# taz.de -- Parteitag der Grünen in Münster: Immer noch ein bisschen rebellis… | |
> Die Grünen, jetzt ist es offiziell, werden im Bundestagswahlkampf 2017 | |
> für die Vermögensteuer kämpfen – ein Risiko. | |
Bild: Kretschmann bringt die Steuerpolitik mit dem Aufstieg der Rechtspopuliste… | |
Münster taz | Anton Hofreiter erzählt am Rednerpult eine Szene aus seinem | |
Politikeralltag. Ein Wähler habe ihn angesprochen, ein hart arbeitender, | |
ehrlicher Steuerzahler, der in seiner Freizeit auch noch das Klassenzimmer | |
der Kinder streichen solle. Jener also, ruft Hofreiter, frage zu Recht: Und | |
die Superreichen zahlen nichts? „Das ist Gift für die Demokratie.“ | |
Hofreiter wird immer wieder von lautem Applaus unterbrochen. Eine | |
Delegierte mit buntem Schal nickt heftig. Die Debatte, in der Hofreiter | |
spricht, ist der Höhepunkt des Parteitages in Münster, der noch bis Sonntag | |
dauert. Von ihr verspricht sich die Grünen-Spitze die Versöhnung | |
zerstrittener Fraktionen, endlich soll die Ökopartei ihren Endlosstreit | |
über die richtige Steuerpolitik beenden. | |
Eine gute Stunde später steht Hofreiter wieder auf der Bühne, neben ihm die | |
beiden Frauen, die mit ihm den entscheidenden Antrag geschrieben hatten – | |
seine Co-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und | |
Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann. Eine deutliche Mehrheit. | |
Hofreiter klatscht Haßelmann ab, legt einen Arm um Göring-Eckardt. Die | |
Grünen, jetzt ist es offiziell, werden im Bundestagswahlkampf 2017 für die | |
Vermögensteuer kämpfen. | |
Dabei geht es nicht nur um trockene Zahlen, sondern auch um | |
Grundsätzliches. Sollen sehr Vermögende mehr Geld für die Infrastruktur des | |
Staates zahlen? Wo beginnt Reichtum? Wie mutig sind die Grünen noch, wenn | |
Gegenwind zu erwarten ist? | |
Nach siebeneinhalb Stunden Debatte und fast 50 Reden an diesem Samstag ist | |
man geneigt zu sagen: Tatsächlich, ein bisschen Rebellentum steckt noch in | |
den Grünen. Die Partei, die sich jüngst erstaunlich biegsam zeigte, etwa | |
bei ihrem Ja bei mehreren Asylrechtsverschärfungen, geht mit der | |
Vermögensteuer ein Risiko ein. Mächtige Wirtschaftsverbände lehnen sie ab, | |
für Union und FDP ist sie des Teufels, der Wahlkampf 2017 dürfte heiß | |
werden. | |
Für Hofreiter aber ist dies ein wichtiger Sieg. Wenn sich wenige | |
Superreiche immer mehr besetzen und sich in eine Parallelwelt zurückziehen, | |
gefährdet das die Demokratie – so sieht er das. Hofreiter will im | |
Bundestagswahlkampf Spitzenkandidat werden und kämpft in der Urwahl gegen | |
seine Konkurrenten Cem Özdemir und Robert Habeck. Während der Bayer sich | |
früh klar in der Steuerfrage positionierte, hielten sich Özdemir und Habeck | |
bedeckt. | |
## Kretschmann, der starke Mann aus Baden-Württemberg | |
Für einen weiteren wichtigen Grünen ist das Votum eine Niederlage. Als | |
Winfried Kretschmann mittags ans Mikrofon tritt, wird es ruhig in der | |
Halle. Kameraleute eilen nach vorne und kabbeln sich um den besten Platz. | |
Kretschmann, der starke Mann aus Baden-Württemberg, ist ein entschiedener | |
Gegner der Vermögensteuer, er wirbt seit Langem für einen | |
wirtschaftsfreundlichen Kurs. In Baden-Württemberg haben viele | |
Familienunternehmen ihren Sitz, die gegen die Steuer kämpfen. | |
Kretschmann redet ruhig und eindringlich, wie immer schnarrt die Stimme | |
etwas. Der Mittelstand sei die stärkste Säule gegen das Raubtiervermögen, | |
sagt er. Nur mit einer guten Eigenkapitalausstattung könnten deutsche | |
Unternehmen im Wettbewerb mit Firmen aus China oder den USA konkurrieren. | |
„Als Ministerpräsident habe ich die Verantwortung dafür, dass sich | |
baden-württembergische Unternehmen gut am Markt bewähren.“ | |
Dann bringt Kretschmann die Steuerpolitik mit dem Aufstieg der | |
Rechtspopulisten in Verbindung. Schon bei einer guten Wirtschaftslage, sagt | |
er, liege die AfD in seinem Land bei 15 Prozent. „Was passiert, wenn wir in | |
die Arbeitslosigkeit rutschen? Das will ich mir nicht vorstellen.“ | |
Totenstille im Saal, viele verblüffte Gesichter. Der Verzicht auf eine | |
Vermögensteuer schützt vor den Rechten? Diesen Gedanken muss man nicht | |
teilen. Als Kretschmann fertig ist, bekommt er trotzdem viel Applaus. Die | |
Delegierten aus Baden-Württemberg stehen demonstrativ auf, Ödzemir, der | |
ebenfalls aus Baden-Württemberg kommt, federt von der Bühne herunter in die | |
erste Stuhlreihe, wo Kretschmann einen Schuss Wasser nimmt – und | |
gratuliert. Seine Co-Chefin Simone Peter, die zuvor vehement für die Steuer | |
geworben hatte, bleibt mit unbewegter Miene sitzen. | |
## Szenen einer Ehe | |
Die Grünen und die Steuerpolitik, das wirkt manchmal wie der Filmklassiker | |
„Szenen einer Ehe“. Nach außen soll alles möglichst harmonisch wirken, do… | |
die Beziehung ist längst zerrüttet. Viele Delegierte klatschen nicht für | |
Kretschmann, einer verschränkt demonstrativ die Arme. | |
Wenig später darf Jürgen Trittin reden, ehemals Fraktionschef und seit | |
jeher ein Gegenspieler des Oberrealos. Er war 2013 der wichtigste Grüne, in | |
einem heute allgemein als zu links und zahlenlastig empfundenen | |
Wahlkampfes. Trittin hatte Glück, weil er für einen gelosten Redebeitrag | |
gezogen wurde, und er nutzt die wenigen Minuten für einen Frontalangriff. | |
Eine Busladung voller Milliardäre besitze so viel wie die Hälfte der | |
Menschheit, ruft er. „Deutschland ist ein Steuersumpf für Vermögen.“ | |
Gemessen an anderen Industriestaaten nehme Deutschland nur die Hälfte der | |
Steuern auf Vermögen ein. Das Ganze habe auch nichts mit der Gefährdung des | |
Mittelstandes zu tun, sagt Trittin. Vor 25 Jahren hätten Firmen noch ein | |
Viertel ihrer Gewinne investiert, seit zehn Jahren nur noch 10 Prozent – | |
die Ausschüttungen seien aber gestiegen. | |
## Bedürfnis nach klarer Kante | |
Trittin gewinnt die Delegierten sofort für sich. Immer wieder muss er kurz | |
stoppen, weil der Applaus zu laut wird. Am Ende steht der halbe Saal und | |
jubelt. Es wirkt, als habe da jemand das Ventil eines Dampfdrucktopfes | |
geöffnet. Die Grünen-Basis hat offensichtlich ein riesiges Bedürfnis nach | |
Selbstvergewisserung und klarer Kante. | |
Kretschmann hat die Grünen immer wieder verstört. Er schloss ein Bündnis | |
mit der Linkspartei aus, obwohl sich die Bundesspitze sich jenes offen | |
halten will. Er lobte die klassische Ehe und wandte sich gegen zu viel | |
Political Correctness. Und er gestand öffentlich, dass er sich eine neue | |
Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel wünsche. Die Vermögensteuer wird auf | |
diesem Parteitag auch zum Symbol gegen die Dominanz von Kretschmann. | |
Wie verhärtet die Fronten sind, zeigte auch das hochkomplexe | |
Abstimmungsverfahren. Keiner war im Vorfeld bereit, auch nur einen | |
Millimeter nachzugeben. Die Parteiflügel besprachen ihre Strategie zuvor in | |
internen Treffen. Und Michael Kellner, Bundesgeschäftsführer und fürs | |
Antragsmanagment zuständig, flüchtete sich am Samstagmorgen in Galgenhumor. | |
Was war bei den Geheimtreffen los, Herr Kellner? „Diese Infos würden Sie | |
verunsichern.“ | |
Am Ende müssen sich die Delegierten durch fingerdicke Papierstapel fräsen. | |
Allein bei der Frage, ob eine Erbschafts- oder eine Vermögensteuer | |
sinnvoller sei, stehen fünf Varianten zur Abstimmung, die mit Rede, | |
Gegenrede und Stimmungsbild abgestimmt werden. Der linkeste Vorschlag | |
forderte beides, der wirtschaftsfreundlichste stammte von wichtigen Realos | |
aus dem Südwesten – initiiert hatten ihn auch Minister aus dem Kabinett | |
Kretschmann. Die Grünen sind, kurz gesagt, ganz bei sich selbst. | |
Viele Grüne empfinden bei dem Steuerbeschluss ein bisschen Genugtuung. Der | |
Haushälter Sven-Christian Kindler läuft mit einem breiten Lächeln durch die | |
Flure. „Großartiges Ergebnis“, sagt er im Vorbeigehen. „Sehr starkes Sig… | |
im Kampf gegen die Ungleichheit.“ | |
## Reform des Ehegattensplittings | |
Man täte den Grünen aber Unrecht, würde man die Debatte nur auf die | |
Vermögensteuer verengen. So beschlossen die Delegierten zum Beispiel auch | |
eine Reform des Ehegattensplittings. Verheiratete Gutverdiener, deren | |
PartnerInnen wenig verdienen, bekommen vom Staat Steuernachlässe. Diese | |
Subvention wird von den Grünen seit Langem kritisiert, weil sie Frauen dazu | |
verleitet, zu Hause die Kinder zu hüten. | |
Für neu geschlossene Ehen wollen die Grünen diese Subvention abschaffen. | |
Für bereits geschlossene Ehen soll allerdings alles bleiben, wie es ist. | |
Das ist ein wichtiger Unterschied zu dem Wahlkampf 2013, in dem die Grünen | |
Bestandsehen so weit gehenden Schutz nicht gewähren wollten. Diese Rosskur | |
kam auch in grünen Milieus eher schlecht an. Außerdem beschlossen die | |
Delegierten Maßnahmen gegen Kinderarmut. „Es geht in erster Linie darum, | |
dass wir Kinder fördern, Kinderarmut bekämpfen wollen“, sagte | |
Göring-Eckardt. | |
In einem wichtigen Punkt überstimmte die Basis den Vorstand. Überraschend | |
bekam ein Antrag des NRW-Landesvorsitzenden Sven Lehmann eine Mehrheit, der | |
die komplette Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen fordert. Insbesondere | |
gehe es um Sanktionen für Menschen unter 25 Jahren und um Kosten der | |
Unterkunft und Heizung, heißt es in dem Beschluss. | |
Die große Frage aber ist, ob der Westfälische Frieden der Grünen den | |
Parteitag überdauert. Die Bundesspitze wirbt wegen des anstehenden | |
Bundestagswahljahres für Geschlossenheit, sie will sich Bündnisse mit der | |
Union und der Linkspartei offenhalten. Der Vermögensteuer war zu einer | |
Chiffre für strategische Fragen geworden – ihre Fans bevorzugen | |
Rot-Rot-Grün, ihre Gegner Schwarz-Grün. | |
Die interessante Frage lautet deshalb: Werden alle Grünen, Kretschmann und | |
seine Leute inklusive, den Beschluss des Parteitags akzeptieren? Oder | |
werden sich alle weiter über Sinn oder Unsinn einer Vermögensteuer | |
streiten? Die Einschätzungen gehen auseinander. Manche hoffen, dass der | |
demokratische Beschluss die Leidenschaft der Streithähne einhegt. Andere | |
sind davon überzeugt, dass die nächste öffentliche Kritik von Grünen an der | |
Vermögensteuer nur eine Frage der Zeit ist. | |
12 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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