschaft, | |
Außenpolitik, Fakten. Auf Kasachisch ist er viel emotionaler, poetischer | |
und auch patriotischer. Das ist ein Drahtseilakt. Er muss es den Russen | |
recht machen, aber auch den kasachischen Nationalisten.“ | |
Nasarbajew betont bei jeder Gelegenheit, wie multikulturell sein Land sei | |
und dass das so bleiben solle. Alle Schilder sind zweisprachig, alle | |
Dokumente. Trotzdem wächst der Druck. Es sind Alltagssituationen, von denen | |
die Leute erzählen: aggressive Kommentare auf der Straße, weil man jemanden | |
auf Russisch anstatt auf Kasachisch angesprochen hat. Schikanen vonseiten | |
der Polizei oder anderer Beamter. Man muss immer jemanden kennen, mit den | |
Richtigen verwandt sein. Als Russe aber hast du keine Brüder oder Onkel bei | |
der Polizei. Und die weiß das. | |
Es gibt aber auch strukturelle Veränderungen: Der Russischunterricht an den | |
Schulen wurde gekürzt, Fernsehsendungen in russischer Sprache sind seltener | |
geworden. Bis 2020 sollen 95 Prozent der Bevölkerung Kasachisch sprechen, | |
das ist der Plan der Regierung. Für die einen ist es Diskriminierung, für | |
die anderen Gleichberechtigung. | |
## Auf den richtigen Moment setzen, wie in einem Spiel | |
In einem Interview im kasachischen Fernsehen sagte Nasarbajew 2014: „Wir | |
haben viel für die Entwicklung der kasachischen Sprache getan. Kasachisch | |
ist unserer Verfassung nach die erste Amtssprache. Niemand wird mehr daran | |
gehindert, sie zu sprechen. Aber wir dürfen auch andere Sprachen nicht | |
einschränken. Ansonsten wird das hier eine zweite Ukraine. Bei | |
Sprachpolitik muss man sehr vorsichtig sein.“ | |
Eine zweite Ukraine, ein gespaltenes Land, in dem sich eine Seite Russland | |
zuwendet. Das ist eines der Szenarien, das sie hier fürchten. Nasarbajew | |
bestraft separatistische Aufrufe mit bis zu zehn Jahren Haft. Kasachen, die | |
in der Ostukraine gekämpft haben, landen im Gefängnis. 2015 hat er den | |
ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko eingeladen und engere | |
Handelsbeziehungen mit ihm vereinbart. Gleichzeitig bezeichnet er die | |
Maidan-Revolution als faschistisch. Wahrscheinlich, um Putin nicht zu | |
verärgern. | |
„Auch hier besteht das Risiko, dass Separatisten stark werden“, sagt Dosym | |
Satpaev. Er leitet die Nichtregierungsorganisation „Risk Assessment Group“ | |
in Almaty, Risikobewertung ist sein Job. „Im Norden könnte leicht eine | |
Volksarmee entstehen, eine Bewegung, die fordert, ein Teil Russlands zu | |
werden. Das könnte dann passieren, wenn die Regierung nach Nasarbajew ihre | |
Russlandpolitik ändert und zum Beispiel aus der Eurasischen Union austreten | |
will.“ Satpaev gilt als Regierungskritiker und hat ein Buch herausgebracht, | |
Titel: „Was wird aus Kasachstan nach Nasarbajew?“ | |
Um separatistische Ambitionen im Norden des Landes, der vor allem von | |
ethnischen Russen oder russischsprachigen Kasachen bewohnt wird, zu | |
unterbinden, hat Nasarbajew eine neue Hauptstadt gebaut. Astana liegt | |
mitten in der Steppe, in einem Gebiet, in dem vorher nur wenige Kasachen | |
lebten. Stararchitekten durften sich dort mit Prunkbauten verewigen. Alles | |
glänzt und spiegelt. Im Baijterek-Turm, dem Wahrzeichen der Stadt, das | |
Norman Foster nach einem Entwurf des Präsidenten gebaut haben soll, darf | |
jeder Besucher seine Hand in einen goldenen Handabdruck des Präsidenten | |
legen. Astana, seit 1997 Hauptstadt, ist eine Beamtenstadt, dort leben | |
viele regierungstreue Kasachen, die Kasachisch sprechen. | |
„Besonders in Astana spüre ich diese Diskriminierung. Die Leute tun so, als | |
würden sie mich nicht verstehen“, sagt Anna Kupilowa. | |
Der Beschbarmak ist fertig. Dazu gibt es Cola. „Meine Mutter wohnt da in | |
der Nähe. Ich will, dass sie und mein Bruder so schnell wie möglich dort | |
wegkommen.“ Kupilowas Familie lebt zwei Stunden entfernt von Astana. Die | |
Mutter renoviert gerade ihre Wohnung, um sie zu verkaufen. „Das ist wie ein | |
Spiel“, sagt Kupilowa. „Man muss den richtigen Moment abpassen, um seine | |
Sachen noch loszuwerden.“ | |
„Astana“ bedeutet übersetzt „Hauptstadt“. Manche glauben, das sei nur … | |
Platzhalter. Zuletzt hat ein Parlamentarier vorgeschlagen, die Stadt nach | |
dem Präsidenten zu benennen. Es sind Zeichen, die von manchen gedeutet | |
werden als: Bald passiert etwas. Bald ist er weg. | |
Nasarbajews größte Aufgabe war es, eine Nation zu schaffen und Russland | |
nicht zu verärgern. Für die ethnische Balance startete er ein | |
Repatriierungsprogramm und siedelte die Oralman – die Rückkehrer, die vor | |
den Sowjets nach Usbekistan, China und in die Mongolei geflohen waren – | |
im Norden an, obwohl es ihnen dort viel schwerer fiel, sich zu integrieren. | |
Nation-Building ist Symbolpolitik. Die Leninstraßen und -plätze wurden | |
längst nach kasachischen Helden benannt, die sowjetischen Denkmäler aus den | |
Stadtzentren entfernt. | |
2014, nur wenige Wochen nach der Annexion der Krim, sagte Wladimir Putin in | |
einem Interview, dass Kasachstan vor 1991 nie ein eigener Staat war. Kurz | |
darauf gab Nasarbajew bekannt, dass 2015 das 550-jährige Jubiläum des | |
kasachischen Khanats gefeiert würde, einer Art Stammesföderation. Obwohl, | |
das gab Nasarbajew zu, „das Khanat vielleicht kein Staat im modernen | |
Verständnis des Wortes war“. 2016 stand dann das 1.000-jährige Jubiläum der | |
Stadt Almaty an. Überall ist seitdem die 1.000 zu lesen. Viele Almatiner | |
belächeln das und sagen, man müsste eine Null streichen. | |
Ebenfalls 2016 beschloss Nasarbajew, dass die Armee Kasachstans nicht mehr | |
im Stechschritt marschieren sollte, so wie es die Russen tun. Die | |
kasachische Armee soll nun nur noch 95 bis 105 Schritte pro Minute gehen | |
und den Fuß nur noch 10 bis 15 Zentimeter vom Boden abheben. Die Russen | |
gehen 120 Schritte pro Minute und heben ihr gestrecktes Bein etwa 80 | |
Zentimeter an. Ein weiteres Zeichen, das es zu lesen gilt. Estland, | |
Georgien und die Ukraine haben ihren Marsch geändert, als sie sich von | |
Russland entfernten. | |
Gleichzeitig schwört Nasarbajew auf Russland als wichtigsten Partner und | |
auf die Eurasische Union, die 2014 von Russland, Kasachstan und | |
Weißrussland gegründet wurde und zu der inzwischen auch Armenien und | |
Kirgistan gehören. Diese Länder bilden nun einen Binnenmarkt, Vorbild ist | |
die EU. | |
Dosym Satpaev, lässig zurückgelehnt und den Cappuccino in der rechten Hand, | |
sagt: „Wer will ein enges Verhältnis mit Russland? Die Russen. Wer ist | |
dagegen? Die Kasachen, vor allem die, die Kasachisch sprechen. Die | |
Kasachen, die Russisch sprechen, nehmen oft eine prorussische Position ein, | |
weil sie russisches Fernsehen gucken. Der Einfluss Russlands ist zu groß. | |
Deswegen wächst der Patriotismus hier. Und in Zukunft wird es bestimmt | |
Politiker geben, die die Patriotismuskarte spielen wollen.“ | |
Für die Zukunft seines Landes sieht Satpaev zwei Möglichkeiten, „eine | |
schlechte und eine noch schlechtere“. Das erste Szenario: Es geht weiter | |
wie gehabt, Nasarbajew bereitet seine Nachfolge vor, es bleibt friedlich, | |
ähnlich wie in Usbekistan – „Stabilität durch Stillstand“ nennt Satpaev | |
das. „Stabilität ist gut, aber sie sollte durch Entwicklung kommen.“ Das | |
zweite Szenario: Die Elite spaltet sich in patriotisch und prorussisch, und | |
dieser Konflikt überträgt sich noch stärker auf die Gesellschaft. „So wie | |
in der Ukraine.“ | |
Wer in Kasachstan über Politik spricht, spricht zurzeit auch immer über die | |
Ukraine und Usbekistan. Was kann man aus diesen Umbrüchen lernen? | |
## Der Präsident will bleiben. 2020 wird wieder gewählt | |
„Meine Freunde und ich haben so für die Ukraine gehofft“, sagt Anna | |
Kupilowa beim Essen. „Aber dann haben sie einen komischen Typen durch einen | |
anderen ersetzt.“ | |
„Es wird auch nach Nasarbajew keine freien Wahlen geben“, sagt ihre | |
Mitbewohnerin Aidana Zhantassova. „Dafür sind die Leute hier noch nicht | |
bereit, ihre Mentalität ist noch immer sowjetisch.“ | |
„Das stimmt. Wem so lange vorgeschrieben wurde, wohin er gehen soll, was er | |
anziehen soll und in welchem Topf er seinen Borschtsch kochen soll, kann | |
nicht plötzlich zum Demokraten werden. Als ich nach meinem Studium in | |
Spanien zurückkam, hatte ich patriotische Gefühle für Kasachstan. Ich | |
dachte: Das ist meine Heimat, hier muss ich etwas verändern. Ich habe sogar | |
einen Kasachischkurs belegt. Aber jetzt glaube ich, dass alles nur | |
schlimmer wird.“ | |
„Und sprichst du manchmal Kasachisch?“ | |
„Ich würde gern“, sagt Kupilowa. „Wenn, dann spreche ich nur Kasachen an, | |
keine Russen. Aber die sind oft beleidigt. Sie denken, ich, die Russin, | |
halte sie für ungebildet.“ | |
2015 wurde Nursultan Nasarbajew das letzte Mal wiedergewählt, mit 98 | |
Prozent der Stimmen. Kupilowa und Zhantassova waren nicht wählen. „Keiner | |
von unseren Freunden macht das“, sagt Zhantassova. | |
Nasarbajew ist „Führer der Nation“, er darf so oft wiedergewählt werden, | |
wie er will. In einem Interview im November sagte er, die Nachfolge sei in | |
der Verfassung geregelt, seine Tochter sehe er nicht als Präsidentin. Und: | |
„Wir sehen uns 2020 wieder.“ Dann ist die nächste Wahl. Wenn nichts | |
passiert. | |
22 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Viktoria Morasch | |
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