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# taz.de -- Attentat am Berliner Breitscheidplatz: Weihnachten findet statt
> In den Tagen nach dem Anschlag wird immer klarer, dass wir noch nicht die
> richtige Sprache gefunden haben für die Veränderungen der Gegenwart.
Bild: Schweigen, wo man keine Worte findet
Eine kleine Überschrift in dieser Zeitung verkündete am vergangenen
Montagmorgen Folgendes: „Berlin atmet auf: Weihnachten findet statt“.
Wenige Stunden später steuerte ein Mann einen offenbar gekaperten Lastwagen
in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Zwölf Menschen sterben, fünfzig
werden teils schwer verletzt. In vielen großen Städten Europas hatte es in
den vergangenen Monaten und Jahren ähnliche Anschläge geben. Nun also auch
in Berlin.
Für einige Berliner fällt Weihnachten an diesem Samstag deswegen aus. Für
andere ist es nicht mehr das fröhliche Fest, als das es geplant war. Was
nichts daran ändert, dass Weihnachten stattfindet. Aber es ist anders
dieses Jahr, hier in Berlin.
Nur: Was genau ist anders? Es fällt schwer, das zu beschreiben.
## Entsetzt, geschockt, verunsichert, alarmiert
Das liegt daran, dass jede und jeder anders auf den Anschlag am Montagabend
reagiert hat. Viele Berliner waren entsetzt, geschockt, verunsichert,
alarmiert. Für andere hingegen ist zum Beispiel Paris gefühlt näher als der
Breitscheidplatz – sie waren angesichts früherer, noch schrecklicherer
Vorfälle, die es dort gab, diesmal weniger betroffen. Wieder andere nahmen
den Anschlag fast mit einer gewissen Routine auf: Es war ja weithin damit
gerechnet worden, dass irgendwann auch Berlin getroffen sein wird.
Dass es schwierig zu beschreiben ist, liegt auch an der Sprache selbst: Wir
haben offensichtlich noch nicht die richtige gefunden. Nicht, dass uns die
Worte fehlen. Aber sie treffen nicht den Kern der Sache.
Ein Beispiel: Alle Politiker, die sich zu Wort meldeten, äußerten ihre
Betroffenheit und dass sie in Gedanken bei den Angehörigen der Opfer seien.
Das entspricht der Gepflogenheit, und es ist ein schönes und auch ein
wichtiges Zeichen – aber ist kein besonderes. Es sind Sätze, wie sie nach
vielen Ereignissen fallen. Ähnlich verhält es sich mit den Appellen, jetzt
nicht in Schutzreflexe zu verfallen und nicht die offene, tolerante
Gesellschaft – schon gar nicht die in Berlin – infrage zu stellen. Sich
also nicht freiwillig einzuschränken.
Auch hier handelt es sich um Phrasen, die vielleicht nicht abgedroschen,
aber nach den vielen Anschlägen in letzter Zeit zumindest verbraucht
wirken. Was auch nicht heißt, dass sie nicht geäußert werden müssten. Aber
sie allein sind zu wenig.
## Keine Angst haben müssen
Andere Phrasen sind völlig übertrieben: Wer jetzt von einem Krieg redet, in
dem wir uns angeblich befinden, an dem wir uns vielleicht sogar aktiv
beteiligen sollten, ignoriert damit vollständig die Lage in Regionen wie
Syrien, dem Irak, Afghanistan.
Am Mittwoch erklärte der Regierende Bürgermeister Michael Müller, wir
brauchten „keine Angst“ zu haben, obwohl die Polizei zu diesem Zeitpunkt
noch keinen Täter gefasst hatte. Der Regierende griff damit die große
Überschrift einer großen Boulevardzeitung auf und verbreitete den Begriff
damit natürlich weiter. Nun ist Angst der Gegner jeder demokratischen
Regierung, die ihre Legitimität unter anderem daraus bezieht, dass ihre
Wähler keine Angst haben müssen, sich frei zu bewegen oder sich frei zu
äußern.
Aber natürlich waren Menschen nach dem Montagabend besorgt, ängstlich. Und
natürlich sind die Berliner Teil, manche leider sogar Opfer einer globalen
Auseinandersetzung mit Waffengewalt geworden.
Diese Auseinandersetzung schließt uns auch deswegen ein, weil die Welt
enger zusammenrückt – die sogenannte Globalisierung also. Dazu gehört zum
Beispiel, dass einem Tausende Kilometer entfernte Städte oder Landstriche
näher sein können als der Nachbarbezirk. Oder der starke Anstieg der
Flüchtlingszahlen im vergangenen Jahr: Auch danach haben wir lange
gebraucht, bis wir eine dem Phänomen angemessene Sprache gefunden haben.
Was letzten Endes wiederum ein Beleg dafür ist, dass viele Menschen noch
nicht verstanden haben, dass die Welt enger zusammenrückt und wie.
## Über Veränderungen reden
Das ist kein Vorwurf: Solch grundlegende Veränderungen zu begreifen braucht
Zeit. Manchmal viel Zeit. Und nicht allen gelingt es am Ende. Allerdings
dauert das Verstehen noch länger, wenn jene, die es bereits begriffen
haben, das nicht auch ausdrücken, nicht darüber sprechen. Politiker etwa,
die eine Großstadt regieren. Eine Stadt wie Berlin.
Es geht nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz auch darum, mehr über
die sich verändernde Stadt, das sich verändernde Land, die sich verändernde
Welt zu reden – im Großen wie im Kleinen, also mit Freunden oder der
Familie. Da bieten das heutige Fest und die folgenden Feiertage eine gute
Gelegenheit. Wenn das passiert, stimmt unsere Überschrift vom Montagmorgen
vor dem Anschlag letztlich doch: „Berlin atmet auf: Weihnachten findet
statt“. Frohes Fest!
24 Dec 2016
## AUTOREN
Bert Schulz
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