# taz.de -- CDU-Nachwuchs Jens Spahn: Der Mini-Seehofer | |
> Die einen nennen ihn rotzfrech, die anderen sehen in ihm die Zukunft der | |
> Partei. Der CDU-Abgeordnete Jens Spahn macht Lautsein zu seiner Marke. | |
Bild: Klappe halten? Das ist nicht Jens Spahns Rolle | |
BERLIN/RHEINE taz | Als Jens Spahn zugeschaltet wird, steht es 95 zu 32 | |
gegen Angela Merkel. Spahn soll jetzt mal was sagen, zur CDU, zu Merkel, zu | |
Merkels Nachfolge. In der Sendung von Bild.de, sie heißt „Die richtigen | |
Fragen“, dürfen ZuschauerInnen Antworten geben. Heute lautet die Frage: | |
„Kann Merkel es noch mal schaffen?“ Am unteren Bildschirmrand wird der | |
aktuelle Zwischenstand eingeblendet: Links die Ja-Herzchen, rechts die | |
Nein-Wutköpfchen. Die Wutköpfchen überwiegen bei Weitem. | |
Am Abend zuvor hat die Bundeskanzlerin bekannt gegeben, sie werde zum | |
vierten Mal als Kanzlerin antreten. Spahn, der 36 Jahre alte CDU-Politiker | |
– blauer Pullover, Hornbrille, zurückweichendes Haupthaar –, sitzt | |
freundlich lächelnd vor seinem Laptop und trinkt Kaffee aus einer roten | |
Henkeltasse. Aufdruck: The Queen. | |
Warum gerade er gefragt wird? Nun, Spahn gilt parteiintern und in der | |
öffentlichen Wahrnehmung als Mini-Seehofer. Er sagt gern Dinge, die von | |
Merkels Kritikern mutig, auch mal rotzfrech genannt werden. Er gilt als | |
ehrgeiziger und machtbewusster Hoffnungsträger, was unter anderem daran | |
liegen könnte, dass es ihm gelingt, Sachverhalte gekonnt zu verkürzen. | |
Das klingt dann so: Spahn bezeichnet sich als „burkaphob“ und beschwert | |
sich über „arabische Muskelmachos“ in seinem Berliner Fitnessstudio, wegen | |
deren überzogenem Schamgefühl es neuerdings erlaubt sei, in Unterhosen zu | |
duschen. In seinem Buch „Ins Offene“, das im katholischen Herder-Verlag | |
erschienen ist, schreibt er über die Flüchtlingsfrage und benutzt das Wort | |
„Staatsversagen“, wenn auch leicht abgeschwächt: „eine Art Staatsversage… | |
Es ist ein Terminus, den auch AfD-Politiker wie Frauke Petry oder Björn | |
Höcke verwenden. Für „Diebe, Grapscher und Betrüger“ fordert Spahn viel | |
Polizei und, vor allem, für den Sicherheitsapparat mehr Polizei. | |
## Herzchen für Merkel | |
Gerade testet er einen neuen Begriff: „Schicksalsgemeinschaft“. Das Wort | |
hat seine NRW-CDU in den Leitantrag für den Bundesparteitag | |
hineinverhandelt. Es umschreibt eine Notgemeinschaft, die sich gegen äußere | |
Feinde absichern muss. Spahn meint damit die Deutschen. Ist das ein | |
rhetorischer Kniff, um auf der Populismuswelle zu reiten? Oder denkt so der | |
Politiker Spahn? | |
An diesem Montagmorgen sitzt aber der zahme Jens Spahn vor dem Laptop. Der | |
sagt nun, Merkels erneutes Antreten sei „definitiv eine gute Nachricht“. Im | |
Wahlkampf 2017 werde es um grundsätzliche Fragen gehen. Es werde Angriffe | |
von links und von rechts geben, da helfe nur Geschlossenheit. Für die stehe | |
die Kanzlerin. | |
Der Moderator fragt Spahn nach Alternativkandidaten. Spahn weiß, dass ihm | |
da Ambitionen nachgesagt werden. Er lächelt und spricht, es werde sich „im | |
Fall der Fälle schon jemand finden, der bereit und in der Lage ist, diese | |
Aufgabe zu übernehmen“. Ein bescheidenes Nein klingt anders. | |
Es steht mittlerweile 127 zu 48 gegen Merkel. Seltsam, während Spahn auf | |
Sendung war, ist der Herzchen-Balken gewachsen. Prozentpünktchenweise. Aber | |
doch: gewachsen. | |
## Flirt mit dem rechten Rand? | |
Spahn, der Einszweiundneunzig-Mann, bringt es offenbar fertig, dass man ihm | |
zuhört. Linke sagen, er flirte mit dem rechten Rand. Konservative finden, | |
er spreche aus, was viele denken. Zwar steht die Union offiziell hinter der | |
Kanzlerin, aber die Frustrierten, jene, deren Stimmen bei der | |
Bundestagswahl abhandenzukommen drohen, wollen auch abgeholt werden. In | |
München erledigt das Horst Seehofer, in Berlin Jens Spahn. Er hat ein | |
Gespür für Stimmungen und für sein Alter exponierte Positionen an gleich | |
drei Schaltstellen der Macht: im Parlament, in der Parteizentrale und im | |
Bundesfinanzministerium. Er ist 36 Jahre alt, Angela Merkel und ihr engster | |
Kreis sind über 60. Spahn ahnt nicht, er weiß: Seine Zeit kommt. | |
Erkundigt man sich im politischen Berlin nach Jens Spahn, finden sich | |
einige, die ihn sich als Kanzler vorstellen könnten. Noch nicht jetzt. | |
Aber, hey, warum nicht ab 2017 erst einmal als Innenminister? Law and Order | |
sei ja nicht zufällig sein Lieblingsthema. Andere wiederum sprechen von | |
Spahns „großer politischen Begabung“, gleichwohl sei er oft vorschnell, | |
sein Ehrgeiz zu offensichtlich. Und dann sei da dieses Verkürzen komplexer | |
Inhalte. Nicht jeder kann das ab. | |
## In den Machtzirkel getrotzt | |
Der gelernte Bankkaufmann sitzt seit 2002 als direkt gewählter Abgeordneter | |
für den münsterländischen Wahlkreis 125 im Bundestag. Bei seiner ersten | |
Plenarsitzung war er 22 Jahre alt. Er hat sich dann über Jahre einen Namen | |
als Gesundheitsexperte erarbeitet. Nach der letzten Bundestagswahl war | |
Spahn als neuer Gesundheitsminister im Gespräch, vielleicht auch als | |
Generalsekretär. Doch Minister wurde schließlich der NRWler Herrmann Gröhe, | |
Chef in der Parteizentrale der Hesse Peter Tauber. Und Jens Spahn | |
aufmüpfig. | |
2014, auf dem Kölner Parteitag, kandidierte er, entgegen allen internen | |
Absprachen, für einen der Präsidiumssitze. Dabei waren die längst | |
ausgekungelt. In seiner Bewerbungsrede erwähnte er seinen Freund, einen | |
Journalisten. Er wolle, wenn er mit dem durch Berlin spaziert, nicht länger | |
„die Angriffe und die Anmachen erleben müssen, wie ich sie in der | |
Vergangenheit öfter erlebt habe“. Starker Applaus. Spahn gewann den Platz | |
im Machtzirkel nicht nur mit okayen zwei Dritteln der Stimmen, sondern | |
verdrängte auch Parteifreund Gröhe. | |
Ein Affront in der schläfrigen und hierarchieversessenen Merkel-Partei. | |
Aber ein Affront, der ihm Respekt eintrug. Da traute sich aber einer was! | |
Und so wirkte es zunächst wie ein Versuch, den Aufmüpfigen einzuhegen, als | |
Finanzminister Wolfgang Schäuble Spahn 2015 als parlamentarischen | |
Staatssekretär in sein Haus holte. Aber Spahn nutzte die neue Position als | |
Chance: Er hat sich reingefuchst, mit Schäuble versteht er sich prima. Von | |
seinem Lehrmeister unterscheidet ihn, dass er auch mal lächelt, wenn er | |
Euro-Begehrlichkeiten Absagen erteilt. | |
## Spahn liebt Eierlikör | |
Ein Freitagabend im November, Rheine im Münsterland. Wer verstehen möchte, | |
wie dieser Jens Spahn tickt, fährt am besten dorthin, wo Spahn herkommt. In | |
seinem Wahlkreis Rheine I/Borken I schweift der Blick bei Tag über plattes | |
Land, rot verklinkerte Wohnhäuser und Gewerbebauten; am Straßenrand künden | |
Verkehrsschilder: „Traktoren dürfen überholt werden“. Aber jetzt ist es | |
dunkel. | |
Im Gasthaus Am Thietor drängen sich Spahns Mitarbeiter und drei | |
Journalisten auf der Eckbank. Die Kellnerin stellt ein Tablett | |
Streichwurstbrote auf den Holztisch, mit schönen Grüßen vom Wirt. „Hm, | |
Maurermarmelade!“, freut sich einer. Jens Spahn hätte gern Eierlikör, den | |
liebt er. Gibt es aber nicht. Er nimmt ein Bier. Spahn ist nach Rheine | |
gekommen, weil er wieder in den Bundestag einziehen möchte. Natürlich. | |
Seine Parteifreunde sollten ihn heute zum Kandidaten küren. | |
Also hatten Spahns Wahlkreismitarbeiter dafür gesorgt, dass ein roter | |
Teppich auslag, auf dem er auf und ab tigern kann. | |
Townhall-Meeting-Atmosphäre im Münsterland. | |
Er stehe hier schon zum vierten Mal, sagt Spahn zu Beginn seiner | |
vierzigminütigen Rede. 150 Leute hören ihm zu. Schön sei, „wie ordentlich | |
und sauber das hier ist, das ist nicht selbstverständlich“. Die Wirtschaft | |
brummt, es herrscht fast Vollbeschäftigung, für Mütter gibt es das | |
Betreuungsgeld – den Deutschen geht es gut. „Wenn wir’s nicht laut sagen, | |
die anderen werden’s nicht tun.“ Die Männer auf den Stapelstühlen, es sind | |
allermeist Männer, nicken anerkennend. | |
Jetzt zu den Flüchtlingen. „In den kleinen Dörfern geht dat wirklich gut | |
voran“, lobt Jens Spahn mit Münsterländer Dialekt. Aaaaaaber. Er wird jetzt | |
ernst. „Selbst der engagierteste Helfer hat Fragen.“ Zum Beispiel, warum | |
hier plötzlich lauter Georgier ankommen, wenn man eigentlich Syrern helfen | |
wolle. Deutschland – und jetzt weht ein kühler Berliner Hauch durchs Rund – | |
könne nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen. Das Land brauche wieder „Recht | |
und Ordnung und Kontrolle“, auch eine „Leitkultur“. | |
Spahn spricht dann noch ganz freundlich über sichere Herkunftsstaaten, über | |
die Grünen im Bundesrat und „annere Kulturen“. Fast klingt das, als glaubte | |
der Abgeordnete Spahn, den Flüchtlingen einen Gefallen zu tun, wenn er sie | |
davon abhält, ins schöne Münsterland zu kommen. | |
## Zum Dank Boxhandschuhe | |
Jens Spahn ist jetzt fertig. Er sinkt auf seinen Platz: dritte Reihe, | |
rechts außen, rutscht in seinen Sitz hinein wie ein Schuljunge in der | |
S-Bahn. Hat er seine Partei überzeugt? Jens Spahn setzt auf Aufmüpfigkeit. | |
In der Öffentlichkeit klopft er Parolen und nennt sie Meinungen, intern | |
ergreift er Gelegenheiten, die ihm eigentlich niemand angeboten hat. Das | |
ist sein System. Aber lässt sich so Karriere in einer Partei machen – noch | |
dazu in der CDU? | |
Seine Parteifreunde stimmen ab: 140-mal Ja bei 142 Stimmberechtigten. Jens | |
Spahn lächelt und springt auf. 98,8 Prozent, mehr geht fast nicht. Die | |
Junge Union schenkt ihm Boxhandschuhe, ein Herr sagt: „Kannst nix gegen | |
seggen, er is ja sehr prominent in Berlin.“ Keine Frage, die CDU-Leute hier | |
trauen ihm viel zu. | |
Auf dem Weg zu den Buffetresten mit den Kochschinken- und Mettwurstbrötchen | |
stellt Spahn der Reporterin einen Gratulanten vor: „Dat ist der Herr | |
Große-Berg, der war mal mein Sportlehrer.“ Interessant. Was war er denn für | |
ein Schüler, der Jens? Klug, ehrgeizig, sagt Franz-Josef Große-Berg. „Er | |
war sicher nicht der beste Turner. Aber er hat’s gemacht, hat sich | |
gequält.“ Der alte Lehrer senkt verschwörerisch die Stimme. „Wussten Sie, | |
dass der Jens in der Abizeitung als Berufswunsch Bundeskanzler eingetragen | |
hat?“ Vom Buffet zwinkert der frisch gekürte Kandidat herüber. | |
6 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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