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# taz.de -- Armut in Deutschland: Gefühlte Katastrophen
> Die Armutsquote in der Bevölkerung ist stabil – trotzdem haben viele
> Leute Abstiegsängste. Warum ist das eigentlich so?
Bild: Die Gefahr, tatsächlich auf der Straße zu landen, ist gering – die An…
Die neueste Lieferung zum Thema kommt vom Statistischen Bundesamt: Der
Anteil der von Armut und Ausgrenzung bedrohten Bevölkerung in Deutschland
steigt nicht. Punkt. Es sind [1][ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung],
deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt, die erhebliche
materielle Entbehrungen erleiden müssen oder die in einem Haushalt mit
Langzeitarbeitslosen leben. Das ist viel, aber der Wert nimmt nicht zu.
Konservative und arbeitgebernahe Forschungsinstitute stürzen sich auf diese
Ergebnisse: Seht her, es wird nicht alles schlechter! Linke verweisen
hingegen auf Forschungen, nach denen [2][Reiche weiter Vermögen anhäufen],
während Arme noch ärmer werden.
Die Frage, ob sich die Gesellschaft mehr spaltet oder nicht, lässt sich je
nach den gewählten Parametern beantworten, soviel weiß man nun nach vielen
Jahrzehnten Verteilungsforschung. Dabei kommt es auf den Zeitraum in der
Erhebung an, ob man eine Dynamik betrachtet, ob man Einkommen, Vermögen
oder Rentenansprüche ermittelt, welche Gruppen man gegeneinander setzt und
so weiter.
Die [3][Forschungen] darüber, welche Spaltungen sich wie belegen lassen,
helfen allerdings wenig, wenn man sich den subjektiven Gefühlen, den
Ängsten vor dem Abstieg, zuwendet. Diese Gefühle sind real, sie können
gesellschaftliche Prozesse beeinflussen, wie man am Aufstieg der AfD sieht.
Und sie verdienen eine eigene Betrachtung, unabhängig von
Verteilungsstatistiken und deren Entwicklung.
## Hauptsache, es geht mir nicht schlechter als dem Nachbarn
Im Entwurf des fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung
befasst sich ein Kapitel mit den Gefühlen von wachsender Ungerechtigkeit
und der Angst vor Abstieg und Armut, die sich ermitteln lässt, obwohl es
den Leuten laut Einkommensstatistiken nicht schlechter geht. „Wahrnehmung
und messbare Realität gehen mitunter auseinander“, heißt es in dem Bericht.
Abstiegssorgen und das Gefühl von wachsender Ungerechtigkeit beruhen dabei
immer auch auf dem Vergleich mit der unmittelbaren Umgebung. Das ist
legitim. Man will sich nicht verschlechtern, wenn das die andern nicht auch
tun.
Was die Zukunftsangst befeuert haben könnte, lässt sich zusammentragen.
Seit einigen Jahren bekommen beispielsweise Jüngere alljährlich eine
Information von der Deutschen Rentenversicherung, wie hoch die zu
erwartende Rente wäre, wenn man verdiente wie bisher. So was kann bei
Schlechtverdienern die Stimmung auf den Nullpunkt sinken lassen.
Früher gab es solche Renteninformationen nicht, da konnte man sich die
Zukunft rosiger ausmalen. Die Stimmung wird nicht besser, wenn die Politik
ständig die Pflicht zur „privaten Altersvorsorge“ betont. Sparen gut und
schön, nur von was? Das fragen sich Kleinselbständige, ErzieherInnen oder
Medienschaffende, die von ihren Einkünften hohe Mieten, Zahnersatz und
Babysitter bezahlen müssen. Der Kostendruck wird in den
Einkommensstatistiken nicht erfasst.
Abstiegsängste sind immer auch eine Angst vor Kontrollverlust über das
eigene Leben. Wohlstand erscheint wie eine Sache von Glück oder Pech und
das liegt an den Erbschaften. Wer wohlhabende Eltern mit Immobilie und kaum
Geschwister oder Halbgeschwister hat, wessen Eltern nicht ins Pflegeheim
kommen und ihr Vermögen dort verbrauchen müssen, der oder die wähnt sich in
größerer Sicherheit.
Genug Geld zu haben, um unabhängig zu sein, gehört zur Vorstellung von
„Reichtum“, wie sich auch im Armuts- und Reichtumsbericht zeigt. Die
US-Amerikaner sprechen von „Fuck-you-money“, also dem Besitz von genug
Geld, um jeden zum Teufel jagen zu können, der einem dumm kommt.
Vielleicht steckt hinter der Abstiegsangst der hiesigen Mittelschichten
aber auch noch eine andere, eine archaische Furcht: die Angst vor
Gebrechlichkeit und physischer Hilfsbedürftigkeit. Eine Alterungsangst, die
wächst in einer Gesellschaft der Langlebigen, in der so viele Generationen
gleichzeitig auf der Welt sind wie noch nie zuvor, mit zunehmender
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, um Sozial- und Gesundheitsleistungen. Wenn
diese Angst so archaisch ist, dann können Reichtums- und Armutsstatistiken
nur ein Baustein sein, um sie einzuhegen.
3 Nov 2016
## LINKS
[1] /Statistik-zu-Armut-und-Ausgrenzung/!5248840
[2] /Kurswechsel-bei-den-Gruenen/!5346251
[3] /Soziologe-Gerd-Pohl-ueber-Privilegien/!5324972
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Erbschaftsteuer
Sozialer Abstieg
Altern
Lebensqualität
Rente
Altersarmut
Lesestück Meinung und Analyse
Rente
Senioren
Paritätischer Wohlfahrtsverband
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