# taz.de -- Die Wahrheit: Insekten in Haufen | |
> In Teil 25 der Serie „Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung“ | |
> geht es um die Entnazifizierung der Ameisenwissenschaft. | |
Bild: Schon toll, wie die Aphaenogaster senilis Schwämme benutzt, um Flüssigk… | |
Die Staaten bildenden Insekten hatten schon den „ersten Naturforscher“ | |
Aristoteles an die „Demokratie“ erinnert. Seitdem mussten sie nacheinander | |
als Beispiele für Tyrannenherrschaft, Monarchie, Republik, Kommunismus, | |
Faschismus, Maoismus und so weiter herhalten. Der Kulturwissenschaftler | |
Niels Werber schreibt in „Ameisengesellschaften“ 2013: „Von den | |
Wissenschaften, in der Literatur, in den Medien wird notorisch der Eindruck | |
erweckt, die Erforschung sozialer Insekten betreffe stets auch den Menschen | |
und seine Gesellschaft.“ | |
Der nationalsozialistische Staatsrechtler Carl Schmitt war sich mit dem | |
sozialdarwinistischen Insektenforscher Karl Escherich, dazumal Rektor der | |
Münchener Universität, einig: „Sowohl der Menschen- als auch der | |
Insektenstaat muss sich darauf einstellen, dass seine Bürger ganz im Sinne | |
eines ‚survival of the fittest‘ der Einzelnen eher ihren eigenen Nutzen zu | |
mehren suchen, als dem Gemeinwohl zu dienen.“ Ein Ameisenstaat kann „nie | |
ein Rechtsstaat sein“, die sozialen Insekten haben das Problem biologisch | |
gelöst. | |
Und die Nazis machten sich anheischig, es ihnen nachzutun. Escherich lehrte | |
1934: „Das oberste Gesetz des nationalsozialistischen Staates ‚Gemeinnutz | |
geht vor Eigennutz‘ ist im Insektenstaat bis in die letzte Konsequenz | |
verwirklicht.“ Dieser „Totalstaat reinster Prägung“ ist bei den Menschen | |
„bisher noch nicht erreicht“. Nämlich wegen des leidigen „Individualismu… | |
den auch Carl Schmitt für „unsozial“ und „gefährlich“ hielt und der | |
„verschwinden“ müsse. Schmitt gelangte damit zu einer | |
„speziesübergreifenden Soziologie“, in der die „Gesellschaft“, als | |
„schwirrende, unorganisierte Masse“, dem „Staat“ als eine ebenso umfass… | |
wie feste Einheit entgegengesetzt wird. | |
Der vor etwa 50 Jahren in den USA entstandenen „Soziobiologie“ geht es nach | |
wie vor um das vergleichbare Sozialverhalten von Ameisen und Menschen. | |
Niels Werbers „Faszinationsgeschichte“ beginnt mit einem Dialog zwischen | |
dem ehemaligen Disney-Chef Michael Eisner und dem Microsoft-Gründer Bill | |
Gates, die in der Comicserie „Family Guy“ mit einem Jetpack über eine | |
Großstadt fliegen: „Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben“, bemerkt | |
Eisner, Gates korrigiert ihn: „Nein, Michael, es sind Ameisen.“ | |
## Der Ameisenalgorithmus | |
Die Mathematiker entwickelten inzwischen „Ant-Algorithmen“, die in der | |
Logistik, der Kriegsführung und so weiter zum Einsatz kommen. Wenn Amazon | |
Bücher mit der Bemerkung empfiehlt: „Kunden, die diesen Artikel gekauft | |
haben …, kauften auch …“, dann war da ein solcher „Ameisenalgorithmus�… | |
Werk, den der Konzern so weiterentwickeln will, dass er Waren auswählt, die | |
einem derart gut gefallen könnten, dass Amazon sie sogleich zustellt – ohne | |
dass man sie bestellt hätte. | |
Die heutigen „Ameisenpäpste“, die Soziobiologen Edward O. Wilson und Bert | |
Hölldobler, sagen Sätze wie: „Ameisen wie Menschen haben die Fähigkeit zum | |
äußersten Opfer.“ Sie erforschten unter anderem afrikanische Weberameisen, | |
deren Kolonie sich auf mehrere Baumnester verteilt, die sie mit Darwin als | |
einen „Superorganismus“ begreifen. Ihre Nester bauen sie aus Blättern, die | |
sie vereint umbiegen, dann ihre Larven packen, sie zur Ausscheidung von | |
Seide veranlassen und damit die Blätter vernähen. | |
Bei den Blattschneiderameisen, die sich von einem Pilz ernähren, den sie in | |
ihren riesigen unterirdischen Bauten mit zerkauten Blättern füttern, gibt | |
es neben den „Kasten“ Arbeiterinnen, Königin und Männchen noch Soldatinne… | |
die besonders groß und wehrhaft sind. Bei den Stöpselkopfameisen, der | |
einzigen hier lebenden Ameisenart mit einer Soldatenkaste, haben diese | |
einen so dicken und harten Kopf, dass sie damit bei Gefahr die Nesteingänge | |
verstöpseln können. Es gibt etwa 13.000 Ameisenarten, in Europa leben 200. | |
Bei etlichen haben die Arbeiterinnen keine Eierstöcke mehr. | |
## Keine Angst vor Horrorameisen | |
Der Frankfurter Zoodirektor Dr. Grzimek kritisierte einmal im Fernsehen | |
einen US-Film, der von „Horrorameisen“ handelte, die alles Lebendige | |
niedermachen: So etwas sei unmöglich, der Regisseur habe aus zwei | |
verschiedenen Arten – Blattschneiderameisen und Treiberameisen – eine | |
gemacht. Dadurch würden die nützlichen Ameisen in Verruf geraten. | |
Inzwischen gibt es „Ameisenschutzwarte“ und einen „Ameisen-Wiki“, auf d… | |
man neue Forschungsergebnisse findet, etwa über die Bakteriensymbiosen im | |
Darm von Ameisen; oder über eine Ameisenart, bei der die Verpaarung – | |
zwischen Männchen und Arbeiterinnen mit entwickelten Geschlechtsorganen – | |
oft tödlich ist, weil sie nicht mehr voneinander loskommen. | |
Ameisen bilden eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen aus, von | |
nomadischen „Jägern“ über „Sammler“ und „Vieh-“ beziehungsweise | |
„Pilzzüchter“, daneben gibt es „sozialparasitäre Ameisenarten“, die | |
„Sklaverei“ betreiben, indem sie Ameisenlarven anderer Arten entführen und | |
später für sich arbeiten lassen oder indem die Weibchen bei einer anderen | |
Art einwandern und ihre Nachkommen von diesen aufziehen lassen. Wieder | |
andere Arten haben sich für die Vermehrung durch Bildung von | |
Tochterkolonien „entschieden“. Der Bienenforscher Jürgen Tautz hält diese | |
„Nesterteilung“ für „eine im Tierreich seltene extravagante Strategie“. | |
Derart breitet sich zum Beispiel die Pharaoameise aus, deren Populationen | |
bis zu 300.000 Tiere umfassen können. Sie ist aus dem Orient eingewandert. | |
Weil sie hier nicht im Freien überleben kann, baut sie ihre Nester fast | |
immer an oder in Häusern. Sie wird als Schädling verfolgt; in Hospitälern | |
und in Computern kann diese kleinste Art großen Schaden anrichten. Bert | |
Hölldobler berichtete: „An der Harvard University musste einmal sogar der | |
Bau eines Hochsicherheitslabors zur Genmanipulation gestoppt werden, weil | |
das Gebäude von Pharaoameisen befallen war. Man fürchtete, dass die Tiere | |
durch die elektrischen Leitungskanäle dringen und dann genmanipulierte | |
Bakterien hinausschleppen könnten.“ | |
## Buckelfliegen auf Feuerameisen | |
In den USA ist die aus Brasilien eingeschleppte Feuerameise eine Plage, der | |
sich mehrere Forschungsinstitute widmen, um sie zu bekämpfen – bisher | |
erfolglos, deswegen auch ihr Name: Solenopsis invicta – die Unbesiegte. Man | |
setzte sogar Kampfbomber ein, die Insektizide versprühten, zuletzt eine | |
winzige Buckelfliege, die auf Feuerameisen aus ist und ihrer Duftspur | |
folgt, um ein Ei in sie zu injizieren. Ihre Larve frisst sich durch den | |
Körper bis in den Kopf, wo sie sich verpuppt und dann durch den zuvor | |
entfernten Schädel ins Freie fliegt. Die Feuerameise dehnt sich mit ihren | |
Kolonien über große Gebiete aus und verdrängt alle anderen Ameisenarten, | |
ihr Biss ist sehr schmerzhaft. | |
Die hiesige Rote Waldameise gilt dagegen als nützlich, weil sie | |
Waldschädlinge, etwa Raupen, vertilgt. Daneben mag sie aber auch die süßen | |
Ausscheidungen der Blattläuse, die sie richtiggehend „melkt“. In den Tropen | |
gibt es einige Arten, die auf ähnliche Weise von einem Baum versorgt | |
werden, der süßen Saft ausscheidet und den sie durch Besiedlung vor seinen | |
Feinden schützen. Die Art Pseudomyrmex ferrugineus wird durch den Saft | |
ihres Akazienbaumes abhängig von ihm. | |
Als eine der schlimmsten invasiven Arten gilt die Argentinische Ameise, die | |
es inzwischen überall gibt. Ihre größte Kolonie befindet sich an der | |
Mittelmeerküste, wo sie sich 2007 bereits über 6.000 Kilometer erstreckte. | |
Man spricht dabei von „Superkolonien“, was anscheinend die Steigerung von | |
„Superorganismus“ ist. Es ist höchste Zeit, die Ameisenforschung endlich zu | |
entnazifizieren, also die Gesellschaftsforschung zu entbiologisieren. | |
13 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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