# taz.de -- Die Wahrheit: Blühende Teufelsfratzen | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (20): Diesmal mit | |
> Orchideen und ihrem verblüffenden vaginalen Aussehen. | |
Bild: Zur Orchidee des Jahres 2017 wurde schon jetzt das vaginalförmige Weiße… | |
Manche Blume, so schrieb Theodor Lessing, könnte man „als ein festgebanntes | |
Insekt“ bezeichnen – und andersherum „viele Insekten, zumal die Bienen und | |
Schmetterlinge, als frei bewegliche Blumen“. Die meisten Orchideen, von | |
denen weltweit etwa 25.000 Arten bekannt sind, sehen wirklich wie | |
„festgebannte Insekten“ aus. | |
Vielleicht wird man sie irgendwann auch als solche neu bestimmen. Ganz | |
sicher weiß man jetzt schon, dass die „Königin der Blumen“ die | |
komplizierteste Existenzform unter den „bedecktsamigen Blütenpflanzen“ | |
entwickelt hat, obwohl oder weil sie angeblich in evolutionärer Hinsicht | |
die jüngste „Familie“ bildet. | |
Fangen wir unten an: im Boden oder – epiphytisch siedelnd – auf Bäumen: | |
Dort braucht die Orchidee einen Pilz, damit der Keim überhaupt aufgeht. Man | |
kann die Nährstoffe, die ihm der Symbiosepilz zuführt, künstlich | |
herstellen. Das machen die Orchideenzüchter auch, weswegen bei der „Royal | |
Horticultural Society“ bereits über 100.000 Neuzüchtungen (Hybride) | |
registriert wurden. | |
Es gibt aber heutzutage noch wild lebende, tropische Orchideen, für die | |
ihre reichen Liebhaber mehr zahlen „als heute ein Luxusauto kostet“, wie es | |
im Ratgeber „Orchideen“ des Züchters Jörn Pinske heißt. | |
## Orchideenliebhaber sind Männer | |
Die Mehrzahl der Orchideenliebhaber sind Männer. Der Pflanzenname leitet | |
sich vom griechischen Wort „orchis“ her, was „Hoden“ heißt. Damit ware… | |
Knollen verschiedener Erdorchideen gemeint. Orchideen sind jedoch | |
zweigeschlechtlich. In der Blüte haben sie (männliche) Staubblätter und | |
eine (weibliche) Narbe, die zu einem „Säulchen“ (Gynosterium) verwachsen | |
sind. Die Pflanze bestäubt sich nicht selbst damit, sondern braucht ein | |
Insekt, dass ihren Pollen zu einer anderen bringt und ihr gleichzeitig | |
fremden Pollen an die Narbe trägt. | |
„Daß Hummeln, Bienen, Tagfalter, also Insekten, irgendetwas mit den Blumen | |
haben, wußte man schon seit der Antike. Auch daß sie sich irgendwie von | |
ihnen ernähren. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wußte man auch, daß Blumen | |
ein Geschlecht haben“, schreibt der Kulturwissenschaftler Peter Berz. Im | |
Sommer 1787 entdeckte der Spandauer Realschuldirektor Christian Konrad | |
Sprengel auf einer Wiese, dass die Blumen es darauf abgesehen hatten, | |
Insekten anzulocken, sie hinzuführen, hinzuweisen auf die in ihnen | |
verborgenen Schätze – Saft oder Nektar – also den „in der Luft | |
herumschwärmenden Insekten als Saftbehältnisse schon von weitem ins Auge zu | |
fallen.“ Dabei befruchten die Insekten die Blumen – „ohne es zu wollen und | |
zu wissen, wie Sprengel schreibt. Es wird dabei getäuscht und getrickst: | |
Viele der spektakulärsten Orchideen haben gar keinen Nektar. Sprengel | |
gesteht, dass ihm diese Entdeckung „keineswegs angenehm war“. | |
Aber damit nicht genug: Die Blüten der Sexualtäuschorchidee „Ophrys | |
insectifera“ (Fliegen-Ragwurz) haben nicht nur die Form und Farben einer | |
potenziellen Partnerin für Grabwespenmännchen angenommen, sondern auch noch | |
deren Sexuallockstoff. „Teilweise geht die Täuschung soweit, dass | |
Bienenmännchen der Gattung Andrena die entsprechenden Ophrys-Blüten sogar | |
einem Weibchen vorziehen. Verhaltensforscher nennen das eine überoptimale | |
Atrappe“, schreibt die Biologin des Berliner Botanischen Gartens Birgit | |
Nordt. | |
Einige südamerikanische Orchideen, die mit „Prachtbienen“ kooperieren, | |
bieten den Prachtbienenmännchen sogar einen Duft an, der nicht ihnen direkt | |
gilt. Sie nehmen ihn laut dem Biologen Karl Weiß „in ansehnlichen Flakons | |
an den Hinterbeinen“ auf und fliegen damit zu ihren „Balzplätzen“, wo sie | |
„Präsentationsflüge“ unternehmen. | |
Besonders raffiniert ist die Duftproduktion beim Germerblättrigen | |
Stendelwurz, die im Jenaer Max-Planck-Institut für chemische Ökologie | |
erforscht wurde: Um Schwebfliegen zur Bestäubung anzulocken, verströmt | |
diese Orchidee einen Botenstoff, mit dem sich Blattläuse alarmieren, er | |
lockt aber auch Schwebfliegenweibchen an, die ihre Eier bei Blattläusen | |
ablegen, weil sich ihre Larven dann von ihnen ernähren. In der | |
Orchideenblüte täuschen darüber hinaus „warzenartige Gebilde“ die | |
Anwesenheit von Blattläusen vor. Es gibt dort aber gar keine, sodass die | |
Larven der Schwebfliegen keine Nahrung finden und sterben. | |
Die Biogeochemiker der Universität Bayreuth haben bei einer Reihe | |
südafrikanischer Orchideen wiederum herausgefunden: Wenn unterschiedliche | |
Arten in enger Nachbarschaft leben und von denselben Insekten bestäubt | |
werden, „platzieren sie ihre Pollen an unterschiedliche Stellen – zum | |
Beispiel auf verschiedenen Abschnitten ihrer Vorderbeine.“ | |
## Philosophen raten zur Orchiedeenwerdung | |
Die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari gehen von einer | |
wechselseitigen Beeinflussung aus, die eine Angleichung von Pflanze und | |
Tier hervorgebracht hat. Ein solcher Vorgang – „Werden“ von ihnen genannt… | |
gehört „immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Werden kommt | |
durch Bündnisse zustande […] Das Werden ist eine Vermehrung, die durch | |
Ansteckung geschieht.“ Affizieren und Affiziert-werden. „Werdet wie die | |
Orchidee und die Wespe!“, raten sie. | |
Nach Meinung vieler Orchideenforscher ist bei diesem Angleichungsprozess | |
die Pflanze die treibende Kraft. Sie wollen festgestellt haben, dass eine | |
Orchidee, die außerhalb des Vorkommens „ihrer“ Insekten „Fuß gefasst“… | |
sich in Form und Farbe an eine neue Art angleicht. | |
Im übrigen kennen die Orchideen auch eine vegetative Fortpflanzung durch | |
Ableger, weswegen G. W. F. Hegel in seiner Vorlesung „Enzyklopädie der | |
philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1830) die geschlechtliche | |
Fortpflanzung für einen reinen „Luxus“ hielt. Sie wird dafür mit umso mehr | |
Liebe betrieben. | |
Wenn die mikroskopischen Samen einer asiatischen Orchideenart durch den | |
Wind an eine Baumrinde geweht wurden, entrollen sie „spiralige Ankerfäden“, | |
um sich festzuklammern und in Kontakt mit einem Symbiosepilz zu kommen. Ist | |
keiner da, muss der Keim sterben, wie die Mitarbeiter des Berliner | |
Botanischen Museums in ihrem Band über „die skurrile Welt der | |
Orchideensamen“ schreiben. | |
## Ihr Sexualtäuschduft wirkt auch auf Menschen | |
Als ich unlängst im Orchideengewächshaus des Kassler Bergparks Wilhelmhöhe | |
war, konnte ich es nicht fassen: Es werden dort fast nur Orchideen | |
gehalten, die der menschlichen Vagina in Form und oft auch in Farbe | |
gleichen. Die Schamlippe heißt bei den Orchideen ebenfalls „Lippe“ | |
(Labellum), es ist ein zur Lippe geformtes Blütenblatt, das den Insekten | |
eine Landefläche bietet, und die Klitoris ist bei den Orchideen das | |
vorstehende „Säulchen“. Hinzu kommt bei manchen Orchideenarten ein | |
Sexualtäuschduft, der auch auf Menschen, mindestens aber auf Männer wirkt. | |
Kurzum: „Die Sexualorgane der Orchideen sind einzigartig“, wie die | |
überwiegend männlichen Autoren der „Kosmos-Enzyklopädie Orchideen“ | |
schwärmen. „Wir könnten eine Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte | |
schreiben, indem wir eine Orchideenblüte schildern“, meinte schon der | |
Basler Biologe Adolf Portmann in seinem Radiovortrag „Insekten und Blumen“ | |
(1942). Gleiches ließe sich auch wohl über die Vagina sagen. Soll man noch | |
erwähnen, dass ein katholisches Forschungsteam der Botanikerin Marta | |
Kolanowska von der Universität Danzig im kolumbianischen Urwald eine | |
winzige Orchideenart entdeckte, die statt einer Klitoris ein weinrotes | |
Teufelsgesicht in ihrer Blüte ausgebildet hat? Sie wurde „Telipogon | |
diabolicus“ genannt. | |
19 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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