# taz.de -- Der Fall Jacob Appelbaum: Über Gerechtigkeit | |
> Jacob Appelbaum war ein Star der Hackerszene. Dann sagen mehrere Frauen, | |
> er habe sie sexuell genötigt. Er verliert Job, Kollegen, Freunde. Zu | |
> Recht? | |
Bild: Wo er auftaucht, nimmt er sich Raum, auch gegen Widerstände: Jacob Appel… | |
BERLIN/EINDHOVEN taz | Es geht in dieser Geschichte um vier Dinge. Erstens | |
um die Frage, ob Jacob Appelbaum unschuldig ist. Zweitens um die Frage, ob | |
dieser Mann ein Arschloch ist. Drittens um die Frage, ob er ein | |
Vergewaltiger ist. Und viertens geht es darum wie, unabhängig von der | |
Beantwortung dieser drei Fragen, mit einem Beschuldigten umgegangen werden | |
soll. | |
In einer Januarnacht 2014 soll Appelbaum einer neben ihm schlafenden Frau | |
in seiner Berliner Wohnung an die Scheide gefasst haben. Anfang Januar 2016 | |
soll er mit einer Frau gegen ihren Willen Sex auf seiner Couch gehabt | |
haben. Am 3. Januar 2016 zog er eine auf seinem Badewannenrand sitzende | |
Frau zu sich ins Wasser. | |
Diese Vorwürfe sind auf einer Homepage sehr detailliert nachzulesen. Acht | |
Männer und Frauen berichten dort, die meisten anonym, wie Appelbaum sie | |
durch sexuelle Übergriffe oder Mobbing zu Opfern gemacht haben soll. | |
Jacob Appelbaum ist einer der bekanntesten und glamourösesten Hacker und | |
Netzaktivisten der Welt, ein Rockstar der Szene, provokant, | |
geltungsbewusst, einer, der gerne mal seinen Kumpel Julian Assange, den | |
Chef der Enthüllungsplattform Wikileaks in dessen Exil in der | |
ecuadorianischen Botschaft anruft und den Hörer rüber reicht. Appelbaum ist | |
auch der Mann, der im Spiegel aufdeckte, dass Angela Merkels Handy vom | |
US-amerikanischen Geheimdienst NSA überwacht wurde. | |
## Er ist erledigt | |
Als die Seite mit den Vorwürfen am 3. Juni 2016 im Internet erscheint, ist | |
er erledigt. Seinen Job hat er da bereits verloren, viele alte Freunde und | |
Kollegen wenden sich von ihm ab. | |
Wenn ab dem 27. Dezember 2016 in Hamburg wieder über 12.000 Menschen zum | |
„33C3“ zusammenkommen, einem der größten Hackerkongresse der Welt, soll | |
dort in den Vorträgen und auf den Podien kein Wort über Jacob Appelbaum zu | |
hören sein. Auf diesem Kongress treffen sich die wichtigsten Hacker und | |
IT-Entwickler, Programmierer und sicher auch Geheimdienstmitarbeiter. Es | |
ist das Jahresereignis der Szene, in Deutschland, Europa und weit darüber | |
hinaus. | |
Der [1][Chaos Computer Club] (CCC), der den Kongress veranstaltet, ist eine | |
deutsche Hackervereinigung, seine Mitglieder sprechen als Experten zu | |
Computersicherheit und Datenschutz in Talkshows, vor dem | |
Bundesverfassungsgericht und in den Untersuchungsausschüssen deutscher | |
Parlamente. Das gibt dem Club eine politische Stärke, die international | |
einmalig ist. | |
Der Kongress, heißt es im CCC, sei nicht der richtige Ort, dem Drama um | |
Jacob Appelbaum ein Forum zu geben. Diese Bühne gab es in der Vergangenheit | |
oft genug. Etwa als sich Appelbaum im vergangenen Jahr hemmungslos betrank, | |
besoffen Frauen küsste, andere beleidigte und anschließend in sein | |
Hotelzimmer kotzte. Oder damals, 2013, beim Streit um die Frage, ob | |
Appelbaum einen Vortrag halten durfte. Einige fanden, dass es langsam mal | |
reichte mit der großen Jake-Show. Am Ende stand er dann doch wieder dort | |
vorn und präsentierte exklusiv einige der elaboriertesten | |
Überwachungsmethoden der NSA. Viele Zuhörer standen nach dem Vortrag auf | |
und applaudierten. | |
## Am Ende haben ihn immer alle bejubelt | |
Und das ist, im Wesentlichen, Charakterzug und Geschichte von Jacob | |
Appelbaum: Wo er auftaucht, nimmt er sich Raum, auch gegen Widerstände. Am | |
Ende jubelten dann doch stets die allermeisten. | |
Diese Geschichte ist mehr als nur ein Appelbaum-Drama. Es geht hierin um | |
Sittenbild und Rechtsverständnis einer digitalen Avantgarde, die mit | |
technischen Mitteln für Freiheit und Selbstbestimmung kämpft, gegen | |
Überwachung und Unterdrückung durch mächtige Konzerne und Staaten. Es geht | |
im Kern um die Frage, wie eine anarchistisch geprägte Community, in der | |
viele Menschen staatliche Institutionen ablehnen, Gerechtigkeit herstellen | |
will. | |
Es dauert nur wenige Tage nach Erscheinen dieser Homepage im Juni bis sich | |
nahezu die gesamte Hackerwelt von Jacob Appelbaum, geboren 1983 in der Nähe | |
von San Francisco, distanziert. An seinem Wohnhaus in Berlin prangt kurz | |
darauf ein Graffito: „Ein Vergewaltiger wohnt hier“. Sein Arbeitgeber, | |
[2][das Tor-Projekt], bei dem er zuvor Jahresgehälter von knapp 100.000 | |
US-Dollar bezieht, hat ihn zu dieser Zeit bereits fallen gelassen. | |
## Unerwünschte Person | |
Der von ihm einst in San Francisco mitgegründete Hackerclub Noisebridge | |
distanziert sich von ihm, der Chaos Computer Club erklärt ihn zur | |
unerwünschten Person. Appelbaum bleiben nur zwei Rückzugsräume: Ein paar | |
Freunde im Umfeld von Wikileaks, mit denen er immer wieder | |
zusammenarbeitet. Und ein Doktorandenprogramm an der Universität von | |
Eindhoven in den Niederlanden. | |
Es gibt dieses Büro, Raum 6.146, im sechsten Stock des Mathematikgebäudes | |
an der Technischen Universität in Eindhoven. Rechts neben der Eingangstür, | |
auf dem silbernen Namensschild, steht in der obersten Reihe in schwarzen | |
Buchstaben „J. Appelbaum“. In diesem Büro könnte Jacob Appelbaum vielleic… | |
nochmal etwas werden. Er könnte sich einen Doktortitel erarbeiten, sich mit | |
anderen die Halbfettmagarine teilen oder den angebrochenen Pinot Grigio, | |
Jahrgang 2013, der im Kühlschrank der Gemeinschaftsküche der | |
Forschungsgruppe „Coding Theory and Cryptology“ steht. Er könnte sich so | |
etwas wie eine bürgerliche Existenz aufbauen; wenn sie ihn lassen. | |
Im Rahmen dieser Recherche war es möglich, nicht nur mit vielen der Frauen | |
zu reden, die Jacob Appelbaum Vorwürfe machen, sondern auch mit ihm selbst. | |
Für diesen Text wurden über einen Zeitraum von mehreren Monaten Dutzende | |
Menschen befragt, unter ihnen viele der Anklägerinnen, Beteiligte, | |
Lebenspartner, Zeugen beider Seiten sowie Mitarbeiter und Führungskräfte | |
von Tor. Die meisten wollen nicht namentlich in Erscheinung treten. | |
## Abstinenz, Therapie und Monogamie | |
Jacob Appelbaum gibt sich heute geläutert, trinkt keinen Alkohol mehr und | |
geht regelmäßig in Therapie. Er führt seit Monaten eine monogame Beziehung | |
mit einer Frau. Seine Darstellung der Vorfälle ist auch nach Stunden und | |
Tagen der Gespräche konsistent. Sie stimmt in vielen Details mit dem | |
überein, was andere erzählen. Dazu gehört, dass Jacob Appelbaum allerlei | |
einräumt und bereut. | |
Er räumt ein, eine Frau am 3. Januar 2016 in seine Badewanne gezogen zu | |
haben, dass er oft betrunken war und zu viele Witze auf Kosten anderer | |
gemacht hat. So wie damals, als er mit einem Tor-Entwickler darüber | |
scherzte, welche Sexspielzeuge Appelbaum dessen Tochter empfehlen würde. | |
Oder als er einem Tor-Mitarbeiter sagte, dass eine sexuelle | |
Rekrutierungsstrategie bei ihm offenbar gewirkt habe. Das sollte ein Witz | |
sein, sagt Appelbaum heute, und dass er den heute nicht mehr machen würde. | |
Was er jedoch nicht einräumt: Dass er ein Vergewaltiger sein soll. Und es | |
gibt, Stand heute, keinen belegbaren Beweis dafür, dass er es doch ist. | |
Es gibt statt dessen Vorwürfe, deren Grundlage, Zustandekommen und | |
Präsentation viele Fragen aufwerfen. Kurz nachdem die Internetseite mit den | |
Vorwürfen online geht, entdeckt eine Frau, die in diesem Text nicht genannt | |
werden will, sich selbst in einer der Geschichten jener Homepage wieder und | |
ist fassungslos. | |
„Der Text“, sagt sie in einem Berliner Burger-Laden, in dem man auch mit | |
der digitalen Währung Bitcoin zahlen kann, „ist falsch in fast jedem | |
Detail“. Sie hatte mal einer Frau, die öffentlich meist unter dem Pseudonym | |
Isis Agora Lovecruft auftritt, von einem Vorfall mit Jacob Appelbaum | |
erzählt. Es ging dabei um einen Biss in ihre Lippe bei einem | |
leidenschaftlichen Kuss. Allerdings hat sie den Vorfall anders erlebt, als | |
er auf der Homepage geschildert wird. | |
## Zerreißprobe im Tor-Projekt | |
Die Betroffene wendet sich an eine Bekannte namens Alison Macrina. Sowohl | |
Lovecruft als auch Macrina werden in diesem Text noch eine zentrale Rolle | |
spielen. Nach dem Gespräch verschwindet kurz darauf die Geschichte der Frau | |
mit der aufgebissenen Lippe von der Homepage. Sie ist bis heute empört. Sie | |
sagt, wenn Appelbaum tatsächlich so schlimm wäre, wie er in der Geschichte | |
geschildert wurde, „hätte es eine Gefahr für mich sein können, meinen Fall | |
ohne meine Zustimmung zu veröffentlichen“. | |
Der Veröffentlichung geht noch eine andere Geschichte voraus, eine | |
Zerreißprobe bei dem weltweit wichtigsten Projekt, das es Menschen erlaubt, | |
anonym im Internet zu surfen. | |
Im März 2015 treffen sich in der spanischen Stadt Valencia Entwickler aus | |
allen Teilen der Welt, um technische und strategische Fragen zu besprechen. | |
Sie alle sind Teil des Tor-Projektes. Die Non-Profit-Firma Tor Project Inc. | |
stellt gemeinsam mit der sogenannten Tor-Community eine technische | |
Infrastruktur bereit, mit der Internetnutzer ihre Identität verschleiern | |
können. Das ist nützlich für Menschenrechtsaktivisten, Whistleblower und | |
Journalisten, aber auch für Waffenhändler, Pädophile und für Geheimdienste | |
aller Länder. Deswegen war es stets ein Politikum, wie das Tor-Netzwerk | |
beschaffen ist, wer es entwickelt und wer Einfluss darauf nimmt. Jacob | |
Appelbaum hat jahrelang als internationales Aushängeschild und Entwickler | |
für Tor gearbeitet. Er, der über enge Beziehungen zu Julian Assange und in | |
den inneren Zirkel von Wikileaks verfügt, steht aber auch immer wieder bei | |
Streitigkeiten im Mittelpunkt. | |
## Es beginnt bei einem Essen in Valencia | |
Bei einem Essen mit der Tor-Leitung in Valencia im März 2015, bei dem | |
Appelbaum nicht dabei ist, bricht eine Angestellte in Tränen aus. Sie sagt, | |
dass sie sich von ihm gemobbt fühle und dass sie von | |
Vergewaltigungsvorwürfen wisse. Bei Tor leiten sie daraufhin eine interne | |
Untersuchung ein. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die | |
Angestellte keine Belege für den Vergewaltigungsvorwurf vorbringen kann. | |
Die Mitarbeiterin sowie Appelbaum werden jeweils für zehn Tage suspendiert. | |
Ihr wird vorgeworfen, das Unternehmen schlecht zu reden. Ihm wird | |
vorgeworfen, sich unangemessen verhalten zu haben. Es geht dabei um das, | |
was er über Sexspielzeuge und Rekrutierungsstrategien gesagt hat. | |
Nach ihrer Suspendierung verlässt die Angestellte, die die Vorwürfe erhoben | |
hatte, Tor. Appelbaum bleibt. Nun beginnt der nächste Akt der Geschichte: | |
Es werden Gerüchte verbreitet. | |
In einer Nacht Mitte September 2015, bei einem Abendessen in Berlin | |
diskutieren einige seiner Gegner, wie Appelbaum entsorgt werden kann, wenn | |
er Tor nicht freiwillig verlässt. Eine der anwesenden Frauen soll gesagt | |
haben: „Wie können wir Jake töten?“ | |
Bereits zu diesem Zeitpunkt, lange bevor die Homepage mit den Vorwürfen | |
veröffentlicht wird, erhalten einige Persönlichkeiten der Hackerszene | |
wohlmeinende Ratschläge. Es sei ratsam, sich von Appelbaum fernzuhalten, | |
wenn man selbst keinen Schaden nehmen wolle, erfahren sie in persönlichen | |
Gesprächen. Zu diesem Zeitpunkt sind einige der Vorfälle, mitunter die | |
gravierendsten, die später präsentiert werden, noch gar nicht geschehen. | |
## Sexpartys auf MDMA | |
Ende 2015 verbreitet sich in Teilen der Szene das Wort „rapist“, zu | |
deutsch: „Vergewaltiger“. Immer wieder wird es weiterhin, als sei nichts | |
geschehen, als sei nichts im Schwange, Sexpartys geben, mit zwei, drei, | |
vielen Beteiligten, mal in der Wohnung von Jacob Appelbaum, mal woanders, | |
oft wird dabei viel getrunken und meistens ist MDMA im Angebot, eine Droge, | |
die entgrenzend wirkt und locker macht. | |
Man kann sich fragen, was sich einer wie Appelbaum, einer der bekanntesten | |
Feinde der NSA, der seit Juni 2013 aus Angst vor Verfolgung durch die | |
US-Geheimdienste im Berliner Exil lebt und bei jeder Gelegenheit sein | |
Laptop im Auge behält, der anderen Vorträge hält über „operative | |
Sicherheit“, was so jemand sich dabei gedacht hat, weiterhin einen solchen | |
Lebensstil zu pflegen, obwohl sich die Schlinge um seinen Hals immer weiter | |
zuzieht. | |
Für ihn selbst, sagt Appelbaum, sei es doch immer ein Schutz gewesen, sich | |
durch maximale Offenheit unerpressbar zu machen. Dass fast jeder wusste und | |
wissen konnte, was in der Szene und auch bei ihm so abging. Gerade deshalb | |
habe er doch darauf geachtet, dass etwa beim Gruppensex stets klar blieb, | |
wer was wolle und wer nicht. Sex vor anderen, bei offener Tür – welche | |
bessere Garantie gibt es, möglichen Vorwürfen vorzubeugen? | |
Dass Appelbaum, der sich Feminist nennt, der jahrelang für eine Pornoseite | |
namens Kink.com arbeitet, die sich auf sadomasochistische Sexfantasien | |
spezialisiert hat, einen offenen, entgrenzten Umgang mit Sex pflegt, daraus | |
macht er nie ein Geheimnis. Im Duktus und Selbstbild der Szene liest sich | |
dieser Lebensstil – das Hacken, die Partys, das grenzenlose Gefühl, die | |
Welt für sich zu entdecken, zu erkämpfen – wie der höchste Ausdruck eines | |
selbstbestimmten Lebens. Es sind viele, die sich davon inspirieren lassen. | |
Es sind auch viele, um es etwas anders auszudrücken, die mitficken. | |
Viele der Momente, die später zu Vorwürfen werden, entstehen im Kontext | |
solcher Situationen, in denen vieles auf Nähe und Körperkontakt angelegt | |
ist, in denen Grenzen verschwimmen. Eine dieser Schilderungen ist die einer | |
Frau, die sich „Sam“ nennt, hinter dem Pseudonym steckt die US-Amerikanerin | |
Alison Macrina. Sie arbeitet bis heute für das Tor-Projekt und sagt, die | |
Geschichte von „Sam“ sei ihre Geschichte. | |
## Sie sagt, er habe „manipulative Kräfte“ | |
Damals, am Rande der Konferenz im März 2015 in Valencia, wo die ersten | |
Vorwürfe gegen Appelbaum erhoben worden waren, haben sich die beiden zum | |
ersten mal getroffen. Laut Appelbaum begann die Begegnung mit Oralsex in | |
einem Hotelzimmer. Die beiden hätten auch später noch geflirtet und | |
HIV-Testergebnisse ausgetauscht, um, so sah es Appelbaum, ungeschützt Sex | |
haben zu können. Er sagt, er habe sich in sie verliebt. Erst Monate später, | |
beim Kongress des Chaos Computer Club im Dezember 2015, wo sie gemeinsam | |
auf der Bühne stehen, sehen sie sich erstmals wieder. Am 3. Januar 2016 | |
besucht sie ihn in Berlin. | |
Appelbaum erzählt darüber in stundenlangen Gesprächen auf der immer | |
gleichen Parkbank in Berlin-Mitte oder, noch einmal, im Berliner | |
Soho-House, einem Club nur für Mitglieder, in dem während eines Gesprächs | |
Thomas Gottschalk vorbeiläuft. | |
Aus Appelbaums Perspektive ist an diesem Abend Folgendes passiert: Sie, auf | |
die er sich lange gefreut hat, besucht ihn nach monatelangen Chats in | |
seiner Wohnung. Für ihn ist klar, dass es um Sex gehen wird. Sie ist | |
kokett. Sie spielt ein Spiel von Nähe und Distanz. Vielleicht ist sie auch | |
unentschieden. Sie möchte jedenfalls nicht mit ihm in die Wanne. Das sagt | |
sie auch deutlich. Allerdings setzt sie sich halbnackt, nur noch mit | |
Schlüpfer und Hemdchen auf den Wannenrand und taucht ihre Füße zu ihm ins | |
Wasser. | |
Als er sie dann zu sich zieht, reagiert sie verletzt und verlässt die | |
Wanne. „Ich dachte, sie sei aufgebracht, weil ihre Unterwäsche nass | |
geworden war. Dieser Eindruck verstärkte sich, als wir danach in mein | |
Schlafzimmer gingen und uns sehr explizit darauf einigten | |
Geschlechtsverkehr zu haben – der dann auch stattfand.“ Sie sprechen, sagt | |
er, auch darüber, ob sie es mit oder ohne Kondom machen wollen. | |
Die Geschichte, die auf der Homepage erscheint, erzählt nichts von diesem | |
Sex. Der Vorwurf, der Appelbaum dort gemacht wird, ist in diesem Fall | |
lediglich, dass er die halbnackte Frau zu sich ins Wasser gezogen hat. | |
Alison Macrina schildert das, was sie in Appelbaums Wohnung erlebt hat, | |
ganz anders: „Ich habe gedacht, what the fuck, du musst raus aus dieser | |
Situation, warum bist du in dieser Badewanne mit diesem Mann, obwohl du ihm | |
mehrmals nein gesagt hast“, schreibt sie auf der Homepage. „Irgendwie sagst | |
du ihm nein und er überzeugt dich, dass das, was du gerade gesagt hast, ein | |
Ja war.“ Macrina sagt, Appelbaum verfüge über „manipulative Kräfte“. | |
Sie schildert auch ihren eigenen Anteil an dem, was in seinem Badezimmer | |
passiert ist. Sie schreibt auf der Homepage über den Restalkohol in ihrem | |
Körper, ihre Unentschlossenheit – was oft vorkommen mag in der Welt; nur | |
dass die Szene in diesem Fall als Puzzleteil Eingang findet in das | |
zusammengefügte Bild einer öffentlichen Verurteilung, nicht vor Gericht, | |
sondern auf einer Internetseite. Manche sagen Pranger dazu. | |
## Die Idee einer „transformativen Justiz“ | |
Alison Macrina ist Befürworterin einer „transformativen Justiz“. Sie glaubt | |
daran, dass Gerechtigkeit nicht durch staatliche Justizsysteme hergestellt | |
werden sollte, sondern durch das gemeinsame Verbessern der Bedingungen in | |
einer Gemeinschaft. Dadurch, dass Strukturen verändert werden, die | |
Ungerechtigkeit erzeugen. Diese teils feministisch inspirierte Idee folgt | |
der Erfahrung, dass Frauen, die sexuelle Übergriffe geltend machen wollen, | |
vor Gericht kaum eine Chance haben. Alison Macrina wäre wahrscheinlich | |
keine Ausnahme. | |
Im Laufe dieser Recherche ändert sich ihre Version der Geschichte. Zuerst | |
berichtet sie in einem Telefonat im Juni, dass sie nach dem Vorkommnis in | |
der Badewanne direkt die Wohnung verlassen habe, „aufgewühlt und unter | |
Tränen“. Sie weint auch als sie den Vorfall einmal Ende August erneut | |
schildert: „Er hat versucht, Sex mit mir zu haben und berührte mich und | |
sich selbst ein bisschen, bevor ich die Energie hatte, mich aus der | |
Situation zu entfernen“, sagt Macrina. „Es war einvernehmlich in der Form, | |
dass ich nie nein gesagt hatte, aber nur weil er mich klein bekommen hat, | |
indem er mich immer und immer und immer wieder fragte, auch indem er mich | |
demütigte und einen Feigling nannte.“ | |
Es steht Aussage gegen Aussage. Das ist oft so, auch bei Gerichtsprozessen, | |
in denen es um sexuelle Übergriffe geht. Die Frauen müssen etwas beweisen, | |
das sie kaum belegen können. Deswegen fordern viele Feministinnen, dass den | |
Frauen in solchen Fällen grundsätzlich erst einmal geglaubt wird. | |
## An der Seite der Frauen | |
In dieser Situation hat sich das Unternehmen Tor für etwas entschieden: Es | |
steht an der Seite der Frauen. Das geht soweit, dass eine Tor-Sprecherin | |
Männern, die Entlastendes aussagen, vorwirft, Teil einer Verschwörung zu | |
sein. Männliche Tor-Mitarbeiter sollen aus dem Projekt ausgeschlossen | |
werden, nachdem sie ausgesagt haben, einige Vorwürfe gegen Appelbaum ließen | |
sich nicht aufrechterhalten. | |
Die Männer waren an dem Abend dabei, als Jacob Appelbaum, das ist der | |
gravierendste Vorwurf gegen ihn, eine Frau auf der Couch in seinem | |
Wohnzimmer sexuell genötigt haben soll. Auf der Homepage wird beschrieben, | |
Appelbaum habe sie angefasst als sie „wieder zu Bewusstsein gekommen“ sei. | |
Ob oder warum sie vorher bewusstlos war, schreibt sie nicht. Die beiden | |
Zeugen sagen, sie hätten weder sexuelle Handlungen gesehen, noch dass die | |
Frau bewusstlos oder in Trance war, während sie neben ihr auf dem Sofa | |
saßen. | |
Auf der Homepage ist der Fall unter dem Pseudonym „River“ beschrieben. Die | |
Zeit hatte den Hergang des Abends [3][im August im Detail dargestellt] und | |
starke Zweifel am Vergewaltigungsvorwurf geäußert. Die taz kommt zu dem | |
gleichen Schluss. | |
Im ersten Halbjahr 2016 macht sich eine Frau, die in der Szene als Isis | |
Agora Lovecruft bekannt ist, daran, Jacob Appelbaum in seine Schranken zu | |
verweisen. Sie und Appelbaum verbindet ebenfalls eine Geschichte. Beide | |
lernen sich Ende 2010 kennen. Der Vorwurf, den Lovecruft unter dem Namen | |
„Forest“ vorbringt, bezieht sich auf eine Nacht im Januar 2014. Damals soll | |
Applebaum ihr, als sie neben ihm im Bett schläft, die Hose geöffnet und an | |
die Scheide gefasst haben. | |
## Sexuelle Schlafwandlerei | |
Appelbaum behauptet, dass er unter „Sexomnia“ leide, einer Form der | |
sexuellen Schlafwandlerei. Er hält den Vorfall, den Lovecruft beschreibt, | |
deshalb nicht für unmöglich, allerdings erinnere er sich nicht daran. Nach | |
diesem Vorfall 2014 sucht die Frau, deren Programmierkünste in der | |
Hackerszene einen exzellenten Ruf genießen, weiter die Nähe zu Appelbaum. | |
Sie gehen gemeinsam mit anderen in die Sauna; mit ihrem Partner wohnt | |
Lovecruft zeitweise in Appelbaums Wohnung und sittet seinen damaligen Hund, | |
der den Spitznamen „Crypto Rosa Trotzki“ trägt. Beide wechseln in dieser | |
Beziehung von Nähe zu Distanz und wieder zurück. Mal redet sie schlecht | |
über ihn, mal redet er schlecht über sie. Zwischendurch arbeiten sie an | |
gemeinsamen Projekten. | |
Als Appelbaum im September 2015 an der Technischen Universität Eindhoven | |
ein Doktorandenprogramm beginnt, ist auch sie interessiert. Für Appelbaum | |
ist die Universitätsstelle in Eindhoven auch eine existentielle Stütze, | |
falls er, nach den Vorwürfen im März in Valencia, seine Arbeit beim | |
Tor-Projekt nicht fortsetzen kann. Lovecruft versucht schließlich, bei den | |
selben Professoren wie Appelbaum angenommen zu werden. | |
Am Ende wird ihr das nicht gelingen. Ein anderer Mensch wird jedoch das | |
Büro beziehen, das direkt neben Appelbaums liegt. Es ist der Lebenspartner | |
von Isis Agora Lovecruft oder einer ihrer Lebenspartner, das ist nicht | |
klar. Dieser Mann wird später Arbeiten von Appelbaum bewerten, deren | |
Ergebnisse für dessen Vorankommen in der Universität wichtig sind. | |
Im Januar 2016, kurz nachdem sie an der Universität in Eindhoven abgelehnt | |
wird, beteiligt sich Isis Agora Lovecruft daran, Geschichten zu sammeln | |
über Jacob Appelbaum. Anfang 2016 scheint sie sich dann zu entschließen, | |
Appelbaum zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Zuerst plant sie nicht, diese | |
zusammengetragenen Erzählungen publik zu machen. | |
## Keine freundschaftliche Mediation | |
In einem Chat Anfang Februar schlägt sie Jacob Appelbaum vor, eine | |
„Intervention“ beim Tor-Entwicklertreffen zu machen, das, wie im Jahr | |
zuvor, wieder im März in Valencia stattfinden soll. Er, so beschreibt es | |
Lovecruft, bedroht sie darauf hin. Appelbaum bestreitet das. „Während dem | |
eher einseitigen Gespräch beschrieb Jacob all die Zeit, die Anstrengungen | |
und die Wege, die er nutzte, um das Leben von jemandem zu zerstören, der | |
sich gegen ihn wehrte“, behauptet sie auf ihrem Blog. Damit war der Plan | |
einer freundschaftlichen Mediation gestorben. | |
Am 17. Februar schickt sie eine E-Mail an die Leitung des Tor-Projekts. | |
Danach gibt es ein Gespräch zwischen ihr, Alison Macrina und Tor-Chefin | |
Shari Steele. Was dann kommt, besiegelt das gesellschaftliche Ende von | |
Jacob Appelbaum. Am 2. Juni erscheint auf dem Blog von Tor ein Statement. | |
Darin steht: „Der langjährige Netzaktivist, Sicherheitsforscher und | |
Entwickler Jacob Appelbaum ist am 25. Mai von seiner Position im | |
Tor-Projekt zurückgetreten.“ | |
Parallel ringt die Tor-Führung mit Appelbaum um einen Auflösungsvertrag. | |
Appelbaum erhält eine Frist von ein paar Stunden, dem Vertrag zuzustimmen. | |
Er verweigert die Unterschrift. | |
Am 3. Juni 2016 geht die Homepage hoch. Wer dahinter steckt, ist bis heute | |
nicht zweifelsfrei bewiesen. | |
## „Dann muss es eben ein Inferno sein“ | |
Kurz nach dem Erscheinen der Homepage trifft eine Frau im Vier-Sterne-Hotel | |
Solaris im kroatischen Sibenik während einer Konferenz auf Isis Agora | |
Lovecruft. Die Frau sagt, sie sei dabei gewesen als Lovecruft am Computer | |
laut deutsche Rechtsparagrafen vorliest und in die Runde fragt, welche | |
Folge wohl eine Falschaussage vor einem deutschen Gericht haben könnte. | |
Dann, im weiteren Verlauf, sagt Lovecruft, laut der Zeugin: „Wenn ein | |
Inferno nötig ist, dann muss es eben ein Inferno sein.“ | |
An einem Tag Anfang Dezember 2016 ist das Zimmer mit der Raumnummer 6.146 | |
an der Technischen Universität Eindhoven, das Büro von Jacob Appelbaum, | |
wieder abgeschlossen. Er geht, sagt Appelbaum, derzeit nicht ohne | |
Begleitung auf den Campus. Er will Lovecruft und ihrem Partner nicht | |
begegnen. Auch dessen Büro gleich nebenan ist dunkel. Lovecrufts Partner | |
wurde schon seit Wochen nicht mehr auf dem Campus gesehen. Derzeit berät | |
die Universität darüber, ob Jacob Appelbaum das Doktorandenprogramm | |
fortsetzen darf. | |
Isis Agora Lovecruft und Alison Macrina bekleiden heute wichtige Positionen | |
bei Tor. Als Ergebnis einer internen Untersuchung hat die Chefin des | |
Unternehmens, Shari Steele, am 27. Juli mitgeteilt, zahlreiche Personen | |
hätten sexuell aggressives, unerwünschtes Verhalten von Jacob Appelbaum | |
gemeldet. Von Vergewaltigungsvorwürfen ist in diesem Statement keine Rede. | |
## Keine Bühne mehr für Jacob Appelbaum | |
Heute gibt es, auch im deutschen Chaos Computer Club, einige Menschen, die | |
bedauern, „dass wir Jacob Appelbaum aufgrund einer solchen Rufmordkampagne | |
mit abserviert haben“, sagt jemand. „Eigentlich“, sagt eine andere Person, | |
die nicht genannt werden will, „müsste man für ihn aufstehen, aber das wagt | |
niemand. Dazu war er einfach ein zu großes Arschloch.“ Es ist nicht die | |
einzige Person, die so denkt. Öffentlich sagt es niemand. | |
Als im Oktober 2016 das sogenannte Content-Team in Berlin zusammenkommt, um | |
über die inhaltliche Gestaltung des diesjährigen Kongresses des Chaos | |
Computer Clubs zu beraten, kommt auch der Vorschlag, Jacob Appelbaum eine | |
Bühne zu geben, um sich verteidigen zu können. Die Idee wird schnell | |
verworfen. Beim Kongress Ende Dezember wird niemand von den Beteiligten auf | |
einer der Bühnen reden dürfen. Eines der beliebtesten Spektakel der letzten | |
Jahre, der „State of the Onion“-Vortrag, bei dem es um Neuigkeiten aus der | |
Tor-Community geht, fällt aus. | |
Im letzten Jahr standen Alison Macrina und Jacob Appelbaum mit Shari Steele | |
und dem Tor-Mitbegründer Roger Dingeldine bei diesem Talk noch gemeinsam | |
auf der Bühne. Damals sagte Appelbaum: „Wir freuen uns, so viele neue | |
Gesichter präsentieren zu können. Dies ist nicht länger die Roger- und | |
Jake-Show. Das ist uns wirklich wichtig. Im nächsten Jahr werden wir | |
hoffentlich nicht mehr hier sein, aber noch immer am Leben.“ | |
10 Dec 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.ccc.de/ | |
[2] https://www.torproject.org/ | |
[3] http://www.zeit.de/2016/34/jacob-appelbaum-sexueller-missbrauch-vorwuerfe | |
## AUTOREN | |
Anna Catherin Loll | |
Martin Kaul | |
## TAGS | |
Jacob Appelbaum | |
Hacker | |
Sexualisierte Gewalt | |
Tor-Netzwerk | |
Schwerpunkt Chaos Computer Club | |
CCC-Kongress | |
Jacob Appelbaum | |
Russland | |
Daten | |
Jacob Appelbaum | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Tor-Netzwerk | |
Jacob Appelbaum | |
CCC-Kongress | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
#MeToo und der CCC-Kongress #34C3: Chaotischer Computer Club | |
Hacker_innen kritisierten vor dem Kongress, dass zwei mutmaßlich | |
übergriffige Männer nicht ausgeladen wurden. Der CCC reagierte planlos. | |
Musiktheater über den Fall Appelbaum: Koketterie am Badewannenrand | |
„Fuck the facts“: Die Neuköllner Oper in Berlin bringt die | |
Vergewaltigungsvorwürfe gegen Jacob Appelbaum auf die Bühne. | |
CCC-Kongress in Hamburg: Ach, reden wir nicht drüber | |
Auf dem Kongress treffen sich Hackerstars. Nicht dabei: Jacob Appelbaum. | |
Seit den Missbrauchsvorwürfen gegen ihn herrscht Schweigen. | |
Gestohlene E-Mail-Daten: Sicherheit als Fremdwort | |
Deutsche Behörden kritisieren Yahoo heftig. Der US-Konzern hat einen | |
gigantischen Datenklau eingestehen müssen. | |
Netzaktivist Jacob Appelbaum: Tor bestätigt Missbrauchsvorwürfe | |
Nach internen Untersuchungen bestätigt das Tor-Projekt die Anschuldigungen | |
gegen Appelbaum, wird aber nicht konkreter. Intern gibt es Konsequenzen. | |
Missbrauchsvorwürfe Jacob Appelbaum: Tage der Abrechnung | |
Jahrelang feierte die Hackerszene Jacob Appelbaum als Helden. Nun gibt es | |
schwerwiegende Vorwürfe und viele offene Rechnungen. | |
Tor-Aktivist Jacob Appelbaum tritt zurück: Missbrauchsvorwürfe gegen Hacker | |
Jacob Appelbaum hat das Anonymitätsprojekt TOR verlassen. Dem Netzwerk | |
zufolge gibt es Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen ihn. | |
Jacob Appelbaum beim Logan-Symposium: „Und jetzt betreibe ich Selbstmord“ | |
„Arrogant“, „scheiße“, „verlogen“: Mit einem furiosen Anfall geht … | |
Appelbaum in Berlin auf alte Kollegen los. Es ist eine persönliche | |
Abrechnung. | |
Jahresbilanz des TOR-Projekts beim CCC: Auftritt mit Zwiebelgeschmack | |
Der Anonymisierungsdienst TOR hatte ein schwieriges Jahr: Infiltration mit | |
FBI-Hintergrund, Vertrauensverlust. Nun soll alles besser werden. |