| # taz.de -- Die Wahrheit: Paaren und Mehren | |
| > Biologie und Komik: die lustige Tierwelt und ihre ernsthafte Erforschung | |
| > (12). Diesmal mit Wesen, die es animalisch treiben. | |
| Bild: Selbst die Schildkröten treiben es, wenn auch nur als Puppen für die Au… | |
| „Werdet selten!“, meinte Nietzsche. Ein Mückenschwarm kreist über einen | |
| Teich; aus dem Off raunt der Tierfilmer Heinz Sielmann: „Sie haben nur ein | |
| Interesse – sich zu vermehren.“ Der holländische Biologe Midas Dekkers | |
| sieht das anders: „Im Grunde sind Tiere gar nicht auf Elternschaft aus. Es | |
| ist nicht ihr Anliegen, die Art zu erhalten, sondern das von Mutter Natur. | |
| Läge es an den Tieren selbst, führten sie ewig ein lustiges | |
| Junggesellenleben.“ Zumal die Weibchen vieler niederer Tiere nach dem | |
| Eierlegen beziehungsweise Gebären sterben oder – wie zum Beispiel die | |
| australische Krabbenspinne – von ihrer Brut aufgefressen werden. | |
| Einige Embryologinnen am Pariser Institut Pasteur sind gar davon überzeugt, | |
| dass das Austragen eines Kindes und das Wachsen eines bösartigen Tumors | |
| identische Vorgänge sind: Der Fötus ist ein fremdes Stück Fleisch, ein | |
| Pfropf, den der Körper der Mutter abzustoßen versucht. Aber dem Fötus wie | |
| dem Krebs gelingt es, das Immunsystem seines Wirts erfolgreich zu | |
| blockieren. Zwischen ihnen gibt es laut den Embryologinnen nur einen | |
| wesentlichen Unterschied: „Aus der befruchteten Eizelle entwickelt sich ein | |
| neuer Staat, mit dem Krebs bricht dagegen die Anarchie aus.“ | |
| In der Biologie hat man nie einen Unterschied zwischen Verpaarung und | |
| Vermehrung gemacht. Am ganzen mehr oder weniger subtilen Spiel der | |
| Anbahnung einer Beziehung (und darüber hinaus) interessiert die | |
| Naturwissenschaften bloß die materielle Seite: Fakten über die Anzahl der | |
| männlichen Spermien, mit denen die Befruchtung erfolgt; Fakten über die | |
| Zahl der Jungen, die dabei entstehen; Fakten über die unterschiedlichen | |
| Penis- und Hodenformen; Fakten über die Gene, die weitergegeben werden . . | |
| . | |
| ## Die Ausbildung von saugenden Penissen | |
| Die meisten Fach- und Sachbücher über die Sexualität der Tiere gehen so | |
| weit, dass sie dem Spatz ebenso wie dem Löwen unterstellen, sie wollen | |
| partout, dass die Söhne und Töchter auch ganz sicher ihre eigenen sind. | |
| Dabei gibt es sogar unter den Menschen nicht wenige, ganze indigene Völker, | |
| die einen Zusammenhang zwischen Geschlechtsakt und Schwangerschaft nicht | |
| nur leugnen, sondern geradezu lächerlich finden. Aber die männlichen Tiere | |
| sollen es angeblich besser wissen. Deswegen tun sie alles, bis hin zur | |
| Ausbildung von Penissen, mit denen sie vor dem Akt die eventuell schon | |
| vorhandenen Spermien in der Scheide ihrer „Partnerin“ gleichsam raussaugen | |
| können. | |
| Die US-Biologin Olivia Judson erklärt dazu in ihrem Buch „Die raffinierten | |
| Sexpraktiken der Tiere“: „Ein Männchen, das es schafft, seine Partnerin so | |
| zu stimulieren, dass sie mehr von seinen Spermien als von denen seiner | |
| Nebenbuhler aufnimmt, oder das die Spermien seiner Konkurrenten irgendwie | |
| beseitigen kann, gibt eine größere Anzahl seiner Gene weiter als seine | |
| weniger kunstfertigen Rivalen. Folglich ist die erste Konsequenz weiblicher | |
| Promiskuität, dass Männchen unter einem stärkeren Druck stehen, sich | |
| untereinander in allen Aspekten der Liebe auszustechen.“ | |
| Aber auch die weiblichen Tiere besitzen genügend Vererbungswissen, indem | |
| sie nämlich nur die Männchen mit den besten (gesündesten) Spermien | |
| „wählen“. Und das sind immer die Farbenprächtigsten, Lautesten, Stärkste… | |
| Schnellsten und so weiter . . . Dabei geht es stets um ihren Nachwuchs, | |
| denn der ist zum Beispiel für den Biologen Josef Reichholf „die eigentliche | |
| ,Währung der Evolution' “. Ihre Anzahl ergibt zusammen mit der Zeit „die | |
| Leistung“. Die wilde Natur ist wie der Kapitalismus eine | |
| Leistungsgesellschaft. Wenn man dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz folgt, | |
| dann ist es nicht nur im Nazistaat, sondern auch in der Gänsegesellschaft | |
| so, dass das „Ehepaar“ das höchste Ansehen hat, das die meisten Jungen | |
| großzog. | |
| Nehmen wir einen Moment an, dass all diese Projektionen nur allzu wahr sind | |
| („Gänse sind schließlich auch nur Menschen“, wie Lorenz einmal sagte), da… | |
| gilt aber immer noch, was sich die Tiersexforscherin Olivia Judson | |
| eingesteht, dass bei all ihren „Fakten“ etwas Wesentliches fehlt: die Lust! | |
| Aber leider „wissen wir so gut wie gar nichts über die Evolution der Lust“. | |
| Dazu gehört zuvörderst eine gewisse Verständigung, zumindest in den meisten | |
| Fällen. Aber wie soll man das beispielsweise bei den Elefanten erforschen, | |
| die sich über mehrere Kilometer im Infraschallbereich „verständigen“, was | |
| jedoch für uns nicht vernehmbar ist. Oder wenn doch – mit Hilfe von | |
| Audiotechnik, wie es Professor John Lilly bei den noch weiter reichenden | |
| Lautäußerungen von Delphinen tat, dann weiß man immer noch nicht, was sie | |
| damit sagen wollen. Stattdessen zu erforschen, wie eine Art sich vermehrt, | |
| führt jedoch bloß dazu, dass man „unterhalb der Schafarten nur noch die | |
| Schafe zählen kann“, wie der Philosoph Michel Foucault einmal meinte, für | |
| den die animalische Liebe ein Fest war, das ihn traurig und glücklich | |
| zugleich machte. | |
| Um die „animalische Liebe“ studieren zu können, bedarf die „bisherige | |
| Nutzphysiologie“ (des Darwinismus) mithin einer „lustbiologischen | |
| Ergänzung“; eine solche veröffentlichte der ungarische Psychoanalytiker | |
| Sandor Ferenczi 1923. Darin ist die Rede von „Brückenbildungen des Küssens, | |
| des Umarmens“ und von der „großen Eintrocknungskatastrophe“ als Ur- und | |
| Geburtstrauma. Weswegen für ihn „nicht das Meer die Mutter symbolisiert, | |
| sondern die Mutter das Meer“, schreibt der Kulturwissenschaftler Peter Berz | |
| in „Die Einzeller und die Lust. Bölsche, Freud, Ferenczi“ (2012). | |
| Das „Ziel“ (im Feuchten) war einmal die „Verschmelzung“, bei den | |
| Vielzellern, auf dem Trockenen zumal, gibt es nur noch eine „Distanzliebe“ | |
| – mit der „Haut als Vermittlerin“ (aus der einst auch die Sinnesorgane | |
| hervorgingen): Sie (Wir) kennen keinen „Mischakt“ mehr, sondern bloß einen | |
| „Berührungs-Akt“. | |
| ## Die Zellteilung als Liebesakt einer Amöbe | |
| Ferenczi konnte sich auf das tausendseitige Werk „Liebesleben in der Natur. | |
| Entwicklungsgeschichte der Liebe“ stützen. Diesen Biologie-Bestseller, den | |
| die Freie Universität Berlin gerade neu herausgibt, veröffentlichte 1898 | |
| der „Naturalist“ sowie Gründer des „Friedrichshagener Dichterkreises“ … | |
| der Berliner Volksbühne Wilhelm Bölsche. Er begann darin ganz von vorne: | |
| „Wir haben keine Ahnung davon, was eine einzellige Amöbe, was eine Bakterie | |
| empfinden, wenn sie sich in zwei Stücke teilen. Es ist ihr Liebesakt. Warum | |
| soll sie nicht etwas dabei fühlen? Es ist nach allen Analogien | |
| selbstverständlich. Zugleich ist es der Urakt aller Liebe. Die Wollust wäre | |
| hier bei ihrem Urphänomen.“ Man ahnt das nur, aber wirklich „gewußt wird | |
| die Sache ganz sicher innerhalb unserer Leiber“. | |
| Gerhart Hauptmann, in dessen niederschlesischem Bergdorf Schreiberhau | |
| Wilhelm Bölsche zuletzt lebte, urteilte im Jahr 1931 über die | |
| „Lebensleistung“ seines Nachbarn in einer Festrede zu dessen 70. | |
| Geburtstag: „Das Interesse für die Natur und für die Wissenschaft von der | |
| Natur ist, zumal in Deutschland, zu einem sehr erheblichen Teil allein | |
| durch dich geweckt, gefördert und lebendig erhalten worden.“ | |
| Bölsche war ein Propagandist des Darwinismus, die animalische Liebe bestand | |
| für ihn in der Verquickung von Lust und Fortpflanzung und damit | |
| Arterhaltung. Mindestens bei den Rindern soll das aber ganz anders sein, | |
| wie der französische Schriftsteller Mehdi Belhaj Kacem in seiner | |
| „Philosophie im Kuhstall“ (2012) nahelegt: „Die Brunst ist ein Genuss für | |
| das Weibchen, nicht für das Männchen. Das Weibchen scheint ganze Tage lang | |
| einen quasi natürlichen Genuss zu empfinden, beim Koitus selbst empfindet | |
| es jedoch keine Lust. Umgekehrt zeigt das Männchen in der Brunstzeit kein | |
| Begehren wie das Weibchen . . . Soweit ein guter Kleinbauer wie ich das | |
| beobachten konnte.“ | |
| 29 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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