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# taz.de -- Nach dem Berliner Anschlag: Die heiligen drei Herren
> Ideologie, Ökonomie, Besäufnis: Der Weihnachsmarkt ist ein Bollwerk
> deutscher Leitkultur. Seit dem Anschlag steht er nicht mehr für Frieden
> auf Erden.
Bild: Kein Friede auf Erden
Weihnachtsgeschichten handeln von Elend, Grausamkeit, Mord und
Heimatlosigkeit, Nirgendwo wird die Welt in so düsteren Farben gemalt wie
in Weihnachtsgeschichten. Damit dann der Glanz der Gnade, der Widerschein
himmlischer oder wenigstens familiärer Harmonie umso stärker zur Geltung
kommen kann.
Ich weiß nicht, sagte Herr Reiner, der Mühe hatte, sich von der
Menschenmenge nicht an eine Hauswand drücken zu lassen, wann sich die
Erzählrichtung unserer Weihnachtsgeschichten umgedreht hat. Dergestalt,
dass sich in einem allfälligen Glanz von Überfluss und Überdruss ein
Abdruck der Hölle zeigen muss, damit wir noch glauben. Wir leiden,
pflichtete sein Freund Herr Kainer bei, unter der Marktförmigkeit unseres
Weihnachtsfestes. Dagegen gibt es nur ein Mittel. Genau, sagte Herr Reiner,
den Weihnachtsmarkt.
Wobei es, meinte Herr Kainer, nachdem es ihm mit Mühe gelungen war, einem
mürrischen alten Mann mit Mitra und Bischofsstab auszuweichen, nicht
ausgemacht ist, ob wir uns hier im Glanz kommender Harmonie oder doch im
Widerschein der Hölle befinden. Ob es nun, entgegnete sein Freund, der
Himmel oder die Hölle ist, die man hier erahnt, fest steht, dass es unsere
Himmel und Höllen sind, deutsche Himmel und Höllen, ja, Weihnachten
gewordene Deutschheit, und darauf kommt es an.
So trafen der Herr Reiner und der Herr Kainer schließlich ihren „Dritten im
Bunde“, den Herrn N’Bembé, dem sie leichtsinnigerweise versprochen hatten,
bei der Besichtigung eines deutschen Weihnachtsmarktes behilflich zu sein.
Dabei hatten sie ihm erklärt, dass es zwar in gewissen Städten durchaus
schon früher Weihnachtsmärkte gegeben hatte, auf denen man sich
Christbaumschmuck, Krippenfiguren, Lebkuchen und andere Spezialitäten
kaufen konnte. Die inflationäre Ausbreitung der Weihnachtsmärkte, vor allem
aber ihre gleichförmigen Anordnungen um Glühweinstände herum, an denen von
ziemlich früh bis ziemlich spät lautstark und geruchsintensiv deutscher
Vorweihnachtlichkeit gehuldigt wird, sei ein neueres Massenphänomen sowie
eine sonderbare symbolische Aufladung.
## Flucht zum Glühweinstand
Auf dem Weihnachtsmarkt möchte das deutsche Volk unter sich sein, und das
ist es immer am liebsten, wenn es jemanden hat, dem man unterstellen kann,
dass er es einem missgönne. Man hüte sich also, sagte Herr Kainer (und Herr
N’Bembé tat sich einmal mehr schwer damit, zu bestimmen, wie ernst es
seinem Freund mit dieser Aussage war), vor abfälligen Äußerungen auf einem
deutschen Weihnachtsmarkt, weil man hier gern einmal gleich doppelt
gekränkt ist, einmal in vorweihnachtlichem Sentiment und militanter
Harmoniesucht, einmal aber auch aus deutscher Leitkulturhaftigkeit.
Weihnachtsmärkte sind Bollwerke deutscher Leitkultur, drumherum fluten
Merkels Asylanten, die Weihnachten abschaffen und die Engel mit Kopftüchern
versehen wollen. Herr Kainer grinste dazu reichlich voltairisch.
In solcherlei Betrachtungen vertieft, schlenderten – nein, kein Schlendern
war’s, sondern ein Geschoben- und Gedrängtwerden – die drei Freunde über
den Markt. Dann hörten sie eine Stimme: „Na, det sin ja lustige Heilige
Drei Könige, die ham ’nen authentischen Mohren, wa!“ Selbst der Rassismus
kommt hier natürlich in weihnachtlichem Gewand.
Was um Himmels willen machen wir hier?, fragte sich nun Herr Reiner und
blickte verstohlen um sich: Auf einer Bühne stehen arme Schulkinder und
singen falsch, doppelt falsch, nämlich einerseits, indem sie beharrlich die
richtigen Töne nicht treffen, zum anderen aber, indem sie das übliche
weihnachtliche Liedgut in Arrangements vortragen, die eines Dieter Bohlen
in seinen schlimmsten Tagen würdig wären (ich will damit nicht behaupten,
er hätte je andere gehabt, Tage, meine ich, fügte Herr Reiner an). Schlimm
wird das allerdings erst durch die krächzenden Verstärker, die dieses
„Deutschland sucht den grausamsten Weihnachtssound“ in alle Ecken des, nun,
jawohl: Weihnachtsmarktes übertragen, als fürchte man sich vor jedem
Augenblick der Stille. Eine andere Flucht als zu den Glühweinständen ist
unmöglich.
Jede deutsche Gemeinde hat einen Weihnachtsmarkt. Ein kurzer Feldversuch
bringt zutage, dass ein gutes Drittel aller Besucher gekommen sind, um über
das Ziel ihres frühabendlichen Ausflugs zu lästern. Und dabei handelt es
sich nicht nur um Kids, die nach dem dritten Zuckerschock ihren Freunden
smartphonen: Hey, Alter, ist euer Weihnachtsmarkt auch so abgefackt?
## Die Klassen bleiben unter sich
Ist es wieder einmal die „Elite“, fragte sich derweil Herr Rainer (mit
einem besorgten Seitenblick auf Herrn N’Bembé, der freilich von ihnen
dreien bester Dinge schien), die über das volkstümliche Vergnügen, das
warme Wir-Gefühl herzieht? Mitnichten! Die Elite, man erkennt sie an ihren
Kleidern, ihren Hunden, hat eigene Glühweinstände oder doch Areale vor
ihnen besetzt, die durch Protz und Gekicher gegen das gemeine Volk
verteidigt werden. Auf einem deutschen Weihnachtsmarkt ist zwar das
Deutsche und das Weihnachtliche umfassend versöhnt, die Klassen sind es
nicht.
Und ich tippe einmal, entfuhr es dem Weihnachtsmarkt-Lästerer, dass all
dieser Budenzauber nur ein Anlass ist für das allgemeine, aber doch sozial
streng strukturierte Besäufnis. Wahrscheinlich wäre dies die genaueste
Definition von deutscher Leitkultur: Die Inszenierung der Anlässe für die
ständisch-hierarchisch organisierten Besäufnisse. Das deutsche Volk geht
nicht einfach in eine Kneipe, um sich mit Kumpelinnen und Kumpeln zu
besaufen, es braucht einen kulturellen Anlass. Einen Bierzelt-Wahlkampf,
das Oktoberfest, den Karneval, Silvester oder eben, seit Neuestem, den
Weihnachtsmarkt. Der Besäufnisvorwand entschädigt für die Inflation des
Warenangebots und die Deflation der Erwartungen.
Freilich hat es Weihnachtsmärkte schon immer gegeben. Und manche hatten
vielleicht etwas vom Glanz einer Ludwig-Richter-Radierung, einen Duft, eine
Einzigartigkeit. Als ein Massenphänomen der deutschen Leitkultur (Ideologie
plus Ökonomie plus Besäufnis) ist der Weihnachtsmarkt verhältnismäßig neu.
Er verspricht nicht mehr viel, er muss einfach sein. Er erzeugt die
Illusion einer lokalen Wirtschaft und vormoderner Produktionsweisen;
Kapitalismus ist hier mittelalterlich verkleidet. Und es ist einer der
Hotspots, wo Deutsche sich in ein „Volk“ verwandeln wollen. Herr N’Bembé
wunderte sich über den Spott seiner Freunde über die eigene Kultur, aber er
verstand auch: Sollte jemand „Die letzten Tage der Menschheit“ des Karl
Kraus auf gegenwärtige Verhältnisse übertragen, der deutsche
Weihnachtsmarkt würde eine ideale Bühne abgeben.
## Die Sehnsucht nach Geborgenheit
Herr Reiner hatte unterdessen drei „Pötte“ Glühwein erstanden. Er nahm
einen Schluck und gestand: Das Zeug schmeckt abscheulich. Eine Beleidigung
für jeden Menschen, der schon einmal einen Rebstock in all seiner
kraftvollen Poesie gesehen hat. Aber dann konnte er nicht umhin, zu
bemerken, wie eine sonderbare Wärme durch Körper, Geist und Seele nebelte.
Oh, wie schnell Herr Reiner verstand, welche Sehnsüchte sich hier kreuzten.
Die Sehnsucht nach Identität, nach Geborgenheit, nach einem Glück, das sich
immer hartnäckiger zu entziehen scheint.
Als der zweite Pott Glühwein vor ihm stand, wusste Herr Reiner, das er
selber Teil eines deutschen Weihnachtsmarktes geworden war. Er entsann sich
früherer Weihnachtsfeste, des Duftes von Kerzen und der vom Vater mit
heiligem Ernst vorgetragenen Geschichte. Ein Gebot sei da ausgegangen, von
einem gewissen Kaiser Augustus, dass ein jeder sich schätzen lassen solle,
und dann gab’s für Josef und seine Frau, die war schwanger, keinen Raum in
der Herberge. Am Ende aber, und damit wurde die Bibel zugeklappt: „Und
Friede auf Erden“.
Und dann bemerkte Herr Reiner, dass er sich dessen nicht nur entsonnen
hatte, sondern es auch mit lauter Stimme vorgetragen, nicht nur seinen
Freunden, dem Herrn Kainer und dem Herrn N’Bembé, sondern auch einer Dame,
die sich nichts draus machte, Gucci und C&A-Tüten zu kombinieren, und
verständnisinnig lächelte. Und als irgendjemand lautstark „Früher war mehr
Lametta“ rief, da lachte auch Herr Reiner mit den anderen, und er hörte
sich lachen und sehnte sich . . . ja, wonach? Er hörte noch Herrn N’Bembé
„Sehr interessant“ sagen, dann war er in den Labyrinthen deutscher
Vorweihnachtlichkeit verschwunden.
Und damit könnte unsere Weihnachtsgeschichte enden. Mit einem Brummschädel,
einer Selbsterkenntnis, einer nicht recht reflektierten Versöhnung und
einem schwer gescheiterten Versuch der Binnenethnologie.
Aber mit einem Schlag war alles anders.
Aus einer vagen Gefährdungsangst war blutige Wirklichkeit geworden.
Getötete Menschen, verwundete, blutende. Schmerzen und Leiden. Die
Erfahrung von Ohnmacht und Sinnlosigkeit gegenüber etwas, das man
augenblicklich nur als das Böse begreifen kann. Ein Trümmerfeld und eine
mediale Giftwolke. Und im Anschluss daran: die Unfähigkeit zu trauern. Dass
die üblichen Verdächtigen von rechts sofort zur propagandistischen
Leichenfledderei übergehen, war zu erwarten, und auch von Horst Seehofer
hat niemand auf dieser Welt mehr politische Anständigkeit erwartet.
## Der Wahnsinn der Welt
Und doch, wie pflegte Herr Kainer zu sagen?: Eine Gesellschaft erkennt man
darin, wie sie mit ihren Verlusten und Opfern, ihrem Tribut an den Wahnsinn
der Welt umgeht. Hatte ein „9/11-effect“, ein „Je suis Charlie“, eine
Kraft, die nicht aus dem Hass, sondern aus der gemeinsamen Trauer stammt,
eine Chance? Aber der Hass richtete sich ja gar nicht auf den Attentäter
zuerst, er wurde vor allem gegen die eigene Gesellschaft und ihre
demokratischen Repräsentanten laut. Die Volksverräter, die keine Grenzen
dicht machen, keine Obergrenzen wollen, die irgendwas von uns zu „schaffen“
verlangen, was wir nicht schaffen wollen.
Es war, als hätte das Attentat dann eben doch nicht nur dazu gedient,
möglichst viele Menschen zu töten und leiden zu lassen, wie es der
grausamen Logik des Terrors entspricht, sondern auch diesen „Geist von
Weihnachten“, der in jeder Weihnachtsgeschichte schon abhandengekommen zu
sein scheint, um dann doch überraschenderweise und sei’s, wie in unserem
Fall, in ironischer Brechung wieder aufzuscheinen.
Denn wie das alles auch war, mit dem Augustus, der Herberge, dem Stall, den
Hirten, Engeln und Königen, was geblieben war, von dem, was uns in den
Weihnachtsgeschichten in die prekären Kindheiten schien, das war das Licht,
das eine bessere Zeit verheißen würde: Und Friede auf Erden. Der
unverschämteste, tückischste und anstrengendste Satz, zu dem unsere Kultur
in der Lage war. Friede auf Erden, verstehen Sie, sagte Herr Reiner nicht
ohne Verzweiflung zum Herrn N’Bembé, nicht im Himmel, nicht jenseits von
Mord und Totschlag, nicht als Belohnung für ach so heilige Kriege. Sondern
hier und jetzt. Das ganze semantische Brimborium, der narrative und
ikonografische Aufwand, der Rummel, das Besäufnis, die furchtbare Musik. Es
dient nur einem Zweck: diesen einen Augenblick zu erzeugen. Friede auf
Erden. Und sei der Augenblick auch noch so kurz. Ich weiß, lächelte Herr
N’Bembé gütig, und all das dient zugleich zum Zweck, ihn zu verhindern.
## Das weiche Ziel des Terrors
Hatte der Attentäter sein Ziel mit Bedacht gewählt? Wäre die Inszenierung
des deutschen Weihnachtsmarktes dann so sehr „Einladung“ für den
Terroristen, wie die Herstellung von Mohammed-Karikaturen die Kalaschnikow-
und Messer-Reaktion provozierten? Natürlich nicht. Es handelt sich eher um
eines jener weichen Ziele des Terrors, deren hundertprozentige Sicherung
nie anders als um den Preis der Selbsterstickung möglich ist. Anderswo
trifft es Basare und sogar Moscheen.
Ein Terrorist ist kein Mensch, der sich einer großen Idee verschreibt und
in ihrem Namen Mordtaten zu begehen bereit ist. Ein Terrorist ist ein
Mensch, der sich für seine Mordlust eine große Idee sucht. Das ist seine
Aussage: Kein Friede auf Erden. Wie kommt das, fragte Herr N’Bembé, in
eurer Weihnachtsgeschichte vor?
Gar nicht, mussten Herr Reiner und Herr Kainer zugeben. Sie wussten, dass
sie gerade die letzte aller möglichen Weihnachtsgeschichten erzählt hatten.
23 Dec 2016
## AUTOREN
Georg Seeßlen
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