# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Betrachtung: Wodka und Schaben | |
> Die Russen und Berlin – eine lange Geschichte. In der es um Salamis, | |
> Totenkopfschaben und natürlich viel viel viel Wodka geht. | |
Bild: Gesoffen wird immer! | |
„Julia, was trinken Sie?“, fragte kürzlich der russische Schriftsteller | |
Wladimir Sergijenko, als ich mich zum Interview mit ihm verabredete. Zuvor | |
hatte ich über Sergijenko gelesen, dass er sein Publikum bei seinen | |
Buchvorstellungen in die Kunst des Wodkatrinkens einführt. Ich freute mich | |
auf den Russen wie auf einen alten Bekannten. | |
Seit meiner Kindheit hat das Russische einen festen Platz in meinem Leben. | |
Meine Sowjets lebten damals aber nicht in der fernen UdSSR, sie wohnten | |
„auf dem Berg“, im Rügener Nachbardorf gleich nebenan. Dort, auf dem | |
Lotsenberg, unweit der Ostseeküste, hatte die Sowjetunion in den späten | |
Sechzigern in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine Radarstation errichtet, um | |
die Seegrenze der DDR zu überwachen. Und so wenig auszumachen die Seegrenze | |
war, wenn man auf das blaugraue Meer schaute, so unsichtbar waren die | |
russischen Soldaten, die sie beschützten. Nur ab und zu rollte ein | |
Militär-Lkw über unsere Dorfstraße. | |
In Berlin war das seit jeher anders. Nach dem Ersten Weltkrieg und der | |
Oktoberrevolution erlebte die Stadt einen regelrechten Ansturm russischer | |
Emigration. Zeitweilig lebten 360.000 russische Auswanderer hier. Während | |
des Zweiten Weltkriegs waren Berlins Russen vor allem Zwangsarbeiter aus | |
den besetzten Gebieten, die zu Tausenden in Lagern hausten und nach jedem | |
alliierten Luftangriff ausrücken mussten, um den Schutt zu räumen. | |
Später gab es verschiedene Einwanderungswellen, wie die in den siebziger | |
Jahren, als jüdische Russen, meist aus der Mittelschicht kommend, nach | |
Westberlin übersiedelten, wo sie größtenteils noch heute leben. In den | |
Neunzigern kamen die Spätaussiedler, darunter viele Landarbeiter, die | |
überwiegend in Marzahn wohnen. | |
## Ein Geschenk aus Moskau | |
Meine Natascha kam aus Moskau. Sie hatte hohe Wangenknochen, zarte | |
Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase und biegbare Gelenke. Meine Mutter | |
brachte sie mir von einer mehrtägigen Reise mit, die ich – damals | |
vierjährig – wie eine jahrelange Weltumrundung empfunden hatte. Aber das | |
lies sich nun – Nastascha sei Dank – recht schnell verzeihen. | |
Weitaus schwieriger war der Russischunterricht in der Schule. Fünf Jahre | |
lang musste ich mich im kyrillischen Alphabet und dem Merken von Wörtern | |
wie dosstoprimitschjatil’nosst, auf Deutsch Sehenswürdigkeit, versuchen, | |
was bei Herrn Schneider, meinem Russischlehrer, regelmäßig Lachsalven | |
auslöste. Auch wegen „Uwe Rennost“. | |
Als wir in der siebten Klasse einen russischen Text übersetzten, hatte ich | |
mich in dem Wort „uwerennost“ verfangen. In meinen Ohren klang das seltsam, | |
ja so fremd wie ein Fremder, nämlich wie „Uwe Rennost“. Der Fremde aber war | |
nur ein harmloses Substantiv, das „Vertrauen“, also eigentlich das | |
Gegenteil, bedeutete, wie Herr Schneider mich aufklärte. | |
## Party mit Kakerlaken | |
Richtig angewendet habe ich meine Russischkenntnisse leider nie, auch | |
nicht, als ich viele Jahre später auf einer der legendären Boheme-Partys | |
des Moskauer Malers Nikolai Makarov in meiner Weddinger Nachbarschaft | |
landete. | |
Seine zugequalmte 200 Quadratmeter große Atelierwohnung war krachend voll | |
mit Gästen, die ihre Schnapsgläser in den plätschernden Wodkabrunnen in der | |
Raummitte tauchten und beim Kakerlakenrennen im Nebenzimmer ein paar Euros | |
auf südamerikanische Totenkopfschaben namens Frank und Xenia setzten. Dass | |
Russen zu feiern wussten, war nun klar. | |
Vor zwei Jahren flog ich dann das erste Mal nach Moskau. Schon im | |
Schönefelder Duty-free-Shop war mir der Aeroflot-Pilot aufgefallen, der | |
mehrere Salamis kaufte. Putins Wurst-Einfuhrverbot war doch nicht | |
wasserdicht. In Moskau war ich erstaunt, wie modern der Flughafen war, es | |
gab kostenloses High-Speed-Internet, Jazz- und Blues-Lounges, | |
Feinkostimbisse mit KellnerInnen, die fließend Englisch sprachen, und sogar | |
Automaten, aus denen man T-Shirts mit der Aufschrift „Fuck U Putin“ ziehen | |
konnte. | |
Nach meinem Interview mit Wladimir Sergijenko wurde ich übrigens noch ins | |
Wodkatrinken eingeführt, lernte, dass man zuerst ausatmet, dann trinkt, | |
wartet, schließlich schluckt, einatmet und danach schnell ins Lachshäppchen | |
beißt. Nach dem ersten Glas war ich erstaunt, nach dem zweiten fing ich an | |
zu lallen, nach dem dritten hörte ich mich plötzlich Russisch sprechen. | |
Dann war es Zeit zu gehen. | |
5 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Julia Boek | |
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