| # taz.de -- Die Wahrheit: Käfer Leichtfuß | |
| > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung verdienen auch den 21. | |
| > Teil ihrer akribischen Beschreibung. Diesmal: der Kartoffelkäfer. | |
| Bild: In Polen wird der Kartoffelkäfer zärtlich „Helmuty“ genannt | |
| Der Kartoffelkäfer heißt auf Lateinisch Leptinotarsa decemlineata: | |
| „Zehnstreifen-Leichtfuß“ – und kommt aus Amerika, genauer: aus Colorado, | |
| weswegen er auch „Colorado beetle“ genannt wird. Dort ernährte er sich | |
| still und leise von der Büffelklette, einem Nachtschattengewächs. | |
| Aber mit den Siedlern aus Europa, die ein neues Nachtschattengewächs, die | |
| Kartoffel, anbauten, wechselte er seine Nahrungspflanze, die bald reichlich | |
| vorhanden war, ebenso wie auch der Käfer, der dann umgekehrt nach Europa | |
| eingeschleppt wurde: 1788 sichtete man ihn erstmals in den Häfen von | |
| Liverpool und Rotterdam. Etwa 200 Jahre später folgte ihm seine alte | |
| Büffelklette. | |
| In Europa hatte der Kartoffelkäfer keine natürlichen Fressfeinde, seine | |
| Warnfarben, die gelb-braunen Streifen, schützten ihn. 1922 vernichtete der | |
| Kartoffelkäfer bei Bordeaux auf 250 Quadratkilometern alle | |
| Kartoffelbestände. Erst in den letzten Jahrzehnten begannen einheimische | |
| Vogelarten, unter anderem Fasane, ihn als Beute anzunehmen. Derweil konnte | |
| er sich jedoch über die ganze Welt verbreiten. | |
| Seine Erforschung ist fast immer zugleich seine Bekämpfung als „Schädling�… | |
| Derzeit versucht man, der „Käferplage“ durch Chemikalien und eine gezielte | |
| Infizierung mit dem Bacillus thurengiensis Herr zu werden. Auf kleineren | |
| Feldern wird er auch heute noch einfach aufgesammelt und vernichtet. | |
| Weil der Käfer die Angewohnheit hat, gelegentlich massenhaft aufzutreten, | |
| hat man ihn für eine biologische Waffe feindlicher Nationen gehalten, an | |
| die man selbst ebenfalls schon gedacht und mehr noch: an der man gearbeitet | |
| hat – spätestens seitdem bekannt wurde, was die Vernichtung der | |
| Kartoffelfelder 1845 und 1852 in Irland bewirkte – die „Große Hungersnot�… | |
| während der Millionen Menschen verhungerten und weitere Millionen | |
| auswanderten. | |
| ## Germanische Kartoffeln | |
| Die Deutschen werden von den Türken gern „Kartoffeln“ genannt, hier hat | |
| dann auch die Erforschung des Kartoffelkäfers die absurdesten Blüten | |
| getrieben. Es begann damit, dass man im Ersten Weltkrieg den „Erbfeind“ | |
| Frankreich verdächtigte, den Käfer als „B-Waffe“ einzusetzen, um die | |
| Deutschen dem Hungertod auszuliefern. Tatsächlich kam es in der zweiten | |
| Hälfte des Krieges auch zu einer bedrohlichen Lebensmittelknappheit. | |
| Vor dem Zweiten Weltkrieg befahl Hitler, der im Ersten von der „C-Waffe“ | |
| Senfgas in Belgien vorübergehend erblindet war, dass nur defensive | |
| biologische Kriegsforschung und keine offensive betrieben werden dürfe. | |
| Verantwortlich dafür war eine Arbeitsgemeinschaft (AG) namens | |
| „Blitzableiter“ beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW). | |
| Nachdem sich 1943 das Gerücht verbreitet hatte, dass die Amerikaner | |
| beabsichtigten, Kartoffelkäfer über Deutschland abzuwerfen, konnte die AG | |
| mehr oder weniger heimlich die biologische Waffenforschung in beide | |
| Richtungen angehen. Weil einige Forscher gedacht hatten, dass es darum | |
| ginge, Kartoffelkäfer gegen England einzusetzen, beschied ihnen das OKW | |
| aber zugleich, „dass ein Einsatz von biologischen Kampfmitteln im Angriff | |
| gegen England nicht in Erwägung gezogen“ werde. | |
| Um trotzdem biokampffähig zu sein, plädierte Oberst Münch auf einer Sitzung | |
| der AG für das Erproben von Ausbringungsverfahren, also für | |
| Freilandversuche, „damit man wisse, wie der Gegner die B-Mittel anwenden | |
| könne“, so eine Aktennotiz. Der Ministerialdirigent Schumann machte sich | |
| dafür stark, den Führer zu überzeugen, dass „Amerika gleichzeitig mit | |
| verschiedenen menschlichen und tierischen Seuchenerregern sowie mit | |
| Pflanzenschädlingen angegriffen werden müsse“. | |
| ## Wehrmacht und Kartoffelkäfer | |
| Zur landwirtschaftlichen Sektion der „Wehrmachtsabteilung Wissenschaft“ | |
| gehörte ein Forschungsinstitut in Kruft (Rheinland-Pfalz), wo unter der | |
| Leitung eines Martin Schwartz Kartoffelkäfer gezüchtet wurden. Daneben | |
| wurde am Kaiser-Wilhelm-Institut für Kulturpflanzenforschung in | |
| Wien-Tuttenhof unter der Leitung des später obersten DDR-Biologen Hans | |
| Stubbe an Unkrautpflanzen geforscht, deren Samen über England abgeworfen | |
| werden sollten. Auf einmal „schien auch der Kartoffelkäfer für einen | |
| Einsatz gegen England geeignet“, wie die Biologiehistorikerin Ute Deichmann | |
| in ihrem Buch „Biologen unter Hitler“ schreibt. | |
| Am KZ Dachau gab es zudem das „Entomologische Institut der Waffen-SS“, das | |
| zur „SS-Forschungs- und Lehrgemeinschaft ,Ahnenerbe' “ gehörte. Dort wurde | |
| unter der Leitung des Biologen Ernst May erforscht, ob die | |
| malariaübertragende Mücke Anopheles für den Kriegseinsatz tauglich war. | |
| Und am „Institut für Wehrwissenschaftliche Zweckforschung der SS“ bekam der | |
| Leiter der Entomologischen Abteilung, Reichsärzteführer Kurt Blome, den | |
| Auftrag: „Die den Menschen schädigenden Insekten in ihren | |
| Lebensgewohnheiten zur Klärung der Frage bestimmter Anwendungen und | |
| verstärkter Abwehr zu studieren.“ | |
| Was bei dieser Forschung herausgekommen ist, weiß man nicht. Um die | |
| „Anwendung“ zu testen, stand der „Flieger-Forstschutzverband“ unter Obe… | |
| von Borstell zur Verfügung, im Reichsgebiet wurde aber laut Ute Deichmann | |
| „wegen der leichten Verstreuung das Arbeiten mit Kartoffelkäfern und damit | |
| die Züchtung der für notwendig erachteten 20 bis 40 Millionen Käfer als | |
| problematisch erachtet.“ | |
| Dennoch fand dann im Oktober 1943 „ein feldmäßiger Versuch bei Speyer | |
| statt, bei dem 1.400 Kartoffelkäfer vom Flugzeug aus abgeworfen wurden. 57 | |
| davon wurden wiedergefunden.“ Der Rest sollte im darauffolgenden Sommer, so | |
| Deichmann, „bei der allgemeinen Suchaktion gesammelt“ werden. Damit war der | |
| „Kartoffelkäfer-Abwehrdienst“ (KAD) des Reichnährstands gemeint, der mit | |
| dem Slogan „Sei ein Kämpfer, sei kein Schläfer, acht’ auf den | |
| Kartoffelkäfer!“ jeden zur Bekämpfung des Schadinsekts aufrief. | |
| ## Ost-Kartoffelkäfer | |
| „Die Schulkinder bekamen manchmal schulfrei, um die Käfer einzusammeln. In | |
| den Dörfern wurden Suchkolonnen gebildet, um Felder nach Kartoffelkäfern | |
| abzusuchen“, heißt es auf Wikipedia. Ähnliche Aktionen gab es nach dem | |
| Krieg auch wieder in der BRD und der DDR. Im Westen nannte man außerdem die | |
| vielen Ostflüchtlinge „Kartoffelkäfer“, man kann sich denken, warum. | |
| Als um 1950 herum fast die Hälfte aller Kartoffelfelder in der DDR von | |
| Kartoffelkäfern befallen wurde, machte die staatliche Propaganda erneut die | |
| Amerikaner beziehungsweise die CIA dafür verantwortlich. Gleichzeitig | |
| mobilisierte die Regierung alle Schüler und Studenten, um den „Amikäfer“ | |
| und seine Larven auf den Feldern abzusammeln. Unterdes forderte die | |
| US-Regierung von der BRD, propagandistische Gegenmaßnahmen zu unternehmen. | |
| Diese beschloss daraufhin einen Postversand an sämtliche Gemeinderäte der | |
| DDR und den Ballonabwurf von Kartoffelkäferattrappen aus Pappe mit einem | |
| aufgedrucktem „F“ für „Freiheit“. Diese wenig aufklärerische Aktion | |
| bestärkte die DDR noch in ihrer Annahme, es mit einer großangelegten US- | |
| oder Nato-Sabotageaktion zu tun zu haben, die darauf abzielte, eine | |
| Hungersnot in den sozialistischen Ländern herbeizuführen. | |
| Bertolt Brecht dichtete: „Die Amiflieger fliegen / silbrig im Himmelszelt / | |
| Kartoffelkäfer liegen / in deutschem Feld.“ Noch Jahrzehnte später war der | |
| DDR-Dramatiker Heiner Müller felsenfest davon überzeugt, wenn er es auch | |
| inzwischen eher witzig fand, dass die CIA im Kalten Krieg Kartoffelkäfer | |
| einsetzte. | |
| Auch Polen wurde 1950 von einer Kartoffelkäferplage heimgesucht: | |
| „Unerhörtes Verbrechen der amerikanischen Imperialisten“, titelte im Mai | |
| des selben Jahres die Trybuna Ludu. Bis dahin war man davon ausgegangen, | |
| dass die deutsche Wehrmacht 1939 den Kartoffelkäfer in Polen eingeschleppt | |
| hatte. Die Deutschen hatten dort zuvor, im 18. Jahrhundert, bereits die | |
| Kartoffel eingeführt, weswegen man diese Feldfrucht in Polen auch | |
| „Berliner“ nannte – spätere Kartoffelkäfer dann „Helmuty“. | |
| 2 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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