# taz.de -- Die Wahrheit: Aus der Sirenenforschung | |
> Die lustige Menschtierwelt und ihre ernste Erforschung (22): Diesmal geht | |
> es um Meerjungfrau-Mumien, Seekühe und Sirenen, die Männer heimsuchen. | |
Bild: Drei Meerjungfrauen wärmen sich vor dem Weihnachtsschwimmen in Paris auf | |
Die Hamburger Firma „J.F.G. Umlauff“ verkaufte ab 1868 Naturalien und | |
Kuriositäten aus Übersee. „Für mehr als 100 Jahre bestimmte das Unternehmen | |
den deutschen Markt für Zoologica, Ethnografica, Anthropologica und | |
plastische Bilder vom Menschen“, schreibt Britta Lange vom | |
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in ihrem Buch „Echt. | |
Unecht. Lebensecht“ (2006) über die Firma Umlauff. | |
Einer der Umlauff-Söhne kam über das glänzende Geschäft mit „afrikanischen | |
Mumien“ darauf, es auch mit Meerjungfrauen zu versuchen: „Der Körper wurde | |
gebunden, auf den Rumpf ein schlechter Frauenschädel gesteckt und dieser | |
ausmodelliert. Die Hände wurden aus Affenhänden gemacht, hieran ganz lange | |
Nägel und die andere Hälfte – das Hinterteil – war mit einer grossen | |
Fischhaut überzogen. Auf dem Kopf eine blonde Perücke.“ | |
An diesem Objekt waren vor allem russische Schausteller interessiert. | |
Umlauff schreibt: „Ich verkaufte in einem Jahr 15 Stück, und alle, die sie | |
kauften, sind reiche Leute geworden, natürlich in Russland.“ | |
## „Homo marinus“: Wassernixen und Affen | |
Noch im 18. Jahrhundert hatte der dänische Bischof Erik Potoppidan die | |
Existenz von „Meermaiden“ bestätigt und der dänische Anatom Caspar | |
Bartholin diese Wassernixen zusammen mit den Menschen und Affen als „homo | |
marinus“ klassifiziert. | |
Als Goethe Neapel besuchte, wollte er den homerischen Nixen nachspüren: | |
„Und nun locken mich die Sirenen, und wenn der Wind gut ist, geh' ich mit | |
diesem Brief zugleich ab – südwärts“, schrieb er „leichtlebig“, kam d… | |
jedoch nie wieder auf seine Sirenensuche zu sprechen. | |
Zu sehen gab es eine sogenannte „Sirenide“ in der 1870 vom Biologen Anton | |
Dohrn gegründeten Meeresforschungsstation in Neapel – in einem seiner | |
dortigen Aquarien. | |
Der auf der Sireneninsel Capri lebende faschistische Theoretiker Curzio | |
Malaparte berichtet in seinem Buch „Haut“ (1950), dass dieser „Fisch“, … | |
fast alle anderen in Dohrns Aquarien auch, 1944 vom Oberkommando der | |
amerikanischen Streitkräfte getötet wurde – um anschließend von ihnen | |
gegessen zu werden. | |
## Den „Fisch“ bestatten | |
Malaparte will selbst bei diesem Sieger-“Gastmahl des Meeres“ dabei gewesen | |
sein. Weil aber das „zur Gattung der Sirenoiden“ gehörende Meerestier | |
(„dessen Flanken in einem Fischschwanz endeten – genau wie von Ovid | |
beschrieben“) einem kleinen toten Mädchen zum Verwechseln ähnlich sah, habe | |
eine der anwesenden weiblichen US-Offiziere darauf bestanden, den „Fisch“ | |
ordnungsgemäß im Garten der Forschungsstätte zu bestatten. | |
Die Koreaner und Japaner nennen ihre sportlichen Muscheltaucherinnen | |
anerkennend Meerjungfrauen oder Sirenen. Für die pragmatischen Amerikaner | |
sind Sirenen jedoch das, was wir „Seekühe“ nennen – gemütlich-dicke | |
Meeressäugetiere in tropischen Gewässern. Früher gab es auch welche in | |
sibirischen Gewässern. | |
Diese „Stellerschen Seekühe“ wurden jedoch 27 Jahre nach ihrer Entdeckung | |
ihres Trans und Fleisches wegen ausgerottet. Die mit Elefanten verwandten | |
Seekühe ernähren sich von Seegras und stillen ihr Junges mit Milch aus | |
Brüsten, die sich wie bei den Menschen vorne auf der Brust befinden, zudem | |
können sie es mit ihren zwei Flossen wie mit Armen umfassen. Sie | |
beschäftigen in den USA zu ihrem Schutz hunderte von „Siren-Guards“, | |
-Juristen und -Behördenmitarbeiter. | |
## Der Armmolch hält Sommerschlaf | |
Sie sehen allerdings weder wie die, auf antiken Vasen dargestellten, | |
Sirenen aus, noch singen sie wie die von Homer geschilderten. Das gilt auch | |
für die bis zu ein Meter langen Arten der Gattung „Siren“, die man auf | |
Deutsch „große Armmolche“ nennt, weil sie nur Vorderbeine haben, dazu | |
Lungen und Kiemen. Sie gehören zur Familie der „Sirenidae“, leben an der | |
Küste Floridas, ernähren sich von Pflanzen und halten Sommerschlaf. | |
Der Ostberliner Tierpark hält einige Seekühe im Dickhäuterhaus. Sie | |
ernähren sich von oben schwimmendem Kopfsalat – also genau andersherum als | |
in Freiheit. Der Tierpfleger kommt regelmäßig im Taucheranzug in ihr | |
Wasserbecken und streichelt sie: „Die brauchen das zu ihrem Wohlbefinden.“ | |
Im Medizinhistorischen Museum der Charité sind in Alkohol konservierte | |
„Sirenen“ ausgestellt. Es handelt sich dabei um zwei tote Säuglinge – | |
„menschliche Fehlbildungen“: Bei der einen – „Sirenoiden“ – fehlten… | |
Beinanlagen, der Harntrakt und die Geschlechtsorgane“ – der Körper ging | |
stattdessen ab der Hüfte in eine Art Schwanz über. | |
Der anderen – „Sirenomelie“ – fehlten „Beine, Geschlechtsorgane, Nier… | |
Blase und Enddarm“, man ließ sie wohl gleich nach der Geburt sterben. Für | |
ihre „sirenoiden Fehlbildungen“ machen die jetzigen Kuratoren „übermäss… | |
Alkoholgenuß der Mütter“ verantwortlich. | |
Nicht erst seit der romantischen Geschichte „Undine“ von Friedrich de la | |
Motte Fouqué über eine Nixe, die sich unglücklich in einen Lands-Mann | |
verliebte, weiß man, dass der Mensch den Sirenen ins Wasser folgen sollte – | |
und nicht umgekehrt, weil das immer schlecht ausgeht. Ingeborg Bachmanns | |
Erzählung „Undine geht“ von 1961 endet da noch harmlos. | |
## Seejungfrauen suchen Männer heim | |
Auch hier kehrt die Meerjungfrau enttäuscht zurück: „unter Wasser“, wendet | |
sich aber noch einmal, ein letztes Mal, an den Mann, an die Männer – | |
„Ungeheuer“ und „Verräter“ allesamt! Gedacht ist dabei vielleicht an d… | |
unendlich vielen jungen Frauen, die von einem treulosen Schuft geschwängert | |
wurden und keinen anderen Ausweg wussten, als sich im Mühlteich zu | |
ertränken – von wo aus sie die Männer in ihren Schuldgedanken und | |
Alpträumen als Seejungfrauen heimsuchten. | |
Die feministische Anthropologin Elaine Morgan wies 1982 (in: „The Aquatic | |
Ape“) nach, dass die Frauen einst, nach Verlassen der Bäume, Schutz vor | |
ihren Feinden im Wasser gesucht hätten. Dort lernten sie den aufrechten | |
Gang, die Schmackhaftigkeit der Meerestiere, bekamen eine glatte, | |
unbehaarte Haut, veränderten sogar ihre weibliche Anatomie und wurden | |
intelligent und verspielt (so wie im übrigen alle Säugetiere und Vögel, die | |
zurück ins Wasser gingen). | |
Während die Menschenmänner quasi auf dem Trockenen hocken blieben. Elaine | |
Morgans Studie endet jedoch versöhnlich: „Wir brauchen weiter nichts zu | |
tun, als liebevoll die Arme auszubreiten und ihnen zu sagen (zu singen): | |
,Kommt nur herein! Das Wasser ist herrlich!‘“ | |
Für Odysseus hingegen war das ein „verderblicher Gesang“ (er wollte | |
unbedingt nach Hause zu seiner Familie). Der Homerforscher Friedrich | |
Kittler wollte da genau hinhören – und organisierte dazu 2003 eine | |
Schiffsexpedition in die Gewässer um Capri als „empirische Philosophie“. | |
Friedrich Kittler brachte von seiner Fahrt, an der sich mehrere Sängerinnen | |
und der Leiter des Tierstimmenarchivs der Humboldt-Universität beteiligten, | |
„Audio-Material“ mit. Es ist auf seiner CD „Musen, Nymphen, Sirenen“ zu | |
hören, vor allem seine Stimme. „Nun haben aber die Sirenen eine noch | |
schrecklichere Waffe als den Gesang, das ist ihr Schweigen,“ schwante | |
bereits Franz Kafka. | |
9 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung | |
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