| # taz.de -- Der Fall Jacob Appelbaum: Über Gerechtigkeit | |
| > Jacob Appelbaum war ein Star der Hackerszene. Dann sagen mehrere Frauen, | |
| > er habe sie sexuell genötigt. Er verliert Job, Kollegen, Freunde. Zu | |
| > Recht? | |
| Bild: Wo er auftaucht, nimmt er sich Raum, auch gegen Widerstände: Jacob Appel… | |
| Berlin/Eindhoven taz | Es geht in dieser Geschichte um vier Dinge. Erstens | |
| um die Frage, ob Jacob Appelbaum unschuldig ist. Zweitens um die Frage, ob | |
| dieser Mann ein Arschloch ist. Drittens um die Frage, ob er ein | |
| Vergewaltiger ist. Und viertens geht es darum wie, unabhängig von der | |
| Beantwortung dieser drei Fragen, mit einem Beschuldigten umgegangen werden | |
| soll. | |
| In einer Januarnacht 2014 soll Appelbaum einer neben ihm schlafenden Frau | |
| in seiner Berliner Wohnung an die Scheide gefasst haben. Anfang Januar 2016 | |
| soll er mit einer Frau gegen ihren Willen Sex auf seiner Couch gehabt | |
| haben. Am 3. Januar 2016 zog er eine auf seinem Badewannenrand sitzende | |
| Frau zu sich ins Wasser. | |
| Diese Vorwürfe sind auf einer Homepage sehr detailliert nachzulesen. Acht | |
| Männer und Frauen berichten dort, die meisten anonym, wie Appelbaum sie | |
| durch sexuelle Übergriffe oder Mobbing zu Opfern gemacht haben soll. | |
| Jacob Appelbaum ist einer der bekanntesten und glamourösesten Hacker und | |
| Netzaktivisten der Welt, ein Rockstar der Szene, provokant, | |
| geltungsbewusst, einer, der gerne mal seinen Kumpel Julian Assange, den | |
| Chef der Enthüllungsplattform Wikileaks in dessen Exil in der | |
| ecuadorianischen Botschaft anruft und den Hörer rüber reicht. Appelbaum ist | |
| auch der Mann, der im Spiegel aufdeckte, dass Angela Merkels Handy vom | |
| US-amerikanischen Geheimdienst NSA überwacht wurde. | |
| ## Er ist erledigt | |
| Als die Seite mit den Vorwürfen am 3. Juni 2016 im Internet erscheint, ist | |
| er erledigt. Seinen Job hat er da bereits verloren, viele alte Freunde und | |
| Kollegen wenden sich von ihm ab. | |
| Wenn ab dem 27. Dezember 2016 in Hamburg wieder über 12.000 Menschen zum | |
| „33C3“ zusammenkommen, einem der größten Hackerkongresse der Welt, soll | |
| dort in den Vorträgen und auf den Podien kein Wort über Jacob Appelbaum zu | |
| hören sein. Auf diesem Kongress treffen sich die wichtigsten Hacker und | |
| IT-Entwickler, Programmierer und sicher auch Geheimdienstmitarbeiter. Es | |
| ist das Jahresereignis der Szene, in Deutschland, Europa und weit darüber | |
| hinaus. | |
| Der [1][Chaos Computer Club] (CCC), der den Kongress veranstaltet, ist eine | |
| deutsche Hackervereinigung, seine Mitglieder sprechen als Experten zu | |
| Computersicherheit und Datenschutz in Talkshows, vor dem | |
| Bundesverfassungsgericht und in den Untersuchungsausschüssen deutscher | |
| Parlamente. Das gibt dem Club eine politische Stärke, die international | |
| einmalig ist. | |
| Der Kongress, heißt es im CCC, sei nicht der richtige Ort, dem Drama um | |
| Jacob Appelbaum ein Forum zu geben. Diese Bühne gab es in der Vergangenheit | |
| oft genug. Etwa als sich Appelbaum im vergangenen Jahr hemmungslos betrank, | |
| besoffen Frauen küsste, andere beleidigte und anschließend in sein | |
| Hotelzimmer kotzte. Oder damals, 2013, beim Streit um die Frage, ob | |
| Appelbaum einen Vortrag halten durfte. Einige fanden, dass es langsam mal | |
| reichte mit der großen Jake-Show. Am Ende stand er dann doch wieder dort | |
| vorn und präsentierte exklusiv einige der elaboriertesten | |
| Überwachungsmethoden der NSA. Viele Zuhörer standen nach dem Vortrag auf | |
| und applaudierten. | |
| ## Am Ende haben ihn immer alle bejubelt | |
| Und das ist, im Wesentlichen, Charakterzug und Geschichte von Jacob | |
| Appelbaum: Wo er auftaucht, nimmt er sich Raum, auch gegen Widerstände. Am | |
| Ende jubelten dann doch stets die allermeisten. | |
| Diese Geschichte ist mehr als nur ein Appelbaum-Drama. Es geht hierin um | |
| Sittenbild und Rechtsverständnis einer digitalen Avantgarde, die mit | |
| technischen Mitteln für Freiheit und Selbstbestimmung kämpft, gegen | |
| Überwachung und Unterdrückung durch mächtige Konzerne und Staaten. Es geht | |
| im Kern um die Frage, wie eine anarchistisch geprägte Community, in der | |
| viele Menschen staatliche Institutionen ablehnen, Gerechtigkeit herstellen | |
| will. | |
| Es dauert nur wenige Tage nach Erscheinen dieser Homepage im Juni bis sich | |
| nahezu die gesamte Hackerwelt von Jacob Appelbaum, geboren 1983 in der Nähe | |
| von San Francisco, distanziert. An seinem Wohnhaus in Berlin prangt kurz | |
| darauf ein Graffito: „Ein Vergewaltiger wohnt hier“. Sein Arbeitgeber, | |
| [2][das Tor-Projekt], bei dem er zuvor Jahresgehälter von knapp 100.000 | |
| US-Dollar bezieht, hat ihn zu dieser Zeit bereits fallen gelassen. | |
| ## Unerwünschte Person | |
| Der von ihm einst in San Francisco mitgegründete Hackerclub Noisebridge | |
| distanziert sich von ihm, der Chaos Computer Club erklärt ihn zur | |
| unerwünschten Person. Appelbaum bleiben nur zwei Rückzugsräume: Ein paar | |
| Freunde im Umfeld von Wikileaks, mit denen er immer wieder | |
| zusammenarbeitet. Und ein Doktorandenprogramm an der Universität von | |
| Eindhoven in den Niederlanden. | |
| Es gibt dieses Büro, Raum 6.146, im sechsten Stock des Mathematikgebäudes | |
| an der Technischen Universität in Eindhoven. Rechts neben der Eingangstür, | |
| auf dem silbernen Namensschild, steht in der obersten Reihe in schwarzen | |
| Buchstaben „J. Appelbaum“. In diesem Büro könnte Jacob Appelbaum vielleic… | |
| nochmal etwas werden. Er könnte sich einen Doktortitel erarbeiten, sich mit | |
| anderen die Halbfettmagarine teilen oder den angebrochenen Pinot Grigio, | |
| Jahrgang 2013, der im Kühlschrank der Gemeinschaftsküche der | |
| Forschungsgruppe „Coding Theory and Cryptology“ steht. Er könnte sich so | |
| etwas wie eine bürgerliche Existenz aufbauen; wenn sie ihn lassen. | |
| Im Rahmen dieser Recherche war es möglich, nicht nur mit vielen der Frauen | |
| zu reden, die Jacob Appelbaum Vorwürfe machen, sondern auch mit ihm selbst. | |
| Für diesen Text wurden über einen Zeitraum von mehreren Monaten Dutzende | |
| Menschen befragt, unter ihnen viele der Anklägerinnen, Beteiligte, | |
| Lebenspartner, Zeugen beider Seiten sowie Mitarbeiter und Führungskräfte | |
| von Tor. Die meisten wollen nicht namentlich in Erscheinung treten. | |
| ## Abstinenz, Therapie und Monogamie | |
| Jacob Appelbaum gibt sich heute geläutert, trinkt keinen Alkohol mehr und | |
| geht regelmäßig in Therapie. Er führt seit Monaten eine monogame Beziehung | |
| mit einer Frau. Seine Darstellung der Vorfälle ist auch nach Stunden und | |
| Tagen der Gespräche konsistent. Sie stimmt in vielen Details mit dem | |
| überein, was andere erzählen. Dazu gehört, dass Jacob Appelbaum allerlei | |
| einräumt und bereut. | |
| Er räumt ein, eine Frau am 3. Januar 2016 in seine Badewanne gezogen zu | |
| haben, dass er oft betrunken war und zu viele Witze auf Kosten anderer | |
| gemacht hat. So wie damals, als er mit einem Tor-Entwickler darüber | |
| scherzte, welche Sexspielzeuge Appelbaum dessen Tochter empfehlen würde. | |
| Oder als er einem Tor-Mitarbeiter sagte, dass eine sexuelle | |
| Rekrutierungsstrategie bei ihm offenbar gewirkt habe. Das sollte ein Witz | |
| sein, sagt Appelbaum heute, und dass er den heute nicht mehr machen würde. | |
| Was er jedoch nicht einräumt: Dass er ein Vergewaltiger sein soll. Und es | |
| gibt, Stand heute, keinen belegbaren Beweis dafür, dass er es doch ist. | |
| Es gibt statt dessen Vorwürfe, deren Grundlage, Zustandekommen und | |
| Präsentation viele Fragen aufwerfen. Kurz nachdem die Internetseite mit den | |
| Vorwürfen online geht, entdeckt eine Frau, die in diesem Text nicht genannt | |
| werden will, sich selbst in einer der Geschichten jener Homepage wieder und | |
| ist fassungslos. | |
| „Der Text“, sagt sie in einem Berliner Burger-Laden, in dem man auch mit | |
| der digitalen Währung Bitcoin zahlen kann, „ist falsch in fast jedem | |
| Detail“. Sie hatte mal einer Frau, die öffentlich meist unter dem Pseudonym | |
| Isis Agora Lovecruft auftritt, von einem Vorfall mit Jacob Appelbaum | |
| erzählt. Es ging dabei um einen Biss in ihre Lippe bei einem | |
| leidenschaftlichen Kuss. Allerdings hat sie den Vorfall anders erlebt, als | |
| er auf der Homepage geschildert wird. | |
| ## Zerreißprobe im Tor-Projekt | |
| Die Betroffene wendet sich an eine Bekannte namens Alison Macrina. Sowohl | |
| Lovecruft als auch Macrina werden in diesem Text noch eine zentrale Rolle | |
| spielen. Nach dem Gespräch verschwindet kurz darauf die Geschichte der Frau | |
| mit der aufgebissenen Lippe von der Homepage. Sie ist bis heute empört. Sie | |
| sagt, wenn Appelbaum tatsächlich so schlimm wäre, wie er in der Geschichte | |
| geschildert wurde, „hätte es eine Gefahr für mich sein können, meinen Fall | |
| ohne meine Zustimmung zu veröffentlichen“. | |
| Der Veröffentlichung geht noch eine andere Geschichte voraus, eine | |
| Zerreißprobe bei dem weltweit wichtigsten Projekt, das es Menschen erlaubt, | |
| anonym im Internet zu surfen. | |
| Im März 2015 treffen sich in der spanischen Stadt Valencia Entwickler aus | |
| allen Teilen der Welt, um technische und strategische Fragen zu besprechen. | |
| Sie alle sind Teil des Tor-Projektes. Die Non-Profit-Firma Tor Project Inc. | |
| stellt gemeinsam mit der sogenannten Tor-Community eine technische | |
| Infrastruktur bereit, mit der Internetnutzer ihre Identität verschleiern | |
| können. Das ist nützlich für Menschenrechtsaktivisten, Whistleblower und | |
| Journalisten, aber auch für Waffenhändler, Pädophile und für Geheimdienste | |
| aller Länder. Deswegen war es stets ein Politikum, wie das Tor-Netzwerk | |
| beschaffen ist, wer es entwickelt und wer Einfluss darauf nimmt. Jacob | |
| Appelbaum hat jahrelang als internationales Aushängeschild und Entwickler | |
| für Tor gearbeitet. Er, der über enge Beziehungen zu Julian Assange und in | |
| den inneren Zirkel von Wikileaks verfügt, steht aber auch immer wieder bei | |
| Streitigkeiten im Mittelpunkt. | |
| ## Es beginnt bei einem Essen in Valencia | |
| Bei einem Essen mit der Tor-Leitung in Valencia im März 2015, bei dem | |
| Appelbaum nicht dabei ist, bricht eine Angestellte in Tränen aus. Sie sagt, | |
| dass sie sich von ihm gemobbt fühle und dass sie von | |
| Vergewaltigungsvorwürfen wisse. Bei Tor leiten sie daraufhin eine interne | |
| Untersuchung ein. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die | |
| Angestellte keine Belege für den Vergewaltigungsvorwurf vorbringen kann. | |
| Die Mitarbeiterin sowie Appelbaum werden jeweils für zehn Tage suspendiert. | |
| Ihr wird vorgeworfen, das Unternehmen schlecht zu reden. Ihm wird | |
| vorgeworfen, sich unangemessen verhalten zu haben. Es geht dabei um das, | |
| was er über Sexspielzeuge und Rekrutierungsstrategien gesagt hat. | |
| Nach ihrer Suspendierung verlässt die Angestellte, die die Vorwürfe erhoben | |
| hatte, Tor. Appelbaum bleibt. Nun beginnt der nächste Akt der Geschichte: | |
| Es werden Gerüchte verbreitet. | |
| In einer Nacht Mitte September 2015, bei einem Abendessen in Berlin | |
| diskutieren einige seiner Gegner, wie Appelbaum entsorgt werden kann, wenn | |
| er Tor nicht freiwillig verlässt. Eine der anwesenden Frauen soll gesagt | |
| haben: „Wie können wir Jake töten?“ | |
| Bereits zu diesem Zeitpunkt, lange bevor die Homepage mit den Vorwürfen | |
| veröffentlicht wird, erhalten einige Persönlichkeiten der Hackerszene | |
| wohlmeinende Ratschläge. Es sei ratsam, sich von Appelbaum fernzuhalten, | |
| wenn man selbst keinen Schaden nehmen wolle, erfahren sie in persönlichen | |
| Gesprächen. Zu diesem Zeitpunkt sind einige der Vorfälle, mitunter die | |
| gravierendsten, die später präsentiert werden, noch gar nicht geschehen. | |
| ## Sexpartys auf MDMA | |
| Ende 2015 verbreitet sich in Teilen der Szene das Wort „rapist“, zu | |
| deutsch: „Vergewaltiger“. Immer wieder wird es weiterhin, als sei nichts | |
| geschehen, als sei nichts im Schwange, Sexpartys geben, mit zwei, drei, | |
| vielen Beteiligten, mal in der Wohnung von Jacob Appelbaum, mal woanders, | |
| oft wird dabei viel getrunken und meistens ist MDMA im Angebot, eine Droge, | |
| die entgrenzend wirkt und locker macht. | |
| Man kann sich fragen, was sich einer wie Appelbaum, einer der bekanntesten | |
| Feinde der NSA, der seit Juni 2013 aus Angst vor Verfolgung durch die | |
| US-Geheimdienste im Berliner Exil lebt und bei jeder Gelegenheit sein | |
| Laptop im Auge behält, der anderen Vorträge hält über „operative | |
| Sicherheit“, was so jemand sich dabei gedacht hat, weiterhin einen solchen | |
| Lebensstil zu pflegen, obwohl sich die Schlinge um seinen Hals immer weiter | |
| zuzieht. | |
| Für ihn selbst, sagt Appelbaum, sei es doch immer ein Schutz gewesen, sich | |
| durch maximale Offenheit unerpressbar zu machen. Dass fast jeder wusste und | |
| wissen konnte, was in der Szene und auch bei ihm so abging. Gerade deshalb | |
| habe er doch darauf geachtet, dass etwa beim Gruppensex stets klar blieb, | |
| wer was wolle und wer nicht. Sex vor anderen, bei offener Tür – welche | |
| bessere Garantie gibt es, möglichen Vorwürfen vorzubeugen? | |
| Dass Appelbaum, der sich Feminist nennt, der jahrelang für eine Pornoseite | |
| namens Kink.com arbeitet, die sich auf sadomasochistische Sexfantasien | |
| spezialisiert hat, einen offenen, entgrenzten Umgang mit Sex pflegt, daraus | |
| macht er nie ein Geheimnis. Im Duktus und Selbstbild der Szene liest sich | |
| dieser Lebensstil – das Hacken, die Partys, das grenzenlose Gefühl, die | |
| Welt für sich zu entdecken, zu erkämpfen – wie der höchste Ausdruck eines | |
| selbstbestimmten Lebens. Es sind viele, die sich davon inspirieren lassen. | |
| Es sind auch viele, um es etwas anders auszudrücken, die mitficken. | |
| Viele der Momente, die später zu Vorwürfen werden, entstehen im Kontext | |
| solcher Situationen, in denen vieles auf Nähe und Körperkontakt angelegt | |
| ist, in denen Grenzen verschwimmen. Eine dieser Schilderungen ist die einer | |
| Frau, die sich „Sam“ nennt, hinter dem Pseudonym steckt die US-Amerikanerin | |
| Alison Macrina. Sie arbeitet bis heute für das Tor-Projekt und sagt, die | |
| Geschichte von „Sam“ sei ihre Geschichte. | |
| ## Sie sagt, er habe „manipulative Kräfte“ | |
| Damals, am Rande der Konferenz im März 2015 in Valencia, wo die ersten | |
| Vorwürfe gegen Appelbaum erhoben worden waren, haben sich die beiden zum | |
| ersten mal getroffen. Laut Appelbaum begann die Begegnung mit Oralsex in | |
| einem Hotelzimmer. Die beiden hätten auch später noch geflirtet und | |
| HIV-Testergebnisse ausgetauscht, um, so sah es Appelbaum, ungeschützt Sex | |
| haben zu können. Er sagt, er habe sich in sie verliebt. Erst Monate später, | |
| beim Kongress des Chaos Computer Club im Dezember 2015, wo sie gemeinsam | |
| auf der Bühne stehen, sehen sie sich erstmals wieder. Am 3. Januar 2016 | |
| besucht sie ihn in Berlin. | |
| Appelbaum erzählt darüber in stundenlangen Gesprächen auf der immer | |
| gleichen Parkbank in Berlin-Mitte oder, noch einmal, im Berliner | |
| Soho-House, einem Club nur für Mitglieder, in dem während eines Gesprächs | |
| Thomas Gottschalk vorbeiläuft. | |
| Aus Appelbaums Perspektive ist an diesem Abend Folgendes passiert: Sie, auf | |
| die er sich lange gefreut hat, besucht ihn nach monatelangen Chats in | |
| seiner Wohnung. Für ihn ist klar, dass es um Sex gehen wird. Sie ist | |
| kokett. Sie spielt ein Spiel von Nähe und Distanz. Vielleicht ist sie auch | |
| unentschieden. Sie möchte jedenfalls nicht mit ihm in die Wanne. Das sagt | |
| sie auch deutlich. Allerdings setzt sie sich halbnackt, nur noch mit | |
| Schlüpfer und Hemdchen auf den Wannenrand und taucht ihre Füße zu ihm ins | |
| Wasser. | |
| Als er sie dann zu sich zieht, reagiert sie verletzt und verlässt die | |
| Wanne. „Ich dachte, sie sei aufgebracht, weil ihre Unterwäsche nass | |
| geworden war. Dieser Eindruck verstärkte sich, als wir danach in mein | |
| Schlafzimmer gingen und uns sehr explizit darauf einigten | |
| Geschlechtsverkehr zu haben – der dann auch stattfand.“ Sie sprechen, sagt | |
| er, auch darüber, ob sie es mit oder ohne Kondom machen wollen. | |
| Die Geschichte, die auf der Homepage erscheint, erzählt nichts von diesem | |
| Sex. Der Vorwurf, der Appelbaum dort gemacht wird, ist in diesem Fall | |
| lediglich, dass er die halbnackte Frau zu sich ins Wasser gezogen hat. | |
| Alison Macrina schildert das, was sie in Appelbaums Wohnung erlebt hat, | |
| ganz anders: „Ich habe gedacht, what the fuck, du musst raus aus dieser | |
| Situation, warum bist du in dieser Badewanne mit diesem Mann, obwohl du ihm | |
| mehrmals nein gesagt hast“, schreibt sie auf der Homepage. „Irgendwie sagst | |
| du ihm nein und er überzeugt dich, dass das, was du gerade gesagt hast, ein | |
| Ja war.“ Macrina sagt, Appelbaum verfüge über „manipulative Kräfte“. | |
| Sie schildert auch ihren eigenen Anteil an dem, was in seinem Badezimmer | |
| passiert ist. Sie schreibt auf der Homepage über den Restalkohol in ihrem | |
| Körper, ihre Unentschlossenheit – was oft vorkommen mag in der Welt; nur | |
| dass die Szene in diesem Fall als Puzzleteil Eingang findet in das | |
| zusammengefügte Bild einer öffentlichen Verurteilung, nicht vor Gericht, | |
| sondern auf einer Internetseite. Manche sagen Pranger dazu. | |
| ## Die Idee einer „transformativen Justiz“ | |
| Alison Macrina ist Befürworterin einer „transformativen Justiz“. Sie glaubt | |
| daran, dass Gerechtigkeit nicht durch staatliche Justizsysteme hergestellt | |
| werden sollte, sondern durch das gemeinsame Verbessern der Bedingungen in | |
| einer Gemeinschaft. Dadurch, dass Strukturen verändert werden, die | |
| Ungerechtigkeit erzeugen. Diese teils feministisch inspirierte Idee folgt | |
| der Erfahrung, dass Frauen, die sexuelle Übergriffe geltend machen wollen, | |
| vor Gericht kaum eine Chance haben. Alison Macrina wäre wahrscheinlich | |
| keine Ausnahme. | |
| Im Laufe dieser Recherche ändert sich ihre Version der Geschichte. Zuerst | |
| berichtet sie in einem Telefonat im Juni, dass sie nach dem Vorkommnis in | |
| der Badewanne direkt die Wohnung verlassen habe, „aufgewühlt und unter | |
| Tränen“. Sie weint auch als sie den Vorfall einmal Ende August erneut | |
| schildert: „Er hat versucht, Sex mit mir zu haben und berührte mich und | |
| sich selbst ein bisschen, bevor ich die Energie hatte, mich aus der | |
| Situation zu entfernen“, sagt Macrina. „Es war einvernehmlich in der Form, | |
| dass ich nie nein gesagt hatte, aber nur weil er mich klein bekommen hat, | |
| indem er mich immer und immer und immer wieder fragte, auch indem er mich | |
| demütigte und einen Feigling nannte.“ | |
| Es steht Aussage gegen Aussage. Das ist oft so, auch bei Gerichtsprozessen, | |
| in denen es um sexuelle Übergriffe geht. Die Frauen müssen etwas beweisen, | |
| das sie kaum belegen können. Deswegen fordern viele Feministinnen, dass den | |
| Frauen in solchen Fällen grundsätzlich erst einmal geglaubt wird. | |
| ## An der Seite der Frauen | |
| In dieser Situation hat sich das Unternehmen Tor für etwas entschieden: Es | |
| steht an der Seite der Frauen. Das geht soweit, dass eine Tor-Sprecherin | |
| Männern, die Entlastendes aussagen, vorwirft, Teil einer Verschwörung zu | |
| sein. Männliche Tor-Mitarbeiter sollen aus dem Projekt ausgeschlossen | |
| werden, nachdem sie ausgesagt haben, einige Vorwürfe gegen Appelbaum ließen | |
| sich nicht aufrechterhalten. | |
| Die Männer waren an dem Abend dabei, als Jacob Appelbaum, das ist der | |
| gravierendste Vorwurf gegen ihn, eine Frau auf der Couch in seinem | |
| Wohnzimmer sexuell genötigt haben soll. Auf der Homepage wird beschrieben, | |
| Appelbaum habe sie angefasst als sie „wieder zu Bewusstsein gekommen“ sei. | |
| Ob oder warum sie vorher bewusstlos war, schreibt sie nicht. Die beiden | |
| Zeugen sagen, sie hätten weder sexuelle Handlungen gesehen, noch dass die | |
| Frau bewusstlos oder in Trance war, während sie neben ihr auf dem Sofa | |
| saßen. | |
| Auf der Homepage ist der Fall unter dem Pseudonym „River“ beschrieben. Die | |
| Zeit hatte den Hergang des Abends [3][im August im Detail dargestellt] und | |
| starke Zweifel am Vergewaltigungsvorwurf geäußert. Die taz kommt zu dem | |
| gleichen Schluss. | |
| Im ersten Halbjahr 2016 macht sich eine Frau, die in der Szene als Isis | |
| Agora Lovecruft bekannt ist, daran, Jacob Appelbaum in seine Schranken zu | |
| verweisen. Sie und Appelbaum verbindet ebenfalls eine Geschichte. Beide | |
| lernen sich Ende 2010 kennen. Der Vorwurf, den Lovecruft unter dem Namen | |
| „Forest“ vorbringt, bezieht sich auf eine Nacht im Januar 2014. Damals soll | |
| Applebaum ihr, als sie neben ihm im Bett schläft, die Hose geöffnet und an | |
| die Scheide gefasst haben. | |
| ## Sexuelle Schlafwandlerei | |
| Appelbaum behauptet, dass er unter „Sexomnia“ leide, einer Form der | |
| sexuellen Schlafwandlerei. Er hält den Vorfall, den Lovecruft beschreibt, | |
| deshalb nicht für unmöglich, allerdings erinnere er sich nicht daran. Nach | |
| diesem Vorfall 2014 sucht die Frau, deren Programmierkünste in der | |
| Hackerszene einen exzellenten Ruf genießen, weiter die Nähe zu Appelbaum. | |
| Sie gehen gemeinsam mit anderen in die Sauna; mit ihrem Partner wohnt | |
| Lovecruft zeitweise in Appelbaums Wohnung und sittet seinen damaligen Hund, | |
| der den Spitznamen „Crypto Rosa Trotzki“ trägt. Beide wechseln in dieser | |
| Beziehung von Nähe zu Distanz und wieder zurück. Mal redet sie schlecht | |
| über ihn, mal redet er schlecht über sie. Zwischendurch arbeiten sie an | |
| gemeinsamen Projekten. | |
| Als Appelbaum im September 2015 an der Technischen Universität Eindhoven | |
| ein Doktorandenprogramm beginnt, ist auch sie interessiert. Für Appelbaum | |
| ist die Universitätsstelle in Eindhoven auch eine existentielle Stütze, | |
| falls er, nach den Vorwürfen im März in Valencia, seine Arbeit beim | |
| Tor-Projekt nicht fortsetzen kann. Lovecruft versucht schließlich, bei den | |
| selben Professoren wie Appelbaum angenommen zu werden. | |
| Am Ende wird ihr das nicht gelingen. Ein anderer Mensch wird jedoch das | |
| Büro beziehen, das direkt neben Appelbaums liegt. Es ist der Lebenspartner | |
| von Isis Agora Lovecruft oder einer ihrer Lebenspartner, das ist nicht | |
| klar. Dieser Mann wird später Arbeiten von Appelbaum bewerten, deren | |
| Ergebnisse für dessen Vorankommen in der Universität wichtig sind. | |
| Im Januar 2016, kurz nachdem sie an der Universität in Eindhoven abgelehnt | |
| wird, beteiligt sich Isis Agora Lovecruft daran, Geschichten zu sammeln | |
| über Jacob Appelbaum. Anfang 2016 scheint sie sich dann zu entschließen, | |
| Appelbaum zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Zuerst plant sie nicht, diese | |
| zusammengetragenen Erzählungen publik zu machen. | |
| ## Keine freundschaftliche Mediation | |
| In einem Chat Anfang Februar schlägt sie Jacob Appelbaum vor, eine | |
| „Intervention“ beim Tor-Entwicklertreffen zu machen, das, wie im Jahr | |
| zuvor, wieder im März in Valencia stattfinden soll. Er, so beschreibt es | |
| Lovecruft, bedroht sie darauf hin. Appelbaum bestreitet das. „Während dem | |
| eher einseitigen Gespräch beschrieb Jacob all die Zeit, die Anstrengungen | |
| und die Wege, die er nutzte, um das Leben von jemandem zu zerstören, der | |
| sich gegen ihn wehrte“, behauptet sie auf ihrem Blog. Damit war der Plan | |
| einer freundschaftlichen Mediation gestorben. | |
| Am 17. Februar schickt sie eine E-Mail an die Leitung des Tor-Projekts. | |
| Danach gibt es ein Gespräch zwischen ihr, Alison Macrina und Tor-Chefin | |
| Shari Steele. Was dann kommt, besiegelt das gesellschaftliche Ende von | |
| Jacob Appelbaum. Am 2. Juni erscheint auf dem Blog von Tor ein Statement. | |
| Darin steht: „Der langjährige Netzaktivist, Sicherheitsforscher und | |
| Entwickler Jacob Appelbaum ist am 25. Mai von seiner Position im | |
| Tor-Projekt zurückgetreten.“ | |
| Parallel ringt die Tor-Führung mit Appelbaum um einen Auflösungsvertrag. | |
| Appelbaum erhält eine Frist von ein paar Stunden, dem Vertrag zuzustimmen. | |
| Er verweigert die Unterschrift. | |
| Am 3. Juni 2016 geht die Homepage hoch. Wer dahinter steckt, ist bis heute | |
| nicht zweifelsfrei bewiesen. | |
| ## „Dann muss es eben ein Inferno sein“ | |
| Kurz nach dem Erscheinen der Homepage trifft eine Frau im Vier-Sterne-Hotel | |
| Solaris im kroatischen Sibenik während einer Konferenz auf Isis Agora | |
| Lovecruft. Die Frau sagt, sie sei dabei gewesen als Lovecruft am Computer | |
| laut deutsche Rechtsparagrafen vorliest und in die Runde fragt, welche | |
| Folge wohl eine Falschaussage vor einem deutschen Gericht haben könnte. | |
| Dann, im weiteren Verlauf, sagt Lovecruft, laut der Zeugin: „Wenn ein | |
| Inferno nötig ist, dann muss es eben ein Inferno sein.“ | |
| An einem Tag Anfang Dezember 2016 ist das Zimmer mit der Raumnummer 6.146 | |
| an der Technischen Universität Eindhoven, das Büro von Jacob Appelbaum, | |
| wieder abgeschlossen. Er geht, sagt Appelbaum, derzeit nicht ohne | |
| Begleitung auf den Campus. Er will Lovecruft und ihrem Partner nicht | |
| begegnen. Auch dessen Büro gleich nebenan ist dunkel. Lovecrufts Partner | |
| wurde schon seit Wochen nicht mehr auf dem Campus gesehen. Derzeit berät | |
| die Universität darüber, ob Jacob Appelbaum das Doktorandenprogramm | |
| fortsetzen darf. | |
| Isis Agora Lovecruft und Alison Macrina bekleiden heute wichtige Positionen | |
| bei Tor. Als Ergebnis einer internen Untersuchung hat die Chefin des | |
| Unternehmens, Shari Steele, am 27. Juli mitgeteilt, zahlreiche Personen | |
| hätten sexuell aggressives, unerwünschtes Verhalten von Jacob Appelbaum | |
| gemeldet. Von Vergewaltigungsvorwürfen ist in diesem Statement keine Rede. | |
| ## Keine Bühne mehr für Jacob Appelbaum | |
| Heute gibt es, auch im deutschen Chaos Computer Club, einige Menschen, die | |
| bedauern, „dass wir Jacob Appelbaum aufgrund einer solchen Rufmordkampagne | |
| mit abserviert haben“, sagt jemand. „Eigentlich“, sagt eine andere Person, | |
| die nicht genannt werden will, „müsste man für ihn aufstehen, aber das wagt | |
| niemand. Dazu war er einfach ein zu großes Arschloch.“ Es ist nicht die | |
| einzige Person, die so denkt. Öffentlich sagt es niemand. | |
| Als im Oktober 2016 das sogenannte Content-Team in Berlin zusammenkommt, um | |
| über die inhaltliche Gestaltung des diesjährigen Kongresses des Chaos | |
| Computer Clubs zu beraten, kommt auch der Vorschlag, Jacob Appelbaum eine | |
| Bühne zu geben, um sich verteidigen zu können. Die Idee wird schnell | |
| verworfen. Beim Kongress Ende Dezember wird niemand von den Beteiligten auf | |
| einer der Bühnen reden dürfen. Eines der beliebtesten Spektakel der letzten | |
| Jahre, der „State of the Onion“-Vortrag, bei dem es um Neuigkeiten aus der | |
| Tor-Community geht, fällt aus. | |
| Im letzten Jahr standen Alison Macrina und Jacob Appelbaum mit Shari Steele | |
| und dem Tor-Mitbegründer Roger Dingeldine bei diesem Talk noch gemeinsam | |
| auf der Bühne. Damals sagte Appelbaum: „Wir freuen uns, so viele neue | |
| Gesichter präsentieren zu können. Dies ist nicht länger die Roger- und | |
| Jake-Show. Das ist uns wirklich wichtig. Im nächsten Jahr werden wir | |
| hoffentlich nicht mehr hier sein, aber noch immer am Leben.“ | |
| 10 Dec 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.ccc.de/ | |
| [2] https://www.torproject.org/ | |
| [3] http://www.zeit.de/2016/34/jacob-appelbaum-sexueller-missbrauch-vorwuerfe | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Catherin Loll | |
| Martin Kaul | |
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| Jahrelang feierte die Hackerszene Jacob Appelbaum als Helden. Nun gibt es | |
| schwerwiegende Vorwürfe und viele offene Rechnungen. | |
| Tor-Aktivist Jacob Appelbaum tritt zurück: Missbrauchsvorwürfe gegen Hacker | |
| Jacob Appelbaum hat das Anonymitätsprojekt TOR verlassen. Dem Netzwerk | |
| zufolge gibt es Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen ihn. | |
| Jacob Appelbaum beim Logan-Symposium: „Und jetzt betreibe ich Selbstmord“ | |
| „Arrogant“, „scheiße“, „verlogen“: Mit einem furiosen Anfall geht … | |
| Appelbaum in Berlin auf alte Kollegen los. Es ist eine persönliche | |
| Abrechnung. | |
| Jahresbilanz des TOR-Projekts beim CCC: Auftritt mit Zwiebelgeschmack | |
| Der Anonymisierungsdienst TOR hatte ein schwieriges Jahr: Infiltration mit | |
| FBI-Hintergrund, Vertrauensverlust. Nun soll alles besser werden. |