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# taz.de -- Die Wahrheit: Flieg, Fliege, flieg!
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (17) – heute mit
> Fliegenforschern, die mehr tun, als nur nervös die Beine ihrer Lieblinge
> zu zählen.
Bild: Brutal klebrige Fliegenfänger sind inzwischen streng verboten
Insektenforscher werden gern als „Fliegenbeinzähler“ abgetan. Aber das ist
gemein, denn man weiß längst: Fliegen haben sechs Beine. Warum sie sich
jedoch selbst in großer Gefahr noch die Zeit nehmen, um sich alle paar
Schritte mit ihrem hinteren Beinpaar erst ihre zwei Flügel und dann die
Beine zu putzen, das wird tatsächlich seit Langem von unzähligen
Brachycera-Spezialisten erforscht. Auch ihre vorderen zwei Beine putzen
sich die Fliegen ständig, was ihnen, verbunden mit den ruckartigen
Laufbewegungen, etwas derartig Nervöses gibt, dass die Forschung darunter
leidet.
Bei dem vorderen Beinpaar gehen einige Entomologen-Schulen, ähnlich wie
viele Erforscher von Bienen, davon aus, dass – wenigstens die gemeine
Stubenfliege (Musca domestica), die zur Familie der „echten Fliegen“ zählt
– dort ihre wesentlichen Sinnesorgane besitzt. Erst wenn diese etwas
Interessantes signalisieren, Zuckerwasser zum Beispiel, wird der Kopf
gesenkt – mit den „leckend-saugenden Mundwerkzeugen“, wie es im
Wikipediaeintrag heißt, dessen Autor sich im übrigen der obigen
Entomologenschule angeschlossen hat, wenn er schreibt: „An den
Fußendgliedern besitzen sie Chemorezeptoren, mit deren Hilfe sie Zucker
schmecken können.“ Und weiter: „Ihre Eier legen sie in faulenden Stoffen
und Exkrementen ab, von denen sich die Larven ernähren. Fliegen leben 6 bis
42 Tage, die Weibchen meist etwas länger. Ihre Fluggeschwindigkeit beträgt
ca. 2,9 Meter pro Sekunde (rund 10 km/h).“
## Nervöses Flügel- und Beinputzen
Andere Entomologen, die man zur Schule des Verhaltensbiologen Konrad Lorenz
zählen kann, deuten das nervöse Flügel- und Beinputzen als
„Übersprungsverhalten“. Dem liegt die Lorenz’sche Annahme zweier
entgegengesetzter „Instinkte“ zugrunde: Nahrungssuche (Gier, Angriff) und
Flucht, wobei die beiden Triebregungen sich blockieren und die „Energie“
auf ein drittes Verhalten (eben das Putzen) überspringt.
Eine weitere Gruppe Entomologen erforscht die Füße, mit denen die Fliege
auch auf glatten Flächen Halt findet, für diese Wissenschaftler gilt, dass
das Putzen der Beine die Haftfähigkeit der Füße erhöht. Andere Forscher
sind von den Augen, besonders der Märzfliege, begeistert. Der holländische
Biologe Midas Dekkers schreibt: „Sie sehen aus wie ein runder großer
schwarzer Po. Göttlich glänzend und aufreißend stramm, ein Lustobjekt für
jeden Entomologen … Bei den Männchen berühren sich die Augen in der Mitte
des Kopfes. Bei den Weibchen ist ein Spalt dazwischen. Und wie immer zeigt
sich auch hier die Güte Gottes im Detail: Nur bei den Männchen ist die
Spalte behaart.“
Ja, in so einer gewöhnlichen und für gewöhnlich lästigen Fliege steckt
unendlich viel Forschung. Die Fliegenfänger, auf denen sie klebenbleibt und
sich langsam zu Tode strampelt, sind deswegen zu Recht mit der letzten
Novellierung des Tierschutzgesetzes verboten worden. Zuvor hatte der
Schriftsteller Robert Musil bereits das grausame Sterben auf dem
„Fliegenpapier“, wie sein Text hieß, akribisch geschildert.
## Die Erfindung des Fliegenfängers
Der Naturforscher Carl von Linné erwähnte in seinem „Vollständigen
Natursystem“, Band 1: „Aus Martinique wird ein Fliegenfänger gebracht, der
oben braun und unten blaßfärbig ist. Buffon.“ Seiner knappen Bemerkung
lässt sich zweierlei entnehmen: Erstens – der alte Schwede hat sie wohl dem
französischen Naturforscher Buffon zu verdanken; zweitens – die Erfindung
dieses Fliegenfängers stammt aus der Karibik, wo es bedeutend wärmer als
hierzulande ist und es deswegen ganzjährig viel mehr Fliegen gibt. Das
Verbot klebriger Fliegenfänger bedeutet selbstverständlich nicht, dass man
sich der Tiere nicht mehr erwehren oder sie nicht verfolgen darf. Letzteres
kann man sogar als die Hauptbeschäftigung der Fliegenforscher bezeichnen.
Zu den hartnäckigsten Entomologen der jüngeren Generation zählt der
schwedische Schwebfliegenforscher Fredrik Sjöberg, der 2008 ein Buch über
seine Jagd auf diese Tiere veröffentlichte: „Die Fliegenfalle“. Er
beschränkte sich dabei auf die Arten, die auf einer Insel vor Stockholm
vorkommen. Dazu musste er sie fangen und dann „zu Tode mikroskopieren“, wie
der Naturforscher Ernst Haeckel das genannt hat.
Über das Schwebfliegenbuch von Sjöberg heißt es: „Jeder kennt diesen
Moment, in dem man sich fragt: Warum mache ich das eigentlich alles? Bei
Fredrik Sjöberg war er erreicht, als er sich mit einem Lamm im Arm auf den
Straßen Stockholms wiederfand. Das Tier sollte bei einer Theateraufführung
mitwirken, der Autor war dafür verantwortlich, dem Regisseur jeden Wunsch
zu erfüllen. In diesem Moment brach sich eine lange im Verborgenen gereifte
Erkenntnis Bahn: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Im
darauffolgenden Jahr ließ er sich auf einer Insel nieder und begann eine
lang unterdrückte Passion endlich auszuleben: Fliegen zu fangen und ihr
Leben zu studieren.“
In seinem neuesten Buch, das 2016 auf Deutsch erschien, fragte er sich
jedoch schon im Titel: „Wozu macht man das alles?“ Zwar hatte er auf seiner
Insel mehr Schwebfliegen-Arten als erwartet entdeckt, und bei einigen
handelte es sich sogar um noch unbenannte und verwandtschaftlich noch nicht
eingeordnete, das heißt: um neue Fliegen quasi, aber als Lebenswerk war
Sjöberg das anscheinend doch zu wenig. Deswegen ist in seinem neuen Buch
nun mehr von den zwei großen Natur-Benamern und -Sortierern – Carl von
Linné und Charles Darwin die Rede.
Bei den Schwebfliegen geht man von 6.000 Arten aus. Ihr Charakteristikum
ist, dass sie in der Luft auch bei starkem Wind auf der Stelle fliegen
können – dann plötzlich zur Seite oder nach vorne schießen und wieder
stehen bleiben. Auch dieses Verhalten hat etwas sehr Nervöses. Sie haben
laut Wikipedia eine extrem hohe „Flügelschlagfrequenz – bis zu 300 Hertz�…
Die Entomologen erforschen die Schwebfliegen jedoch wie gesagt meistens
„ruhiggestellt“, also tot auf ihrem Arbeitstisch.
Viele Schwebfliegenarten haben ein hummel-, wespen- oder bienenähnliches
Aussehen – „angenommen“ sagen die Insektenforscher und sprechen dabei von
„Mimikry“. Als Darwinisten gehen sie stets von der Nützlichkeit aus – und
die besteht in diesem Mimikry-Fall darin, dass ein harmloses Tier sich
einem wehrhaften aus einer ganz anderen Art in Form, Farbe, Geräusch etc.
angleicht. Das ist so einleuchtend, dass Woody Allen darüber seinen besten
Film gemacht hat: „Zelig“.
## Die Masken der Primitiven
Dem gegenüber hat die französische Insektenforscherschule um Roger Caillois
versucht, die Mimikry von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der
„Nützlichkeit“ zu lösen – und sie als ästhetische Praxis zu begreifen:…
versteht Caillois zum Beispiel die falschen Augen auf den Flügeln von
Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, die abschrecken und
Furcht erregen sollen – genauso wie die „Masken“ der sogenannten
Primitiven.
Überhaupt ist die Mimikry für ihn ein tierisches Pendant zur menschlichen
Mode, die man ebenfalls als eine „Maske“ bezeichnen könnte – die jedoch
eher anziehend als abschreckend wirken soll. Wobei das Übernehmen einer
Mode „auf eine undurchsichtige Ansteckung gründet“ und sowohl das
Verschwinden-Wollen (in der Masse) als auch den Wunsch, darin aufzufallen,
beinhaltet. So oder so stellt die Mimikry jedenfalls einen Überschuss der
Natur dar.
Die Fliegen bilden mitunter schon für sich genommen einen „Überschuss der
Natur“. Wobei der deutsche Naturschutzbund jedoch zu bedenken gibt, „dass
wir in der Stadt inzwischen eher zu wenig Fliegen haben, worunter vor allem
die Vögel, besonders während der Aufzuchtzeit, leiden.“ Das Verbot des
„Fliegenklebers“ kam also beinahe zu spät. Überdies sind Öko-Varianten
davon auch weiterhin erlaubt, unter anderem die „giftfreie, spiralförmige
Leimfalle aus natürlichen Rohstoffen“.
7 Nov 2016
## AUTOREN
Helmut Höge
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