# taz.de -- Solidarität unter Unterdrückten: Das schönste Gefühl der Welt | |
> Klassenkampf und Minderheitenschutz gehören zusammen. Der | |
> Gerechtigkeitssinn der Menschen kann sie zusammenführen. | |
Bild: In dem Film „Pride“ wird schon einmal vorgeführt wie man es richtig … | |
Der fast weltweite Rechtsruck macht Angst. Die Trumps, Le Pens und Petrys | |
haben dabei auch noch einen entscheidenden Vorteil, so scheint es: Sie | |
müssen sich nicht groß um Argumente scheren. Ihnen reichen Gefühle. | |
Aber hier ist die gute Nachricht: Das schönste Gefühl der Welt ist auf | |
unserer Seite. Das möchte ich an einem Film aufzeigen. Der Film heißt | |
„Pride“. Er ist preisgekrönt, erschien 2014 und erzählt eine wahre | |
Begebenheit. Während der Bergarbeiterstreiks im Großbritannien der 1980er | |
Jahre solidarisierte sich eine Gruppe namens Lesbians and Gays Support the | |
Miners (LGSM) mit den Streikenden. Das passte natürlich nicht, und es kam | |
zu einer Menge Spannungen, vor allem aufseiten der Minenarbeiter. Von den | |
„Gays“ wollte man sich nicht helfen lassen. | |
Diese Trennung wurde aber so effektiv überwunden, dass im Sommer 1985 | |
Bergarbeiter aus Südwales gemeinsam mit Schwulen und Lesben die Gay Pride | |
Parade anführten. Außerdem verpflichtete sich die Labour Party mit Hilfe | |
der Bergarbeiterstimmen im selben Jahr dazu, die Gleichstellung von Lesben, | |
Schwulen, Bi- und Transsexuellen (LGBT) zu fördern. | |
Wie konnte das sein, wo doch zu Anfang viele dieser „einfachen Leute“ die | |
„Homos“ als abstoßend empfanden und auch auf der anderen Seite die | |
Ressentiments gegen die „Prolls“, wie man in Deutschland sagen würde, groß | |
waren? Ein Abgeordneter der Miner gibt dazu bei einer, im Film | |
dargestellten Rede die Antwort: Das schönste Gefühl der Welt ist es, gegen | |
einen übermächtigen Feind zu kämpfen und dann von unerwarteter Seite | |
Solidarität zu erfahren. | |
## Die Mauern niederreißen | |
Das schönste Gefühl der Welt kann nur leugnen, wer Solidarität in dieser | |
Form noch nie erfahren hat. Dieses Gefühl kann alle Mauern niederreißen. | |
Das zeigt uns die Geschichte der LGSM. | |
Umgekehrt ist eine antisolidarische Haltung wesentlich mit schuld an der | |
Misere, in der wir gerade stecken. Das zeigt sich deutlich am Beispiel der | |
neoliberalen Politik der Demokratischen Partei in den USA. Da wurde der | |
Kampf gegen Diskriminierung vom Kampf für soziale Gerechtigkeit abgetrennt. | |
Der Philosoph Slavoj Žižek zeigt das exemplarisch am Beispiel von | |
Apple-Chef Tim Cook. Der unterschrieb ganz stolz einen Pro-LGBT-Brief, | |
während Abertausende von Menschen in China zu sklavischen Bedingungen | |
Apple-Produkte herstellen und während es dem Großteil der arbeitenden | |
Menschen in den USA immer schlechter geht. | |
Das entspricht voll und ganz dem neoliberalen Credo: Du kannst nach oben | |
kommen, egal woher du kommst. Ob du „schwarz“ oder schwul bist, oder ob du | |
ein Zwischengeschlecht hast. Hauptsache, du strengst dich an. Das heißt | |
aber umgekehrt auch, wer nicht nach oben kommt, also unten bleibt, der ist | |
selbst schuld, weil sie oder er sich nicht genügend angestrengt hat. Armut | |
müsste insofern auch nicht bekämpft werden. Man hat es sich ja angeblich | |
selbst ausgesucht. Das stimmt natürlich nicht. Dahinter steckt eine | |
verkümmerte Vorstellung von Menschsein und freiem Willen. Auf der Basis | |
dieser dummen und antisolidarischen Politik ist die USA in den letzten | |
Jahrzehnten deutlich ungerechter geworden. Auch der „schwarzen“ Bevölkerung | |
geht es im Verhältnis schlechter. | |
Ist es also sinnvoll, zurückzurudern? Den noch lange nicht vollendeten | |
Kampf für die Rechte von Minderheiten sausen zu lassen und sich auf die | |
„einfachen Leute“ zu konzentrieren, wie es gerade von überall her heißt? | |
Beispielsweise schimpft der traditionell-linke Flügel der Linkspartei (man | |
könnte ihn auch die Wagenknecht-Fraktion nennen), dass die Politik mehr Rot | |
brauche, und weniger Rosa, mehr Klassenkampf, weniger Regenbogenpolitik. | |
Das ist aber „nicht logisch“, wie in „Pride“ von Mark Ashton, der | |
charismatischen Figur hinter LGSM erklärt wird: Es ist nicht logisch, wenn | |
Arbeiter und Schwule und Frauen jeweils nur für sich kämpfen. Auch das ist | |
antisolidarisch. | |
## Die Romantik des „einfachen Volks“ | |
Viele Linke romantisieren das „einfache Volk“. Moderne Gesellschaften sind | |
aber nicht gemacht wie ein mittelalterliches Dorf, in dem (angeblich) das | |
„einfache Volk“ den Herrschenden in gewaltiger Mehrheit gegenüberstand und | |
diese einfach nur abschütteln musste. | |
Moderne Gesellschaften werden durch die Regenbogenfahne viel adäquater | |
gespiegelt: 43 Prozent der jungen Deutschen erlangen die Hochschulreife, 17 | |
Millionen haben einen Migrationshintergrund, die Meinungen und Lebensweisen | |
sind ungeheuer breit gefächert. Und wie die Diskussionen zwischen den | |
„einfachen Leuten“ im Film (und in der Wirklichkeit) zeigen, sind die | |
„einfachen Leute“ überhaupt nicht so einfach. Auch bei den scheinbar | |
einfachen Menschen bricht sich der Regenbogen, und das ist sehr gut so. | |
Dasselbe gilt für „die Arbeiterklasse“, die angeblich nur den Klassenkampf | |
ordentlich vorantreiben müsse, um letztendlich zum Licht zu finden. Hinter | |
dem damit verbundenen „Klassenkampf“ steckt die Vorstellung, dass es klar | |
zuweisbare Klassen mit jeweils eindeutigen Interessen gebe. | |
Das Konzept von Klassen und Klassenkampf ist wichtig, weil es zeigt, dass | |
es gesellschaftliche Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse gibt. Die | |
sind allerdings bei genauem Hinschauen deutlich komplexer, als es die | |
klassische Zweiteilung Arbeiterklasse vs. Kapitalisten erscheinen lässt. | |
Selbst ungelernte Fabrikarbeiter in Deutschland, die klassischen | |
Proletarier, gehören weltweit gesehen quasi zur Bourgeoisie, denn sie leben | |
auch von der Arbeit der Menschen in ärmeren Ländern, die für einen unfairen | |
Lohn Bananen für sie pflücken und Handys zusammenbauen und ihre | |
Telefonanrufe übernehmen. | |
## Die Ausbeutung der Frauen | |
Frauen werden wiederum global gesehen sowohl vom Kapital als auch Männern | |
ausgebeutet. Sie sind quasi die Arbeiterklasse der Arbeiterklasse. Und da | |
beginnen wir noch gar nicht darüber nachzudenken, wohin die „Mittelschicht“ | |
gehört und welche Interessen sie hat. | |
Konzepte, die nur mit Interessen rechnen, sind sehr ungenau, und sie sind | |
gefährlich, weil sie so tun, als könne man Geschichte wie einen Mechanismus | |
betrachten. So hat die „Arbeiterklasse“ auch schon früher niemals | |
einheitlich kommunistisch gewählt, wie es zumindest nach der Theorie in | |
ihrem Interesse gewesen wäre, sondern christlich, sozialdemokratisch, | |
kommunistisch, faschistisch oder gar nicht. Selbstverständlich spielen | |
gemeinsame Interessen eine wichtige Rolle. Doch Menschen haben nicht nur | |
Interessen, sondern auch einen Gerechtigkeitssinn und Vorstellungen und | |
Ideen. | |
Das beste Beispiel dafür ist, dass in den letzten Jahrzehnten fast | |
widerspruchsfrei eine neoliberale Politik zugelassen wurde, die einem | |
Großteil der Menschen deutlich schlechtere Arbeits- und Lebensbedingungen | |
verschafft haben. Man glaubte, das müsse eben so sein. Auch derzeit erleben | |
wir, welche Rolle „Echokammern“ spielen, in denen Menschen nur noch die | |
eigene Perspektive wahrnehmen und nichts anderes. | |
## Der Trick | |
Einfach mal den populären Zorn oder den Klassenkampf anzurufen, ist | |
insofern verkehrt. Aber was bleibt dann? Es ist gar nicht so kompliziert: | |
Nicht das „einfache Volk“ muss angesprochen werden, sondern die vielen | |
Verschiedenen und ihr Sinn für Gerechtigkeit, Solidarität und ihre | |
Interessen. Der Trick (eigentlich der des Theoretikers John Rawls) ist, | |
sich die Welt vorzustellen, als könne man jederzeit an jede Stelle | |
hineingeboren werden. | |
In dieser Welt ist es dann abzulehnen, wenn „schwul“ ein Schimpfwort ist | |
und wenn Homosexuelle sich verstecken sollen. Eine Weltordnung, in der ich | |
zufällig in eine chinesische Provinz hineingeboren werden könnte und dazu | |
gezwungen sein könnte, 60 Stunden die Woche in einem Sweatshop schwitzen | |
und leiden zu müssen, nur um meiner Familie eine bessere Zukunft zu | |
ermöglichen, ist falsch. Und wenn auch in Deutschland Menschen, die ihr | |
ganzes Leben lang gearbeitet haben, am Ende nicht von ihrer Rente würdevoll | |
leben können, ist das mit Inbrunst abzulehnen. Klassenkampf und der Kampf | |
gegen Diskriminierung sind logisch nur gemeinsam sinnvoll. | |
Wer das schönste Gefühl der Welt nicht kennt, der sollte dringend sein | |
Leben ändern. Ein Anfang wäre, den Film „Pride“ zu sehen. Solidarität l�… | |
sich konkret im Alltag erleben und in der Weltpolitik. Auch in Deutschland | |
ist die Willkommenskultur ein starkes Beispiel, das auch für die Zukunft | |
den Boden für Gutes gelegt hat. Und da Symbole wichtig sind, habe ich schon | |
mal eine Fahne entworfen, die den Kampf für Minderheitenrechte und den für | |
soziale Gerechtigkeit auch optisch zusammenbringt. | |
23 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Houssam Hamade | |
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