# taz.de -- Kolumne „Teilnehmende Beobachtung“: Markt der Möglichkeiten | |
> Das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz: ein Angriff auf | |
> das weltoffene Berlin, das sich gerade auf den Märkten der Stadt | |
> manifestiert. | |
Bild: Weihnachtsmarkt unter Polizeischutz – daran werden wir uns gewöhnen m�… | |
|Am vergangenen Montagabend raste ein Lastwagen in den Weihnachtsmarkt | |
neben der Gedächtniskirche. Der Anschlag hat mich wie wohl alle Berliner | |
sehr betroffen gemacht. Natürlich wegen der Toten und Verletzten und der | |
Gewissheit, dass Terrorismus in der Stadt nicht länger eine abstrakte | |
Gefahr ist, sondern unmittelbar vor der Haustür passiert. Bestürzt bin ich | |
aber auch, da dies ein Angriff auf das weltoffene Berlin ist, das sich | |
gerade auf den Märkten der Stadt manifestiert. | |
Als Studentin habe ich selbst auf Berliner Wochen- und Weihnachtsmärkten | |
gearbeitet. Das war eine wunderbare Erfahrung. Mitten auf dem Hackeschen | |
Markt, dem Winterfeldtplatz oder im Mauerpark war die viel gerühmte | |
Großzügigkeit der Berliner allgegenwärtig. | |
Ich half damals meinem Freund Peer alias Monsieur Lavande, sein Geschäft | |
mit dem provenzalischen Lavendel aufzubauen. Zweimal die Woche war ich Lady | |
Lavendel, verkaufte Öle, Seifen, Honig und getrocknete Lavendelsträuße aus | |
der Haute Provence und gab Kunden „ein Jahr Garantie auf Duft und Farbe“. | |
Den Markt erlebte ich als Asphalt der Möglichkeiten. Neben uns Händlern war | |
er eine Bühne für tingelnde Straßenmusiker, Poeten und Maler. Ein Zirkus | |
für Jongleure, Pantomimiker und Seifenbläser. Ein Ort der Begegnung unter | |
freiem Himmel, des Ausprobierens, sich Zurschaustellens, des Erfolges und | |
des Scheiterns – und des Sich-gegenseitig-Aushaltens. | |
## Der Freak mit den Hosenträgern | |
Den Berlinern ist der Markt das gemeinsame Wohnzimmer. Und auf meinem Sofa | |
nahmen sie alle Platz: Feingeister, Romantiker, Franzosen mit Heimweh, | |
Parfümeure, Gärtner, aber auch Besserwisser, Selbstdarsteller, Schnösel | |
oder schlicht Menschen mit von Motten angefressenen Wollpullovern. | |
Einige kamen an meinen Stand, weil sie der intensive Duft und das satte | |
Blau der Blumen anzogen, andere wollten nur erzählen oder stören. Das | |
musste man hinnehmen. So wie den Freak mit den Hosenträgern über dem | |
fleckigen, straffen T-Shirt-Bauch aus dem Pflegeheim um die Ecke. | |
Immer Donnerstagnachmittag rollte er trillerpfeifend in seinem Rollstuhl | |
über den Hackeschen Markt und erschreckte fein gekleidete Geschäftsleute | |
und Hipster. Seinen Rollstuhl benutzte der Freak dabei wie einen Sessel, | |
aus dem er ab und zu aufstand. Manchmal parkte er direkt neben meinem | |
Stand, glücklicherweise mochte er Lavendel. | |
Nicht weniger profund waren die Bekanntschaften mit den anderen Händlern. | |
Unter meinen Marktkollegen waren ein Herero-Sprecher und Aktivist, der | |
namibische Holz-und Steinskulpturen verkaufte, eine Jazz-Sängerin, die am | |
Sonntagmorgen nach ihren Konzerten Cappuccino anbot, ein brasilianischer | |
Schmuckhersteller, ein Salami-Importeur, eine Hausfrau aus Wittenau, die | |
Orangensaft presste, und ein pakistanischer Kräuterfachverkäufer, der vor | |
30 Jahren nach Berlin geflohen war. | |
## Gelebte Humanität, Toleranz und Freiheit | |
Das waren erfolgreiche Einzelhändler und Lebens- bzw. Überlebenskünstler | |
unterschiedlichster Herkunftsländer, Milieus und Lebensstile, die im Alltag | |
kaum Berührungspunkte hatten. Auf dem Markt aber hielten wir zusammen wie | |
eine Familie. Und mit jedem Markt wuchs der Respekt vor der Geschäftsidee, | |
dem Tagewerk und Durchhaltevermögen des anderen. | |
Meine Stunden auf dem Markt glichen einem soziologischen Tagesseminar. Die | |
Begegnungen mit den Fremden waren erkenntnisreich und manchmal anstrengend, | |
vor allem aber waren sie gelebte Humanität, Toleranz und Freiheit. | |
Gelebte Werte an einem öffentlichen Ort, der leicht verwundbar ist, wie wir | |
am Montagabend schmerzlich erfahren mussten. Ich hoffe, dass sich die | |
Berliner trotzdem nicht aus ihrem gemeinsamen Wohnzimmer vertreiben lassen, | |
dass sie sich nicht vor Sorge um ihre Sicherheit ins Private zurückziehen | |
oder lauernden Rechtspopulisten in die Arme laufen. | |
„Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr | |
Menschlichkeit“, sagte der norwegische Ministerpräsident 2011 beim | |
Trauergottesdienst nach den Anschlägen auf Oslo und Utøya. Unsere Antwort | |
sollte „Mehr Berlin“ lauten. | |
26 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Julia Boek | |
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