# taz.de -- Gedanken zur Willkür: Niemand kann sicher sein | |
> Beim Anschlag in Berlin hätte unser Autor fast einen Freund verloren. Er | |
> ist jetzt noch überzeugter davon, dass das Leben von Zufällen abhängt. | |
Bild: Der Freund unseres Autors wurde bei dem Anschlag nur leicht verletzt | |
Ein Freund, der am 19. Dezember auf dem Breitscheidplatz in Berlin war, | |
schrieb: „Ich kann nicht erklären, was passiert ist.“ | |
An dem Abend sahen mein Mann und ich uns Pina Bauschs „Palermo, Palermo“ im | |
Haus der Berliner Festspiele an. Als eine bewaffnete Frau mit Strumpfmaske | |
die Bühne betrat, verließen immer mehr Zuschauer den Saal. Hatten sie sich | |
von der Waffe der Frau auf der Bühne verstören lassen? | |
Am Ende der Darbietung, als sich die Schauspieler gerade von Applaus | |
begleitet verbeugten, tauchte der Leiter des Festspielhauses auf der Bühne | |
auf. Er verkündete dem Publikum, was auf dem Breitscheidplatz passiert war. | |
Im Foyer sah ich auf mein Handy: Ich hatte zig Nachrichten auf | |
verschiedenen Apps. Alle wollten wissen, ob es mir gut ging. | |
## Die, die nicht „in Sicherheit“ waren | |
Aber was bedeutet es in diesen Zeiten schon, dass es einem gut geht? Mein | |
Ehemann markierte uns auf Facebook als „in Sicherheit“. Aber was bedeutet | |
es in diesen Zeiten schon, dass man in Sicherheit ist? | |
Sicher – unsere Bekannten waren erleichtert, dass es uns „gut ging“. Dass | |
wir „in Sicherheit“ waren. Ich dagegen konnte nicht aufhören, über die | |
nachzudenken, die wir nicht kannten. Über die, denen es nicht „gut ging“ | |
und die nicht „in Sicherheit“ waren. Zählen deren Leben denn weniger – n… | |
weil wir sie nicht kennen? Diese Fragen hatte ich im Kopf, als wir uns auf | |
den Heimweg machten. | |
Wir wussten nicht, was uns draußen erwartete. Der Anschlag war nicht allzu | |
weit weg gewesen. Wir kamen am Kurfürstendamm vorbei, dessen | |
Weihnachtsbeleuchtung wir so gern mögen. | |
Die umliegenden Straßen waren von Polizisten versperrt, die | |
Maschinengewehre trugen. Einen von ihnen fragten wir, ob der Bahnhof Zoo | |
geöffnet sei. War er. Allerdings mussten wir einen Umweg nehmen. Am Bahnhof | |
Zoo angekommen, trafen wir auf noch mehr schwer bewaffnete Polizisten und | |
fuhren mit der S-Bahn nach Hause. | |
## Andere hatten weniger Glück | |
Erst am nächsten Morgen erfuhr ich, dass ein Freund bei dem Anschlag | |
verletzt worden war. Sein Ehemann hatte mir eine E-Mail geschrieben. Es | |
ging ihm gut, er war nur an der Hand verletzt. Aber anderen, mit denen er | |
auf dem Weihnachtsmarkt war, nicht. Einer seiner Freunde war getötet | |
worden. Und ein Tourist, mit dem sich die Gruppe beim Glühweintrinken | |
unterhalten hatte. Zwei weitere aus der Gruppe waren schwer verletzt. | |
Irgendjemand hatte meinen Freund aus den Trümmern befreit. Ein Polizist | |
riet ihm, sich ein Taxi zum nächsten Krankenhaus zu nehmen. Andere seien | |
schwerer verletzt und bräuchten dringender Hilfe. Im Taxi rief mein Freund | |
seinen Mann an, den er dann im Krankenhaus traf. | |
Der schrieb mir, wie glücklich er sei, seinen Partner – mit Ausnahme der | |
verletzten Hand – unversehrt zu wissen, und dass er ihn rechtzeitig zu | |
Weihnachten und Silvester wieder bei sich haben würde. Ganz außer sich | |
schrieb er von den vielen Schutzengeln, die seinen Mann unter den Trümmern | |
des zerstörten Weihnachtsmarktes gefunden und ihm im Krankenhaus geholfen | |
hätten. | |
Klar war der Mann meines Freundes glücklich darüber, dass sein Partner noch | |
am Leben war. Mein Freund ist einer der liebenswürdigsten, freundlichsten | |
und geselligsten Menschen, die ich kennengelernt habe, seit ich nach Berlin | |
gezogen bin. Die Geschichte, wie er und sein Ehemann sich bei einem Konzert | |
in der Philharmonie kennengelernt haben, gehört zu den schönsten | |
Liebesgeschichten, die ich kenne. | |
## Liebe und Tod | |
Aber was ist mit den anderen, die weniger Glück hatten? Vielleicht waren es | |
wirklich Schutzengel, die am Abend des 19. Dezember über meinen Freund | |
gewacht haben. Aber offensichtlich gibt es nicht genug solcher Schutzengel, | |
um alle Menschen dieser Welt zu beschützen. | |
Die Willkür, die mit diesem Ereignis verbunden ist, macht mich fertig. Ein | |
Bekannter erzählte mir, dass er mit seiner Enkeltochter eine Stunde vor dem | |
Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt war. Mein Mann und ich schwören auf die | |
Kartoffelpuffer von einem Stand, der nicht weit entfernt ist von der | |
Stelle, an der der Lkw in die Menschenmenge fuhr. Was passiert ist, war | |
genauso willkürlich wie die Begegnung meines Freundes mit seiner großen | |
Liebe in der Philharmonie. | |
Verlust ist mir nicht fremd. Ich habe die Anfänge der Aids-Epidemie erlebt, | |
als viele meiner Freunde starben. Auch mein Exfeund. Ein anderer Freund | |
starb mit 55 an einem Herzinfarkt, ein weiterer mit 39 an Krebs. | |
## Eine andere Zeit, ein anderer Ort | |
Ich bin in New York aufgewachsen, wo ich auch lebte. Nach dem 11. September | |
hörte ich Leute dauernd sagen, dass sich die Welt seit den Anschlägen | |
verändert habe und dass wir nicht länger in Sicherheit seien. Als | |
behinderter, schwuler, jüdischer Mann habe ich mich noch nie sicher | |
gefühlt. Ich fühlte mich immer verwundbar. | |
In den letzten drei Jahren habe ich einige Zeit mit Toten verbracht. Als | |
Teil einer Recherche für mein Buch bin ich an sechs Orte gefahren, an denen | |
Behinderte im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nazis, „Aktion T4“, | |
umgebracht wurden. Wäre ich an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit zur | |
Welt gekommen, hätte man auch mich als „unwertes Leben“ betrachtet und | |
umgebracht. | |
Früher habe ich oft nach einer Erklärung gesucht, warum ich mit einer | |
Behinderung zur Welt kam, für die es keine medizinische Erklärung gibt. | |
Schon seit einiger Zeit suche ich nicht mehr. Und dennoch bin ich immer | |
wieder überwältigt von der Bedeutung, die die Willkür im Leben spielt. | |
## Niemand ist sicher | |
Aber, verstärkt durch meine Besuche in den T4-Stätten, habe ich gelernt, | |
dass eines nicht willkürlich ist: Erinnerung. Einige werden sich erinnern, | |
indem sie Politiker zur Verantwortung ziehen – manche haben das bereits | |
getan. Andere werden ganze Bevölkerungsgruppen beschuldigen, die sie als | |
„anders“ einstufen. Einige werden den Abend des 19. Dezember als Abend | |
erinnern, seitdem sie sich in Berlin nicht mehr sicher fühlen. Andere | |
werden sich an gar nichts erinnern. | |
Ich erinnere mich daran, dass das Leben keine Sicherheit garantiert. | |
Niemand ist sicher vor willkürlichen Ereignissen wie Erdbeben, | |
Virusepidemien oder Anschlägen auf einen Weihnachtsmarkt durch einen | |
Sattelschlepper. Und ich werde mich an die Willkür erinnern, der mein | |
Freund zu verdanken hat, dass er noch am Leben ist, zwei seiner Begleiter | |
aber nicht mehr. | |
Vor fast dreißig Jahren stellte Pina Bausch eine Frau mit Strumpfmaske und | |
Gewehr auf die Bühne. Damals konnte sie nicht ahnen, wie verstörend deren | |
Anblick für das Publikum am Abend des 19. Dezember sein würde. Für die, die | |
bereits wussten, was am Breitscheidplatz passiert war, und für die, die | |
noch nichts davon wussten. | |
Aus dem Englischen übersetzt von Lea Wagner | |
31 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Kenny Fries | |
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