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# taz.de -- Die Wahrheit: Euterdeuter
> Die lustige Tierwelt und ihre ernsthafte Erforschung: Heute werden
> empfindsame und geschundene Rindviecher gewürdigt.
Bild: In manchen Fällen stimmt es: Kühe sind immer gleich, sie fühlen nichts
Für gewöhnlich sind Rinder friedlich, aber den Kühen unter ihnen, die immer
umfassender ausgebeutet werden, scheint es langsam zu reichen. Der Spiegel
registrierte bereits 2014: „Vermehrte Kuhangriffe sorgen für Schlagzeilen“,
was das Neue Deutschland nachdenklich auf ihren „zunehmenden Stress“
zurückführte. Inzwischen hat man aber auch Verständnis für ihren
Widerstand.
Als im Landkreis Mühldorf eine wegen nachlassender Milchleistung zum
Schlachthof gebrachte Kuh von dort flüchtete und sich im bayrischen Wald
versteckte, schlossen sich den Jägern etliche Reporter an, die sich auf die
Seite der Entflohenen schlugen, sie nannten die Kuh „Yvonne“, in der
Hoffnung, dass die alte Bauernregel – Tiere mit Namen tötet man nicht! –
ihr Überleben garantieren würde. Wegen Gefährdung des Straßenverkehrs hatte
man sie zum Abschuss freigegeben. Als sie sich auf einer Weide einer
Kuhherde anschloss, konnte sie dort aber eingefangen werden; Tierschützer
kauften sie daraufhin frei und brachten sie auf den Gnadenhof „Gut
Aiderbichl“.
In Bad Wurzbach ließ ein Bauer seine bisher im Stall gehaltenen Kühe
erstmalig auf die Weide. „Von dort liefen mehrere zum Hof zurück und
randalierten“, wie der Nordbayrische Kurier berichtete. „Sechs Kühe liefen
auf die Tenne des Wirtschaftsgebäudes, eine rannte zum Heulager und stürzte
ein Stockwerk tiefer. Drei Kühe durchbrachen eine Tür von der Tenne zum
alten Wohnhaus. Dort hielt das Gebälk im Treppenhaus dem Gewicht nicht
stand, sodass die Kühe zwei Etagen tief ins Erdgeschoss stürzten. Ein Tier
durchbrach gar eine alte Holzdecke und fiel in den ehemaligen
Schweinestall. Zwei Kühe wurden verletzt. Das alte Wohnhaus wurde erheblich
beschädigt.“
In Greifenstein griff eine junge „Mutterkuh“ eine Spaziergängerin an und
verletzte sie tödlich. Danach flüchtete sie mit ihrem Kalb in den Wald. Sie
wurde nicht erschossen, sondern eingefangen und kam ebenfalls mit ihrem
Kalb auf das Gut Aiderbichl. Der Kuh wurde ihr „Mutterinstinkt“ zugute
gehalten, der ihr den Angriff zum Schutz des Kalbs quasi gebot.
## „Amok-Kuh“ starb im „Kugelhagel“
Anders in München, dort erschoss ein Polizeitrupp eine „wild gewordene
Kuh“, die sich auf dem Schlachthof losgerissen und eine Joggergruppe auf
dem Bavariaring umgerannt hatte. Die Beamten hatten das Tier zuerst mit
ihren Pistolen bewegungsunfähig geschossen – und anschließend mit zwei
Gewehrschüssen erlegt. Der Spiegel sprach von einem „Kugelhagel“, in dem
die „Amok-Kuh“ starb. Schon am nächsten Tag wurden am Tatort Blumen
hinterlegt, sowie Grablichter in Milchflaschen angezündet und mit Zetteln
„an das Kuh-Drama erinnert“, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete. „Sie
wollte leben und floh vor dem Schlachthof“, stand auf einem.
So reagierten jetzt auch viele spanische Tierfreunde, als der Stier Lorenzo
in der Arena von Tereul den Torero Victor Barrio mit einem Hornstich ins
Herz tötete. Nachdem El Pais berichtet hatte, dass Lorenzo nun auf den
Schlachthof komme, und seine Mutter gleich mit (das sei Tradition bei den
Stierzüchtern, damit die „Linie“ dieser Stierfamilie aussterbe), bekundeten
viele im Netz ihr Mitleid mit dem Tier. „Du bist der Held des Tages“,
posteten einige, andere meinten, Lorenzo dürfe nicht sterben, nur weil die
Menschen ihn in eine Arena zwangen. Die Stierkampfbefürworter stellten
dagegen Strafanzeigen gegen diese Tierschützeräußerungen.
Ähnliches geschah zuvor in Deutschland. Dort hatte sich die
Tierrechtsorganisation Animal Peace auf ihrer Internetseite gefreut: „Ein
dreijähriger Bulle hat nahe Köln seinen Sklavenhalter angegriffen und
tödlich verletzt. Der 61-jährige Landwirt wollte eine Schiebetür im Stall
reparieren. Als am Abend der Sohn den Stall betrat, um die Kühe zu melken,
entdeckte er die Leiche seines Vaters. Wir verneigen uns vor dem Held der
Freiheit. Mögen ihm viele weitere Rinder in den Aufstand der Geknechteten
folgen.“
Es folgte erst einmal heftige Kritik an diesem Statement aus Bauernkreisen
und sogar eine Strafanzeige, sodass die Tierschützer sich gezwungen sahen,
ihre Äußerung zu verteidigen: „Wir haben mit keinem einzigen Wort den
getöteten Bauern verhöhnt“, sondern uns nur über den „Aufstand eines
Geknechteten“ gefreut. „Es ist eine politische und keine persönliche
Botschaft.“ Rinder sind „Subjekte, die fühlen und denken können und mit
diesen Gefühlen und Gedanken ein freies und unversehrtes Leben führen
wollen. Wie wir.“
## „Sie sind so ausgeglichen“
Was sagt die Kuhforschung dazu? Sie ist sich noch uneins. Der
Psychoanalytiker Jeffrey Masson besuchte einmal die Nutztierschau einer
Landwirtschaftsmesse in Neuseeland. Er wollte für sein Buch „The Emotional
World of Farm Animals“ (2007) einige seiner „Vorstellungen vom Gefühlsleben
der Rinder überprüfen und sprach mit zwei Frauen, die sich um die Tiere
kümmerten: „Ich sehe gutes rotes Fleisch“, sagte die eine, die andere
pflichtete ihr bei. Masson fragte weiter, wie es um ihre Gefühle stehe?
„Sie sind so ausgeglichen“, erfuhr er. „Sie sind immer gleich, sie fühlen
nichts.“
In diesem Moment vernahmen sie ein lautes Muhen. Masson fragte, was die
Kühe damit wohl sagen wollten. „Oh, das ist nichts“, versicherten die
beiden Kuhpflegerinnen ihm, „nur Kühe, die ihre Kälber rufen.“ Was denn
damit sei? „Nun, sie wurden getrennt und die Kälber haben Angst und rufen
nach ihren Müttern, und die haben Angst um die Kälber und rufen sie;
wahrscheinlich wollen sie sie beruhigen.“ Und das aus dem gleichen Mund,
der gerade gesagt hatte, diese Tiere hätten keine Gefühle.
Dazu eine Polizeimeldung aus Jockgrim: „Die Kühe einer Herde in
Rheinland-Pfalz haben ihr Wiedersehen in der Nacht zum Mittwoch laut
gefeiert und damit Verwirrung unter Menschen gestiftet. Beunruhigte
Ohrenzeugen riefen die Polizei wegen starken Lärms. Die Beamten trafen vor
Ort auf 20 ausgelassen muhende Kühe. Die Polizisten ermittelten ihre
Besitzerin. Diese erklärte, bei der Umsiedlung auf eine neue Weide seien
die Jungtiere zunächst von den alten Tieren getrennt worden. Das
anschließende Wiedersehen feierten die Rinder laut Polizei bis in die
Nacht.“
## „Jede Kuh eine Persönlichkeit“
Ähnlich widersprüchlich wie die Aussagen der beiden neuseeländischen
Kuhpflegerinnen sind die zweier Kuhexperten: Während die amerikanische
Öko-Farmerin Rosamund Young, Autorin des Buches „The Secret Lives of Cows“
(2003), versicherte: „Kühe können hochintelligent, mäßig intelligent oder
begriffsstutzig sein; freundlich, besonnen, aggressiv, fügsam,
erfindungsreich, stolz oder schüchtern“, kam der deutsche
Verhaltensforscher Bert Tolkamp zu der Erkenntnis, dass eine Kuh, die schon
lange liegt, wahrscheinlich bald wieder aufstehen wird – aber wenn sie erst
mal aufgestanden ist, ist es nicht mehr so leicht vorhersagbar, wann sie
sich wieder hinlegen wird. „Ich beobachte Kühe seit vielen Jahren“, sagte
der Kuhforscher, „deswegen kann ich mit einiger Kompetenz sagen: Kühe
können wirklich langweilig sein.“ Das Verhalten seiner Untersuchungsobjekte
sei „äußerst enttäuschend gewesen“.
Die Schweizer Sennerin Maria Müller erklärte dagegen in dem Interviewband
„Traum Alp“ (2015): „Für mich ist jede Kuh eine Persönlichkeit. In mein…
kleinen Herde mit 26 Kühen kenne ich jede einzelne. Es gibt die
Pflichtbewussten, die Verschlafenen, die Ehrgeizigen, die Talentierten, die
Frechen und die, die du immer zurechtweisen musst.“ Der Ethnologe Hans
Peter Duerr vermutet hinter dem neuen, gestiegenen Prestige der Schweizer
Sennerinnen „das Verlangen nach einer neuen Einfachheit“ und erinnerte
sich: „In einer Talkshow war mal eine Frau zu Gast, die auf einer Almhütte
lebt und vor allem die Euter ihrer Kühe bearbeitet. Das Publikum war
begeistert.“
12 Sep 2016
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Kühe
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