Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Missbrauchsvorwürfe Jacob Appelbaum: Tage der Abrechnung
> Jahrelang feierte die Hackerszene Jacob Appelbaum als Helden. Nun gibt es
> schwerwiegende Vorwürfe und viele offene Rechnungen.
Bild: Der profilierte Online-Aktivist Jacob Appelbaum bei einer Protestaktion
Berlin taz | Es ist gut, wie ein Fremder in diese Menge hineintreten zu
können, in diese anarchistische, schwer auszuleuchtende Szene, sich dort
umzuschauen, zwischen den Slushmaschinen, in denen neonfarbene Eisgetränke
gerührt werden; zwischen den auf dunklen Monitoren hell erscheinenden
Programmierzeichen.
Langsam kann dort eine Ahnung davon entstehen, was in dieser Welt, der
Hackerwelt, von Bedeutung ist. Die Befreiung vor allem, ganz allgemein, und
die Selbstermächtigung; und dann, konkreter, die dunklen, teils dunkel
geschminkten Augenränder, die Technikparties und manchmal auch Sexparties
und natürlich die Prüfsummenalgorithmen, vor allem diese.
Und dann ist es auch gut, wieder hinauszutreten aus diesem Wahnsinn.
Glücklich, wem das gelingt, bevor wieder alle Grenzen verschwimmen. Es
gerät in dieser Welt viel zu oft viel zu viel durcheinander. Dabei ist es
doch eigentlich so einfach: Eine Prüfsumme ist ein Wert, mit dem die
Integrität von Daten ermittelt werden kann. Es wäre derzeit ganz sinnvoll,
wenn die aufgebrachte globale Technik-, Hacker- und Nerdgemeinschaft sich
wieder ein wenig auf ihre einfachsten Einsichten besinnen würde.
Seit gut einer Woche ist der Kampf gegen Jacob Appelbaum eröffnet,
zumindest nach allem, was öffentlich zu beobachten ist. Hinter den
Kulissen, in privaten Treffen, in verschlüsselten Emails und Chats, wird
der Kampf gegen diesen Mann bereits seit über einem Jahr geführt. Die
Gründe dafür sind gewichtig: Jacob Appelbaum, eine der Führungsfiguren der
globalen Antiüberwachungsbewegung, soll wiederholt, so lauten die meist
anonym vorgebrachten Vorwürfe, [1][die Grenzen anderer überschritten haben,
teils verbal und teils auch sexuell].
## Einer der profiliertesten Sprecher der Szene
Für die weltweit mächtigsten Organisationen des digitalen Widerstands ist
dies ein herber Schlag. Appelbaum ist einer der profiliertesten Sprecher
der Szene. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Veröffentlichung der
Snowden-Dokumente, enthüllte die Ausspähaffäre rund um das Handy von Angela
Merkel, verfügt über engste Kontakte in den inneren Zirkel von Wikileaks
und war das Aushängeschild des sogenannten Tor-Netzwerkes.
Das ist ein Zusammenschluss von Entwicklerinnen und Entwicklern, die eine
Anonymisierungssoftware betreiben und so das überwachungslose Surfen und
Kommunizieren im Internet ermöglichen wollen, eines der bedeutendsten
Hackernetzwerke der Welt. Am 25. Mai hat Appelbaum seinen sehr gut
bezahlten Job dort niedergelegt, der Druck auf ihn wurde zu groß. Er ist
einem Rauswurf damit zuvor gekommen.
Seitdem ist die Gemengelage kompliziert und, wie es in der Szene bei
Konflikten üblich ist, unübersichtlich, marktschreierisch und hysterisch.
Das liegt vor allem daran, dass die Vorwürfe, die gegen Jacob Appelbaum
zuvor nicht- oder nur halböffentlich ins Feld geführt worden waren, nicht
vor einer Polizei oder Justiz zur Sprache kommen sollen, sondern dass sie
in der staatskritischen Netzgemeinde wie auf einem Marktplatz nun
öffentlich verhandelt und verstärkt, diskutiert und widerlegt werden bis am
Ende alle Beteiligten ihren Schaden davon getragen haben.
Es ist ein Kampf um die letzte Wahrheit eines bis gestern noch gefeierten
Helden: Ist Jacob Appelbaum ein Rockstar mit Macken? Ist er ein Arschloch
und Grenzgänger? Oder ist er gar, was einige Menschen nun meist anonym
behaupten, ein Vergewaltiger? Über all dies wird derzeit öffentlich
verhandelt.
## „Ein Vergewaltiger wohnt hier“
Wie valide die Vorwürfe, von denen die schwersten kaum zu überprüfen sind,
auch immer sein mögen: Die Form ihrer Präsentation und ihr Umgang mit ihnen
steht einer Rufmordkampagne in wenig nach. Es ist, im Gegenteil, das
erklärte Ziel dieser Kampagne, den einstigen Helden auszugrenzen oder, wie
ein Hackerkollektiv, in dem Appelbaum bis zuletzt Mitglied war, schrieb:
„Wir haben ihn von der Herde getrennt.“ An dem Wohnhaus, in dem Appelbaum
bis zuletzt in Berlin wohnte, prangt heute ein Graffiti. Dort steht auf
deutsch und auf englisch zu lesen: „Ein Vergewaltiger wohnt hier“.
Einige Tage ist es nun her, dass eine Homepage veröffentlicht wurde, die
zwar auf Jacob Appelbaums eigenen Namen lautet, aber von seinen ärgsten
Feinden betrieben wird. Darauf klagen überwiegend anonyme Personen ihn
öffentlich an. Unbekannte schildern dort ihre Erfahrungen mit Jacob
Appelbaum. Sie zeichnen das Bild eines manipulativen Aktivisten, der
gezielt und immer wieder auch die körperlichen und sexuellen Grenzen
anderer ignoriert. In der feministischen Szene wird diese Webseite
verteidigt: Wie sonst, fragen FrauenrechtsaktivistInnen, soll dem Treiben
von Peinigern ein Ende bereitet werden, wenn doch statistisch erwiesen ist,
dass der juristische Weg den Opfern in solchen Fällen kaum etwas nützt?
Allerdings: Nicht nur die aufgemotzte Homepage zeugt von Unsachlichkeit –
auch inhaltliche Einlassungen, die gegen Appelbaum vorgebracht wurden,
mussten inzwischen relativiert oder gänzlich zurückgezogen werden. Das muss
nicht heißen, dass andere Vorwürfe falsch sind. Doch es zeigt an, auf
welche Weise die sogenannte „Community“ mit sich selbst ins Gericht geht;
und wie grenzüberschreitend dies wiederum geschieht.
## CCC-Congress in Hamburg
In einem der wenigen Fälle, in denen die Ankläger nicht anonym auftraten,
skizzierten sie eine Szene, in der Appelbaum am Rande des Hamburger
Jahreskongresses des Chaos Computer Clubs öffentlich eine Frau gegen ihren
Willen begrapscht haben soll. Weil diejenigen, die diese Vorwürfe
vorbrachten, sogar namentlich in Erscheinung traten, galten sie rasch als
Kronzeugen. Allein: Mit der Frau, die vermeintlich bedrängt worden war,
hatten die Ankläger gar nicht geredet. Sie steht noch heute in engem
Verhältnis zu Appelbaum und konnte es kaum fassen, als sie nun selbst über
sich lesen musste.
Und so erschien dann ein weiterer Text im Internet, indem diese Frau die
Dinge aus ihrer eigenen Perspektive schildert: Dass es aus ihrer Sicht in
jener Nacht in der Lobby des Hamburger Radisson Blu-Hotels überhaupt kein
Problem mit Appelbaum gab. Nun wollte sie wissen, was denn das Problem der
anderen sei – und warum überhaupt fremde Leute in ihrem Namen Anklage
führten? Auch andere seiner engen Freundinnen und Ex-Freundinnen
verteidigen Appelbaum vehement. Heißt das, dass an den Vorwürfen nichts
dran ist? Nein. Das heißt erstmal alles gar nichts, weder in die eine, noch
in die andere Richtung.
Als Fakt kann genommen werden, dass die Szene schon lange über den Umgang
mit dem von vielen als brilliant, gewinnend und pointiert, aber auch als
eitel, geltungsbedürftig und grenzüberschreitend wahrgenommenen Appelbaum
diskutiert. Bereits im März 2015 wurde er für 10 Arbeitstage von seiner
Arbeit im Tor-Netzwerk suspendiert, nachdem er gesagt haben soll, seine
sexuelle Rekrutierungsstrategie sei erfolgreich. [2][So berichtet es das
Onlinep][3][ortal Golem.de].
## Appelbaum hat viele Feinde
Und so kann es nicht wirklich überraschen, dass die Szene jetzt durchdreht,
nachdem sie über Monate und Jahre keinen Weg gefunden hat, auf angemessene
Weise mit Vorwürfen und Ahnungen, ob begründet oder nicht, angemessen
umzugehen. Jacob Appelbaum hat dazu einen großen Teil beigetragen. Dass die
Gruppe derjenigen, die ihn heute noch verteidigen, übersichtlich ist, hat
auch damit zu tun, dass er sich – kompromisslos, hart im Urteil,
dränglerisch – viele Feinde gemacht hat.
Und dann ist da noch dieser Aspekt: Seine Reden sind groß, seine Auftritte
fulminant, er kann Säle beherrschen, auch wenn er nicht auf der Bühne
sitzt. Und wenn er dann, bejubelt und beklatscht, abends in einer dieser
fremden Bars landete, oft auch umringt von Groupies und Fanboys, dann ging
es anschließend häufig noch auf ein Zimmer. Warum auch nicht? Gemeinsam mit
anderen, mal wenigen, mal vielen, mal Frauen, mal Männern, aber doch auf
eine Art, die auch Außenstehenden anzeigte: Da macht sich einer, der ohne
Zweifel mit der NSA einen der mächtigsten Gegner der Welt hat, sehr
angreifbar. Unabhängig davon, was dann in diesen Zimmern geschah: Es war
nur eine Frage der Zeit, bis das System Appelbaum Error melden musste.
Es gibt Leute, die heute sagen, sie hätten bestimmte Parties gemieden, weil
sie nicht die Typen für Sexparties seien. Andere merkten zu spät, wo sie
hineingerieten, aber blieben. Und viele feierten dort einfach fröhlich. Und
dann passierte dies und dann passierte das und plötzlich war da diese
umdrogte Wirre, jener Moment, in dem Grenzen wieder verschwimmen, in der
ein Nein vielleicht nicht mehr Nein heißt, sondern? Ja, was denn eigentlich
sonst? Das ist die Szenerie, in der die meisten Vorwürfe, die heute in der
Welt sind, geboren wurden.
## Gerechtigkeit herstellen – aber wie?
Nicht alles, was mit dem Gestus des Coolen und Libertären einhergeht, ist,
das ist vielleicht eine der Lehren aus diesem Stück, auch immer gleich cool
und libertär. Und wenn dann all diese Grenzen wieder einmal verschwimmen,
dann tragen womöglich all jene ihren Teil, die daran mitgewirkt haben. Aber
vor allem nun einmal der, der die Grenze der anderen selbst überschritten
hat. Das gilt für Rockstars mit Macken, für Arschlöcher und das gilt auch
für Peiniger. Und es gilt heute ganz genauso für all jene, die meinen,
Gerechtigkeit ließe sich herstellen, in einem Meer von unwidersprechbaren
Anwürfen, in dem es nicht mehr wichtig zu sein scheint, ob die Integrität
dieser Daten überhaupt noch ermittelt werden kann.
In einem Rechtsstaat gilt in der Regel: „Jede Person, die einer Straftat
angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als
unschuldig.“ Das ist zwar nicht besonders revolutionär, aber es ist auch
nicht alles schlecht, was gesetzlich geregelt ist. Und deshalb ist es
manchmal gut, aus diesem Wahnsinn, aus jener Welt herauszutreten, in der
die Selbstermächtigung der einen zur Unterdrückung der enderen führt.
Glücklich, wem das gelingt, bevor wieder alles so wild durcheinandergeht.
12 Jun 2016
## LINKS
[1] /Tor-Aktivist-Jacob-Appelbaum-tritt-zurueck/!5310087
[2] http://www.golem.de/news/missbrauchsvorwuerfe-appelbaum-wurde-bereits-2015-…
[3] http://www.golem.de/news/missbrauchsvorwuerfe-appelbaum-wurde-bereits-2015-…
## AUTOREN
Martin Kaul
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Internet
Schwerpunkt Überwachung
Tor-Netzwerk
Jacob Appelbaum
Jacob Appelbaum
Jacob Appelbaum
Jacob Appelbaum
Tor-Netzwerk
WhatsApp
Jacob Appelbaum
CCC-Kongress
## ARTIKEL ZUM THEMA
Musiktheater über den Fall Appelbaum: Koketterie am Badewannenrand
„Fuck the facts“: Die Neuköllner Oper in Berlin bringt die
Vergewaltigungsvorwürfe gegen Jacob Appelbaum auf die Bühne.
Der Fall Jacob Appelbaum: Über Gerechtigkeit
Jacob Appelbaum war ein Star der Hackerszene. Dann sagen mehrere Frauen, er
habe sie sexuell genötigt. Er verliert Job, Kollegen, Freunde. Zu Recht?
Netzaktivist Jacob Appelbaum: Tor bestätigt Missbrauchsvorwürfe
Nach internen Untersuchungen bestätigt das Tor-Projekt die Anschuldigungen
gegen Appelbaum, wird aber nicht konkreter. Intern gibt es Konsequenzen.
Tor-Aktivist Jacob Appelbaum tritt zurück: Missbrauchsvorwürfe gegen Hacker
Jacob Appelbaum hat das Anonymitätsprojekt TOR verlassen. Dem Netzwerk
zufolge gibt es Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen ihn.
Marktmacht im Internet: Alle auf einen
Der Kurznachrichtendienst WhatsApp führt eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung
ein. Können wir jetzt alle wechseln? Klar. Aber.
Jacob Appelbaum beim Logan-Symposium: „Und jetzt betreibe ich Selbstmord“
„Arrogant“, „scheiße“, „verlogen“: Mit einem furiosen Anfall geht …
Appelbaum in Berlin auf alte Kollegen los. Es ist eine persönliche
Abrechnung.
Jahresbilanz des TOR-Projekts beim CCC: Auftritt mit Zwiebelgeschmack
Der Anonymisierungsdienst TOR hatte ein schwieriges Jahr: Infiltration mit
FBI-Hintergrund, Vertrauensverlust. Nun soll alles besser werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.