# taz.de -- Die Wahrheit: Freunde in der Haft | |
> Biologie und Komik: Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (15) | |
> – heute mit Gefangenen, die zu tierischen Verhaltensforschern werden. | |
Bild: Burt Lancaster als „Birdman of Alcatraz“ im Jahr 1962 | |
Bei den meisten Tier- und Pflanzenforschungen ist das Objekt mehr oder | |
weniger fixiert. Die „Wahrheitssuche“ ist eine Art „peinliche Befragung�… | |
Nur selten ist es auch einmal umgekehrt. So zum Beispiel, als man Rosa | |
Luxemburg 1916 in einem Breslauer Gefängnis inhaftierte, weil sie gegen den | |
Krieg agitiert hatte, und sie dort dann von ihrem Zellenfenster aus | |
Blaumeisen beobachtete. In Briefen an ihre Freundin Sophie Liebknecht | |
berichtete sie darüber. | |
Auch der Dichter Ernst Toller forschte in der Haft: 1919 hatte man ihn | |
wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik zu fünf Jahren | |
Gefängnis verurteilt. In seiner Zelle brütete ein Schwalbenpärchen, über | |
das er 1924 ein „Schwalbenbuch“ veröffentlichte. Diese inhaftierten | |
Tierforscher richteten sich an der Lebensfreude der Vögel auf. | |
Der russische Priester Pawel Florenski erforschte in den dreißiger Jahren | |
bis zu seiner Erschießung im sowjetischen Straflager auf den Solowki-Inseln | |
Algen, die man industriell verwerten wollte. In Briefen an seine Kinder | |
berichtete er darüber, sie wurden im Jahr 2001 auf Deutsch veröffentlicht. | |
Eigentlich sei er mit seiner Isolierung auf den Solowki-Inseln am Ziel | |
seiner Wünsche angelangt, schrieb Florenski seiner Frau. | |
Als Jüngling habe er immer davon geträumt, ins Kloster zu gehen, jetzt lebe | |
er in einem, nur dass es eben zum Lager gehöre. Als Kind sei es sein | |
sehnlichster Wunsch gewesen, auf einer Insel zu wohnen, die Gezeiten zu | |
erleben und sich mit Algen zu befassen. „Nun bin ich auf einer Insel, hier | |
herrscht Ebbe und Flut, und ich werde mit Algen zu tun bekommen.“ | |
## Algen auf Inseln | |
Der sieben Jahre in der Bayreuther psychiatrischen Anstalt inhaftierte | |
Gustl Mollath nahm ein kleines Beerengewächs mit in die Freiheit: eine | |
„Dattelorange“. Für ihn sei dieser Zuchterfolg im Knast ein Zeichen, meinte | |
er: „Wenn man will, kann man vieles durchstehen.“ | |
Für Ernst Toller und Rosa Luxemburg war die Vogelbeobachtung mehr ein | |
Zeitvertreib in der Isolation, obwohl Rosa Luxemburg ihrer Brieffreundin | |
gestand, dass sie lieber Biologin als Politikerin geworden wäre – aber die | |
Zeiten waren nicht danach. Auch Ernst Toller kam von der Beobachtung | |
„seiner“ glücklich wirkenden Schwalben sogleich auf das Glück der ganzen | |
Menschheit zu sprechen. | |
Anders die amerikanische Biologin Elisabeth Tova Bailey in ihrem | |
wunderbaren Buch „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ (2012). Eine | |
rätselhafte schwere Krankheit zwang sie für lange Zeit, im Bett zu liegen. | |
Ihre Freundin besorgte ihr ein Haus auf dem Land und schenkte ihr eine | |
Pflanze, die sie an das Krankenbett stellte. Auf der Pflanze bemerkte die | |
Autorin irgendwann eine Schnecke. Damit sie nicht wegkroch, besorgte sie | |
sich ein Terrarium und beobachtete fortan das Tier darin. Dazu schaffte sie | |
sich jede Menge Literatur über Schnecken an, korrespondierte mit | |
Schneckenforschern in aller Welt und ist nun eine anerkannte | |
Schneckenexpertin. | |
Ähnlich der amerikanische Schwerverbrecher Robert Stroud, der sich während | |
seiner 54 Jahre dauernden Gefängnishaft zu einem anerkannten Experten für | |
Kanarienvögel entwickelte, die er in seiner Zelle züchten durfte. Er | |
schrieb zwei Bücher über Vogelkrankheiten, 1962 wurde sein Leben mit Burt | |
Lancaster verfilmt: „The Birdman of Alcatraz“. Stroud durfte den Film | |
jedoch nicht sehen, auch seine Bücher wurden erst nach seinem Tod | |
veröffentlicht. | |
Die meisten Menschen werden quasi aus Versehen Verhaltensforscher: Sie | |
schaffen sich ein Tier oder eine Pflanze an und sind sensibel genug, um | |
wenigstens die Minimalbedürfnisse dieses Wesens einer fremden Art | |
befriedigen zu wollen. Irgendwann wird das zu ihrer Haupt- oder | |
Lieblingsbeschäftigung und schon sind sie auf halbem Wege, um | |
beispielsweise Hunde- oder Rosenexperte zu werden. | |
Manche „Biophile“, wie die Liebhaber einer anderen Spezies auch genannt | |
werden, merken ihre Neigung erst, wenn es quasi zu spät ist, um noch einen | |
Rückzieher machen zu können. Sehr schön und witzig hat das Annemarie Beyer | |
in ihrem kleinen Buch „Mein Leben mit Igor“ beschrieben, dessen Untertitel | |
bereits erläutert: „Eines Tages verlor ich den Verstand und kaufte einen | |
grünen Leguan“. | |
## Verwandlung in einen Habicht | |
Ähnlich erging es der ebenso jungen englischen Historikerin Helen | |
Macdonald. Sie wurde fast irre, als sie in ihrem über fünf Jahre langen | |
engen Zusammenleben mit ihrem Habicht „Mabel“ wunschgetrieben dahin kam, | |
„ein Habicht zu werden“. In ihrem Buch „H wie Habicht“ (2015) schreibt … | |
„In meinem Unglück hatte ich den Habicht aber nur in einen Spiegel meiner | |
selbst verwandelt […] Irgendetwas lief schief. Sehr schief.“ | |
Sie erinnert sich an den An-thropologen Rane Willerslev, der das sibirische | |
Volk der Jukagiren erforschte. Dabei erfuhr er, dass „eine solche | |
Verwandlung bei den jukagirischen Jägern als sehr gefährlich gilt, weil man | |
dadurch den Kontakt zur Identität der eigenen Spezies verlieren und eine | |
‚unbemerkte Metamorphose durchlaufen‘ könne.“ Einige männliche | |
Rabenforscher bemerken in ihren Publikationen stolz, dass sie den Raben | |
immer ähnlicher werden. Was sie für einen Fortschritt in ihrer Wissenschaft | |
halten. | |
Man kann bei aller Tierliebe leicht den Kontakt zur eigenen Spezies | |
verlieren, indem man dabei vereinsamt. Die Leute schaffen sich nicht nur | |
ein Tier an, weil sie einsam sind, sondern vereinsamen auch, weil sie sich | |
ein Tier angeschafft haben. | |
So ging es zum Beispiel dem amerikanischen Moralphilosophen Mark Rowlands, | |
nachdem er sich einen kanadischen Wolf besorgt hatte, den er „Brenin“ | |
nannte und überall mit hinnahm, daneben joggte er mit ihm zwei Mal täglich | |
ausdauernd. Erst einmal ließ er ihn jedoch abrichten: Mit der | |
„Koehler-Methode“ lernte der Wolf laut Rowlands eine „Sprache“ und hatte | |
damit „die Chance, auf sinnvolle Weise“ mit seinem Besitzer | |
„zusammenzuleben, statt dass er im Garten hinter dem Haus eingesperrt und | |
vergessen wurde“. | |
Diese Sprache verschaffte ihm „eine Freiheit“ in der „menschlichen Welt�… | |
Mehr noch: „Wir können diese Sprache verstehen.“ Rowlands bekam erst eine | |
Dozentur in Irland, dann eine in Frankreich, Brenin war überall mit dabei, | |
in den Seminaren, auf Partys, in Kneipen, auf Reisen. | |
## Vegetarier mit Wolf | |
Als Rowlands merkte, dass er nicht mehr ausdauernd joggen konnte, schaffte | |
er sich zwei Schäferhunde an, mit denen der Wolf fortan herumjagte. | |
Rowlands Entlastung durch die Hunde hatte jedoch einen gegenteiligen | |
Effekt, zumal er auch beschlossen hatte, Vegetarier zu werden: „Allmählich | |
zogen wir uns aus der Welt der Menschen zurück“, schreibt er: „Ein | |
moralistischer Vegetarier, das seltsamste aller Geschöpfe, das dazu | |
verurteilt war, den Rest seiner kümmerlichen Existenz ohne die | |
geschmacklichen Wonnen von Tierfleisch zu durchleben. All das war einzig | |
und allein Brenins Schuld, woran ich ihn erinnerte, wenn ich wieder einmal | |
eines seiner Manöver zum Fangen von Kaninchen durchkreuzt hatte.“ | |
Den tierrechtlich engagierten Verfechtern der „Animal Studies“ wird | |
vorgeworfen, sie stellten „menschliches und tierisches Leben auf eine | |
Stufe“. Es ist in Wahrheit jedoch noch viel extremer – wie die finnische | |
Ornithologin Ulla-Lena Lundberg in ihrem Buch „Sibirien: Selbstporträt mit | |
Flügeln“ (2003) gestand: „Von Vogelbeobachtern heißt es, sie seien | |
Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht wurden. Darin liegt etwas | |
Wahres, und ich will nicht leugnen, dass ein Teil des Entzückens, mit | |
anderen Vogelguckern gemeinsam draußen unterwegs zu sein, in der | |
unausgesprochenen Überzeugung liegt, die Vögel verdienten das größere | |
Interesse.“ | |
4 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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