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# taz.de -- Die Wahrheit: Unbekannte Rammler
> Biologie und Komik: Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (9)
> – heute zu Gast bei Karnickels unterm Sofa.
Bild: Die einzige Waffe der Kaninchen gegen Fressfeinde ist ihre schier unertr�…
In Indien erzählt man sich folgenden Witz: Ein Europäer ist gestorben und
angeblich in den Himmel gekommen. Seine Witwe will sicher sein und versucht
über ein Medium mit dem Toten in Kontakt zu kommen, schließlich gelingt es
ihr: Sie fragt, wie es ihm gehe. „Prima“, antwortet er. „Wir essen
ausgiebig, vögeln und schlafen danach, dann essen wir wieder was, vögeln
ein bisschen und schlafen erneut – ein angenehmes Leben.“ – „Ich habe m…
den Himmel ganz anders vorgestellt“, erstaunt sich die Witwe. „Wieso
Himmel?“, fragt ihr Mann. „Ich bin jetzt ein Kaninchen und lebe in
Australien.“
Dort müssen viele Europäer ihre Wiedergeburt erlebt haben, denn bereits
kurz nachdem man die ersten englischen Kaninchen 1788 in Australien
ausgesetzt hatte, wurden sie – ebenso wie die weißen Siedler – zu einer
wahren Landplage. Von allen eingeführten Haustieren richteten sie „die
weiträumigsten Zerstörungen an“, weiß das Reiseportal
„australien-panorama.de“. Man hielt sie dort zunächst nur in kleinen
Ställen zum Schlachten, aber dann setzte der Jäger Thomas Austin auf seiner
Farm in Victoria 24 Wild- und Hauskaninchen aus.
## Tödliche Bio-Waffen
„Die Einführung von ein paar Kaninchen wird kaum Schaden anrichten, kann
mir aber auf meinem Jagdrevier ein Gefühl von Heimat geben“, soll er
seinerzeit erklärt haben. Die Farmer Westaustraliens versuchten die
Kaninchen ab 1901 mit einem 3.256 Kilometer langen „Rabbit-Proof Fence“ von
ihrem Land fernzuhalten. Zur Kontrolle wurden „Kanincheninspektoren“
eingesetzt, die auf Kamelen am Zaun entlangritten. Als das nicht half (im
Gegenteil: auch die Kamele verwilderten und wurden zu „Schädlingen“),
versuchte man es mit der künstlichen Einführung von Kaninchen-Pockenviren
(Myxomatose).
Der Nachteil war, dass diese „Kaninchenpest“ jedes Mal auf halber Strecke
bei den infizierten Populationen stehen blieb, weil der Rest inzwischen
immun dagegen geworden war. 200 australische Wissenschaftler arbeiten
seitdem ununterbrochen an neuen, für die Kaninchen noch tödlicheren
Ansteckungskrankheiten. 2015 berichtete das Wissenschaftsmagazin
„spektrum.de“: „Anscheinend ist das K5-Calicivirus die neue Superbiowaffe
gegen die Kaninchenplage. Dabei handelt es sich um einen aus Südkorea
importierten, deutlich infektiöseren Stamm des bereits seit 1995 in
Australien verbreiteten Kaninchen-Calicivirus (RHDV).“
Abgesehen von dieser Ausrottungswissenschaft wird über Kaninchen so gut wie
gar nicht geforscht, klagte der Zürcher Tierpsychologe und Zoodirektor
Heini Hediger. Auch die Institute für „Jagdwissenschaft“ (heute für
„Wildbiologie“) lassen die Kaninchen meist links liegen. Hediger zufolge
tragen Jäger sowieso nur wenig zum Wissen über Tiere bei: „Ein Schuss,
selbst ein Meisterschuss, ist eben niemals Beginn, sondern stets das Ende
einer allzu kurzen und meist nicht sehr vielsagenden Beobachtung.“
## Fasanenmeister und Karnickeldirektoren
Alfred Henrichs, der selbst viele Güter des preußischen Adels saniert
hatte, berichtete in seiner Autobiografie, dass man etwa auf der Herrschaft
Buchenhöh (vormals und ab 1945 wieder Żyrowa genannt) riesige Mengen Fasane
für die Jagd aufzog, an die jährlich 60.000 Hühnereier aus Galizien
verfüttert wurden, zusammen mit einer Unmenge von Kaninchen, die mit Haut
und Haaren gekocht und durch den Fleischwolf gedreht wurden. Für ihr
eingezäuntes Freigelände war ein „Karnickeldirektor“ verantwortlich, für
das Federvieh in den Volieren ein „Fasanenmeister“. Wenn die Vögel
ausgewachsen waren, wurden sie freigelassen, aber weiter gefüttert – bis
laut Henrichs „alles abgeschossen wurde, was vor die Flinte kam“.
An einem einzigen Jagdtag erschossen fünf Adlige, hinter denen jeweils zwei
Büchsenspanner gingen, rund 2.500 Tiere – meist Fasane und Kaninchen. Die
Jagd bildete laut Henrichs „das Zentrum ihres Denkens“. Dem Grafen auf
Buchenhöh machte es wenig, dass seine Fasanen- und Kaninchenaufzucht
irrsinnige Summen verschlang, er hatte die Tochter eines amerikanischen
Millionärs geheiratet. Wichtig war ihm vor allem, gelegentlich den Kaiser
als Jagdgast bei sich zu haben. „Ich erinnere mich eines Gutshauses, (…) in
dessen Salon in einer Vitrine ein weißer Damenhandschuh aufbewahrt und wie
eine Reliquie verehrt wurde. Ihn hatte die Dame des Hauses getragen, als
sie dem Kaiser vorgestellt wurde und er ihr einen angedeuteten Handkuß
gewidmet hatte.“
## City-Kaninchen auf der Verkehrsinsel
In Berlin lebten bis 1989 zigtausend Kaninchen unbehelligt im Todesstreifen
zwischen dem antiimperialistischen Doppelschutzwall. Sie gehörten der DDR,
aber der Westberliner Verleger Wagenbach kümmerte sich um sie –
publizistisch. Als die Mauer fiel, war Schluss mit lustig – auch für die
Kaninchen: Sie verteilten sich im gesamten Stadtraum. Eine Gruppe lebte
sogar auf der Verkehrsinsel am Moritzplatz. Mittlerweile berichtet der
Naturschutzbund (Nabu) jedoch, „dass man heute oft vergeblich nach ihnen
sucht, da ihre Zahl deutlich zurückgegangen ist.“
Hediger hat Wildkaninchen auf dem Land erforscht, der Verleger Wagenbach
die auf dem Grenzstreifen. Jetzt haben Ökologen der Frankfurter Universität
einige wesentliche Unterschiede im Leben von Wildkaninchen in der Stadt und
auf dem Land entdeckt. Wer den rührend naturalistischen Kaninchenroman
„Unten am Fluß“ (1972) von Richard Adams gelesen hat, weiß: Auf dem Land
siedeln Wildkaninchen in großen Gemeinschaftshöhlen. In der Stadt
„schrumpfen dagegen ihre Bauten, es gibt sogar Singlewohnungen,“ berichtete
die Süddeutsche Zeitung.
Der Bayreuther Biologe Dietrich von Holst erforschte seine Wildkaninchen
auf einem großen Versuchsgelände. Manchmal starb bis zu 80 Prozent der
Population durch Krankheiten und Raubtiere, sie erholte sich dank ihrer
enormen Vermehrungsrate immer wieder. Die durchschnittliche Lebensspanne
der Tiere betrug zweieinhalb Jahre, dominante wurden bis zu sieben Jahre
alt, während die rangniedersten schon wenige Tage nach Eintritt der
Geschlechtsreife vor lauter „Stress“ dahinsiechten.
## Weder lang noch witzig
Bei den Kindern sind Zwergkaninchen sehr beliebt, die sie gerne mehrmals am
Tag mit Apfelshampoo waschen („Kaninchen mögen doch gerne Äpfel!“). Zum
Entsetzen der betroffenen Mütter, die sie erst einmal auf dem Balkon
absetzen, vermehren sich Karnickel aber ohne Rücksicht auf das Inzesttabu.
Ich half mehrfach einer Prenzlauer-Berg-Mutter, die Tiere loszuwerden.
Schon nach kurzer Zeit winkten alle Kinderbauernhöfe ab: „Wir haben schon
zu viele!“ Schließlich trug ich sie zum Zoo in Charlottenburg, wo ich mich
am Wirtschaftshof jedes Mal in eine lange Schlange einreihen musste.
Die Kuscheltiere werden dort in zwei Gehegen gehalten. Einmal bemerkte eine
Mutter, als sie ihr Kaninchen zu den anderen setzte, dass es von drei
Rammlern heftig bedrängt wurde. Die Tierpflegerin versicherte ihr: „Keine
Angst, das gibt sich bald.“ Beruhigt verließ die Mutter die Halle. Zu mir
gewandt meinte die Pflegerin daraufhin: „Aber bis dahin haben wir es längst
verfüttert“. Das Leben eines jeden Kaninchens ist weder lang noch witzig.
Ich hatte allerdings eins, ein großes mit Namen Christoph, das einmal in
der Woche voller Übermut unseren Dackel und die Katze durch die Wohnung
jagte. Immer im Kreis. Allen dreien schien diese Umdrehung des Verhaltens
von Beute- und Raubtier großen Spaß zu machen.
4 Jul 2016
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Zoologie
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Biologie
Tierforschung
Pferde
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