| # taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Kraft durch Freude und Strickjacke | |
| > Als Kind Rügens ist unsere Autorin mit dem Nazi-Bau Prora aufgewachsen. | |
| > Doch die neue kapitalistische Nutzung des „Gebauten Bösen“ macht sie | |
| > nachdenklich. | |
| Bild: Ferien im Nazi-Bau: Für InvestorInnen und KäuferInnen offenbar kein Pro… | |
| Eigentlich denke ich über mich, dass ich geschichtsbewusst lebe. Fahre ich | |
| mit dem Fahrrad von Wedding nach Mitte, freue ich mich jedes Mal, den | |
| ehemaligen Mauerweg – einfach so – überqueren zu können. Und immer am 9. | |
| November trinke ich Sekt am Mauerstreifen – egal wie stark es draußen | |
| regnet und windet. Als ich kürzlich mit der taz auf meine Heimatinsel Rügen | |
| fuhr, kam ich aber ins Grübeln. | |
| Die taz wollte dort mit den BewohnerInnen über die Luxussanierung des | |
| ehemaligen Nazi-Erholungsheimes „Kraft durch Freude“ diskutieren. | |
| Die Idee zum „Seebad der 20.000“ stammte von Adolf Hitler selbst. Jährlich | |
| eine Million Urlauber sollten in Prora „Kraft durch Freude“ tanken, um | |
| gestärkt in den Krieg zu ziehen. 1936 begannen die Bauarbeiten des 4,5 | |
| Kilometer langen Gebäuderiegels, 1939 wurden sie gestoppt. Zu DDR-Zeiten | |
| entstand hier eine der größten Kasernen der Republik, in der | |
| durchschnittlich 13.000 Soldaten der Nationalen Volksarmee stationiert | |
| waren. Prora wurde militärische Sperrzone und verschwand von der Landkarte. | |
| Nach der Wiedervereinigung gammelte die Ruine jahrelang vor sich hin. | |
| Als Inselkind weiß ich um die Geschichte des KdF-Baus. In der Schule habe | |
| ich mich mit ihr beschäftigt, auch war ich in den historischen Museen | |
| gewesen, hatte über die langen Flure der Betonruine gestaunt und über die | |
| unzähligen nur 2,5 mal 5 Meter großen Zimmer. | |
| Trotzdem: Dachte ich an Prora, dachte ich an schöne Strandtage, wilde | |
| Partys an der maroden Kaimauer und an Absurdistan. Denn mit seiner | |
| gigantischen Betonkulisse, dem Kunstkitsch an den Fassaden, den riesigen | |
| Parkplätzen und dem Thüringer Rostbratwurstimbiss kam der Ort echt schräg | |
| daher. | |
| Und so war es auch überraschend, als der Immobilienhandel in Prora abrupt | |
| Fahrt aufnahm. Inzwischen werden vier von fünf Blöcken zu exklusiven | |
| Eigentums- und Ferienwohnungen, Hotel- und Wellnessanlagen umgebaut, hier | |
| und da ist man schon eingezogen. | |
| Als mir Freunde die Hochglanzbroschüre zeigten, in denen Investoren die | |
| Luxusappartements – „preisgekrönte Architektur des Kölner Architekten | |
| Clemens Klotz“! – anpriesen, staunte ich. Als ich später das Ausmaß der | |
| Bauarbeiten, die hässliche Monotonie der Plattenbauten sah, schüttelte ich | |
| den Kopf. Mehr nicht. | |
| Das änderte sich, als ich eine Dokumentation über das KdF sah. Dass der | |
| Gebäuderiegel nun wieder erwache, mache ihm Angst, sagte darin der | |
| Architekt Daniel Liebeskind. Der Ort sei das „gebaute Böse“. Dass man in | |
| die Geschichte der Nazis und der DDR einziehe, zeige, wie wir Deutschen mit | |
| unserer Geschichte umgingen, befand ein Politologe. | |
| Ich fühlte mich ertappt. So hatte ich nie über Prora nachgedacht. | |
| Um so mehr ich recherchierte, um so mehr realisierte ich, dass nach dem | |
| Nationalsozialismus und Sozialismus nun der Kapitalismus die Spielregeln in | |
| Prora diktierte. 2016 ging es hier einzig und allein um Profitmaximierung | |
| beziehungsweise luxuriöses Wohnen in Strandnähe – egal welche Erinnerung | |
| der Beton in sich trug. Dass das Geld dabei so mächtig war, dass es hier | |
| auf ideologisch kontaminiertem Boden keine soziale oder kulturelle Utopie | |
| zuließ, war ein Jammer. Wie geschichtsvergessen waren doch die Deutschen! | |
| Kurze Zeit später spazierte ich wieder den Gebäuderiegel entlang. Im | |
| Parterre von Block zwei entdeckte ich eine Modeboutique, die gerade erst | |
| eröffnet hatte. Drinnen hing schicke Mode aus Skandinavien. Spontan | |
| probierte ich eine Strickjacke an und fast hätte ich sie auch gekauft. | |
| Einfach so – in einem ehemaligen Nazi-Erholungsheim und einer | |
| Ex-NVA-Kaserne. | |
| Ich habe sie mir dann nach Berlin schicken lassen. | |
| 16 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Boek | |
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