| # taz.de -- Katastrophale Lage in Aleppo: „Wir haben nichts mehr“ | |
| > Bewohner senden verzweifelt Botschaften aus Ostaleppo. Regierungstruppen | |
| > feiern schon den Sieg, dann einigen sich die Rebellen auf einen Abzug. | |
| Bild: Regimetreue Kämpfer feiern als sie an fliehenden Zivilisten vorbeifahren | |
| Kairo taz | Es ist schwer herauszufinden, was genau in diesen Stunden in | |
| Aleppo geschieht. Offenbar haben die syrischen Regierungstruppen und ihre | |
| Hilfsmilizen aber die Einnahme der langjährigen Rebellenhochburg am | |
| Dienstag fast vollständig abgeschlossen. Das syrische Staatsfernsehen zeigt | |
| Bilder von auf der Straße in West-Aleppo tanzenden Menschen, nachdem die | |
| Rebellen offensichtlich gerade die Kontrolle über ihre letzten Gebiete in | |
| Ostteil der Stadt verlieren. | |
| Auf der anderen Seite häufen sich Berichte von Massakern, die | |
| Regierungstruppen von Präsident Baschar al-Assad, libanesische | |
| Hisbollah-Kämpfer und schiitische Milizen aus dem Irak unter der | |
| Zivilbevölkerung in Ost-Aleppo angerichtet haben sollen. Diese Berichte | |
| waren zunächst jedoch nicht zu verifizieren. | |
| Allerdings erklärte der Sprecher des UN-Büros für Menschenrechte in Genf, | |
| Rupert Colville, am Dienstagmittag, dass der UNO glaubwürdige Belege | |
| vorlägen, laut denen Regierungskräfte mindestens 82 Zivilisten getötet | |
| haben, darunter elf Frauen und 13 Kinder. Demnach wurden Menschen in ihren | |
| Wohnungen oder auf der Flucht auf der Straße erschossen. Als Täter nannte | |
| er eine bewaffnete schiitische Miliz aus dem Irak, die an der Seite der | |
| Assad-Truppen kämpft, namens Nujaba-Bewegung. | |
| Colville warnte vor Vergeltungsakten der Regierungstruppen und Milizionäre | |
| an Zivilisten. Das noch von den Rebellen in Ost-Aleppo gehaltene Gebiet von | |
| weniger als einem Quadratkilometer beschrieb der UN-Sprecher als „eine Ecke | |
| der Hölle“, deren Eroberung unmittelbar bevorstehe. Er sprach auch „von dem | |
| kompletten Zusammenbruch jeglicher Menschlichkeit in Aleppo“. | |
| Auch das Internationale Rote Kreuz hat einen fast schon flehenden Ton | |
| angenommen. „Das könnte die letzte Chance sein, in Aleppo Leben zu retten. | |
| Die Zeit läuft uns davon“, heißt es in einer Erklärung. | |
| Nicht nur in den vom Regime eroberten Gebieten werden Massaker befürchtet. | |
| Auch bei den weiter anhaltenden Kampfhandlungen rund um die verbliebene | |
| Rebellen-Enklave rissen die Horrormeldungen nicht ab. So zitiert das | |
| UN-Kinderhilfswerk Unicef einen Arzt in Ost-Aleppo, laut dem eine Gruppe | |
| von bis zu hundert unbegleiteten Minderjährigen in einem Gebäude Schutz | |
| gesucht habe, das nun unter schwerem Beschuss stehe. | |
| Aus den in den sozialen Medien verbreiteten Abschiedsbotschaften von | |
| Zivilisten aus Ost-Aleppo klingt die totale Verzweiflung. „Wir werden hier | |
| in Aleppo abgeschlachtet. Wir sind hungrig. Unsere Kinder werden | |
| abgeschlachtet. Wir haben nichts mehr. Wo seid ihr, fürchtet ihr nicht | |
| Gott? Die uns hören können, fürchtet Gott. Wo seid ihr. Muslime und Araber, | |
| wo seid ihr?“, fleht ein alter Mann, der in der Mitte einer Straße steht, | |
| deren Gebäudeseiten zusammengebombt sind. „Rettet uns. Oh Gott, alle, die | |
| uns hören können, alle, die antworten können. Alle, die Gott geschaffen | |
| hat. Möget ihr in Frieden leben.“ Es ist ein Video, das seit der Nacht auf | |
| Dienstag überall in den arabischen sozialen Medien kursiert. | |
| In einem Tweet zu Ost-Aleppo heißt es zynisch: „Macht euch keine Sorgen, | |
| bald werden keine Videos und Bilder aus Aleppo mehr kommen. Wir werden | |
| aufhören, euch mit unseren grausamen Bildern und Horrorgeschichten zu | |
| bombardieren.“ | |
| Exemplarisch für viele auch der Tweet des Fotografen unter dem | |
| Twitter-Namen Ameen al-Halabi: „Ich warte darauf zu sterben, vom | |
| Assad-Regime gefangen genommen zu werden. Betet für mich und erinnert euch | |
| an uns.“ Jouad al-Khateb hat in einem der von den Rebellen noch | |
| kontrollierten Gebiete ein Video auf Facebook gepostet. „Stoppt den | |
| Wasserfall an Blut …Es ist inzwischen normal, dass eine Rakete | |
| herunterkommt, 20 bis 30 Menschen tötet, die dann unter den Trümmern | |
| liegen, und keiner holt sie raus. Es gibt ohnehin keinen Platz mehr, sie zu | |
| begraben, lasst sie unter den Trümmern begraben“, sagt er, während im | |
| Hintergrund Explosionen zu hören sind. Dann endet er: „Ich glaube, das ist | |
| mein letztes Video. Es hat sowieso keinen Sinn, zu euch zu reden.“ | |
| ## „Ich habe meinen Glauben verloren“ | |
| Auch Abdel Kafi al-Hamado, ein Englisch-Lehrer in Ost-Aleppo, der in den | |
| letzten Tagen oft in den internationalen Medien zu Wort kam, hat eine Art | |
| Abschiedsvideo gedreht. „Ich habe meinen Glauben an die Vereinten Nationen | |
| und an die internationale Gemeinschaft verloren“, beginnt er. Er sitzt in | |
| einer Regenjacke an eine Hauswand gelehnt, draußen plätschert der Regen. | |
| „Russland will, dass wir hier nicht lebend herauskommen. Assad hat das | |
| gleiche Ziel. Es gibt viele Feiern im anderen Teil Aleppos. Sie feiern über | |
| unsere Leichen“, fährt er fort. Dann appelliert er noch einmal: „Vielleicht | |
| könnt ihr noch etwas machen, vielleicht kommen wir hier raus und wir können | |
| doch noch einmal miteinander sprechen.“ | |
| Wirklich daran zu glauben scheint er nicht. „Ich hoffe, ihr werdet euch an | |
| uns erinnern – vielen Dank“, verabschiedet sich der Lehrer. Dann schwenkt | |
| die Kamera von ihm auf einen zerbombten Straßenzug. | |
| Einzig praktischer Hoffnungsschimmer ist ein Treffen zwischen türkischen | |
| und russischen Offiziellen. Bei dem soll am Mittwoch erneut über einen | |
| Waffenstillstand und das Öffnen eines Korridors diskutiert werden – wenn es | |
| dann in Sachen Ost-Aleppo überhaupt noch etwas zu verhandelt gibt. | |
| Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte bereits vorab, sein Land werde | |
| einer Feuerpause nur zustimmen, wenn zuvor Korridore für den Abzug von | |
| Kämpfern und Zivilisten aus dem belagerten Stadtgebiet vereinbart seien. | |
| Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Dienstag, die Lage in Aleppo sei | |
| „desaströs, sie bricht einem das Herz“. | |
| Die wohl vorausschauendste Internetbotschaft kommt nicht aus Aleppo, | |
| sondern von dem Menschenrechtsaktivisten Iyad al-Bagdadi, einem aus den | |
| Golfstaaten stammenden politischen Flüchtling, der heute in Norwegen lebt: | |
| „Massaker bringen keinen Frieden, sondern einen Kreislauf von Gewalt, Rache | |
| und Radikalisierung“, schreibt er auf Twitter und fügt hinzu: „Sagt später | |
| nicht, ihr hättet das nicht gewusst.“ | |
| 13 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Karim El-Gawhary | |
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