# taz.de -- Berlins Russen und die WM: Aufstehen zur Hymne | |
> Der 5:0-Erfolg im ersten Spiel gegen Saudi-Arabien hat den Ehrgeiz | |
> russischer Fußballfans in Berlin angefacht. Am Dienstag folgt das zweite | |
> Russland-Spiel. | |
Bild: Russische Fans auf der Fanmeile in Berlin bei der EM 2008 | |
„Fußball interessiert mich eigentlich nicht so sehr.“ Der Mann, der das | |
sagt, kommt gerade vom Einkauf aus dem Stolitschniy („Die Hauptstädter“), | |
dem größten russischen Supermarkt in Berlin in Lichtenberg. Pelmeni gibt es | |
hier, Mineralwasser aus dem Kaukasus, sauer eingelegtes Gemüse und | |
russisches Konfekt. Viele Leute, die am Abend hierher zum Einkaufen kommen, | |
teilen seine Ansicht. Boxen, Eishockey und Eiskunstlauf scheinen populärer | |
unter russischen Berlinern zu sein als Fußball. | |
Nur bei Shanna Nowak, einer Mittvierzigerin aus Friedrichshain, die auch | |
gerade bei Stolitschniy eingekauft hat, leuchten die Augen, wenn sie von | |
der Weltmeisterschaft spricht. Nowak ist in Nowosibirsk aufgewachsen und | |
kam vor 22 Jahren zum Studium nach Berlin. „Erst hier habe ich begonnen, | |
mich für Fußball zu interessieren, und bei den Länderspielen konnte ich | |
mich so richtig abreagieren“, sagt die Frau, die mit einem polnischen | |
Berliner verheiratet ist. | |
## Arrogante Deutsche | |
„Ich habe mich in den ersten Jahren in Deutschland immer gefreut, wenn | |
Deutschland verloren hat. Die deutsche Mannschaft trat genauso arrogant auf | |
wie viele Deutsche mir gegenüber in meinem Studentenjob in einem | |
Altberliner Restaurant.“ Dort sei sie ständig rassistischen Beleidigungen | |
ausgesetzt gewesen, erinnert sich Shanna Nowak. „Als ich meinem Mann davon | |
erzählte, fragte er mich, wie ich das überhaupt aushalten konnte. Aber ich | |
war auf das Geld angewiesen.“ | |
Inzwischen hat sie ihren Frieden gemacht mit Deutschland und dem deutschen | |
Fußball. „Die Mannschaft ist internationaler geworden. Die Rassisten | |
arbeiten sich an muslimischen Flüchtlingen ab, und als Russin bin ich für | |
sie fast schon eine Einheimische.“ Das ist der Grund, warum Shanna Nowak | |
der deutschen Mannschaft die Daumen drücken wird. „Und natürlich, weil sie | |
gut spielt.“ | |
127.000 Berliner stammen aus einem Nachfolgestaat der früheren Sowjetunion. | |
Das ist die zweitgrößte Zuwanderergruppe nach den Türkeistämmigen | |
(178.000). Knapp die Hälfte von ihnen kommt aus Russland, je 21.000 aus der | |
Ukraine und Kasachstan, wo teils auch Russisch gesprochen wird. | |
Russlanddeutsche, also Nachfahren der Menschen, die Katharina die Große | |
einmal aus Deutschland geholt hat, leben vor allem in den Bezirken | |
Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg. Menschen mit russischer | |
Staatsangehörigkeit sind hingegen am häufigsten in | |
Charlottenburg-Wilmersdorf und Mitte zu Hause. | |
## Fußballleidenschaft wenig ausgeprägt | |
Doch egal, woher Russisch sprechende Berliner kommen: Die | |
Fußballleidenschaft scheint bei ihnen weniger ausgeprägt zu sein als bei | |
vielen anderen. „Aber für die Fußballfans ist es etwas Besonderes, dass die | |
WM in Russland stattfindet“, sagt Natalia Rösler vom Club Dialog, einem | |
Verein für Russisch sprechende Berliner. „Viele von ihnen sind sowohl Fans | |
der deutschen wie auch der russischen Mannschaft. Die deutsche Mannschaft | |
wird ja auch in Talkshows im russischen Fernsehen hoch gehandelt.“ | |
Im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur an der Friedrichstraße, | |
vergleichbar mit einem deutschen Goethe-Institut, deutet wenig darauf hin, | |
dass das Land gerade Gastgeber eines Sportereignisses ist. Im Erdgeschoss | |
liegt Tourismuswerbung für Russland aus. Im Obergeschoss probt ein | |
Kindertheater. | |
Die gut 100 Gäste, die am Donnerstag zum Public Viewing des | |
Eröffnungsspiels Russland gegen Saudi-Arabien in den Kinosaal kommen, | |
verlieren sich in dem riesigen Foyer, das gähnende Leere ausstrahlt. „Die | |
Entscheidung, das Spiel zu übertragen, haben wir erst vor vier Tagen | |
getroffen“, sagt Alexandra Ognova. Der Wunsch war von Gästen an das Haus | |
herangetragen worden. „Unsere Gäste wollten die Spiele gemeinsam mit | |
anderen Fans der russischen Mannschaft sehen.“ | |
Bis zur letzten Minute war das Russische Haus unentschieden, ob es die | |
deutsche oder die russische Kommentarstimme dazuschaltet. „Viele unserer | |
russischen Gäste sprechen ja auch Deutsch.“ Die Entscheidung fiel für die | |
Übernahme des russischen Fernsehkommentars. Und das traf ganz | |
offensichtlich den Nerv. | |
## Applaus für Putin | |
Putins Eröffnungsrede bekam in dem 200 Plätze fassenden Kinosaal einen | |
riesigen Applaus. Als die russische Hymne erklang, geschah etwas, das man | |
selten in Berliner Kinos sieht: Die Mehrheit der Gäste erhob sich von den | |
Plätzen. Bei jedem der fünf russischen Tore wurde so laut gejubelt, dass | |
man vergessen konnte, dass der Kinosaal gerade einmal zur Hälfte gefüllt | |
war. Schallendes Gelächter brach aus, als die Kamera nach den Toren Putins | |
Bedauern auf der VIP-Tribüne gegenüber seinem saudischen Gast einblendete. | |
Und auch als Ex-Kanzler Gerhard Schröder mit seiner koreanischen Gattin | |
kurz im Bild zu sehen war. | |
Nach dem Abpfiff lagen sich die Gäste in den Armen. „Endspiel!“, wurde laut | |
gerufen und die russische Fahne geschwenkt. Und das von Leuten, die zwei | |
Stunden vorher noch gesagt hatten, sie seien auch mit einem Unentschieden | |
nicht unzufrieden. Der Ehrgeiz für das nächste Spiel am heutigen Dienstag | |
gegen die ägyptische Nationalelf ist angefacht. | |
## „Mit Tränen in den Augen“ | |
Abdel W. würde niemals zur russischen Hymne aufstehen. Den | |
tschetschenischen Flüchtling, der in Neukölln lebt, erfüllt es mit Scham, | |
dass ausgerechnet Russland, das Land, in dem er gefoltert wurde, sich vor | |
der Welt als Gastgeber eines Großereignisses präsentieren darf. „Putin | |
feiert seine Macht, und die Welt sieht zu“, sagt W., der deshalb seinen | |
Nachnamen nicht nennen will. | |
Ähnlich sieht es Sergey Lagodinsky, Grünen-Politiker mit russischen Wurzeln | |
und Oppositionsführer in der Repräsentantenversammlung der Jüdischen | |
Gemeinde von Berlin: „Für mich ist das ein Fest mit Tränen in den Augen. | |
Das Regime kümmert sich null um Menschenrechte – und die ganze Welt tanzt | |
dazu.“ Lagodinsky räumt ein, dass es für viele russische Berliner „einfach | |
toll“ sei, dass Russland so ein großes Fußballfest feiert. „Aber gerade | |
unter denen, die erst in den letzten Jahren gekommen sind als Asylbewerber, | |
Studenten oder im Familiennachzug, überwiegen die kritischen Stimmen.“ | |
19 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
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