# taz.de -- Flüchtlinge in Frankreich: Vor der Eroberung von Stalingrad | |
> Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge ins Zeltlager an der Metrostation | |
> Stalingrad in Paris. Die Behörden wollen noch diese Woche räumen. | |
Bild: Sthet vor der Räumung: das Zeltlager an der Metrostation Stalingrad im N… | |
PARIS taz | Noch in dieser Woche soll die Polizei den „Minidschungel“ | |
räumen, der sich rund um die Metrostation Stalingrad im Norden der | |
französischen Hauptstadt gebildet hat. In kleinen Igluzelten oder auf dem | |
bloßen Boden der Gehsteige übernachten mittlerweile zwischen 2.000 und | |
3.000 Menschen. | |
Die meisten kommen aus dem Sudan, aus Eritrea, Äthiopien, Somalia und | |
Afghanistan. Ein Teil von ihnen war bis vor Kurzem im „Dschungel“ von | |
Calais, der im Vormonat geräumt worden ist. Jetzt sind die französischen | |
Behörden entschlossen, auch in der Hauptstadt diese prekären Verhältnisse | |
zu beenden, die sie selbst als „sanitäre und humanitäre Notstandssituation�… | |
bezeichnen. | |
Unzählige Male sind Migranten und Flüchtlinge, die in Paris Kirchen oder | |
leer stehende Gebäude besetzt oder unter Brücken ihre Zelte aufgeschlagen | |
hatten, evakuiert oder schlicht vertrieben worden, ohne dass dies ihre | |
Rückkehr und die Ankunft zusätzlicher Vertriebener verhindert hätte. Und | |
noch nie waren sie in Paris so zahlreich wie jetzt. Jeden Tag kommen | |
schätzungsweise 70 neue Obdachlose aus Krisenherden hinzu. | |
Einige der etwas abseits von den Afrikanern zeltenden Afghanen sagen, sie | |
seien zu Beginn der Räumungsaktion am Ärmelkanal mit Namen registriert | |
worden. Weil sie aber nach Großbritannien und nicht in ein Aufnahmezentrum | |
in einem ihnen völlig unbekannten Ort in Frankreich verfrachtet werden | |
wollten, hätten sie dann nicht einen Bus bestiegen, der sie in eine | |
Unterkunft bringen sollte. Jetzt befürchten sie, deswegen bei einer | |
Kontrolle festgenommen und in Abschiebehaft gesteckt zu werden. | |
Der erst 16-jährige Nawid scheint besser informiert zu sein als andere, die | |
oft noch einmal wissen, dass das Lager in Calais geschlossen worden ist. | |
Auch er wollte den Ärmelkanal überqueren, doch für ihn ist der Traum vom | |
britischen „Eldorado“ vorbei, er will in Frankreich bleiben. Er hofft, als | |
Minderjähriger etwas humaner behandelt zu werden als seine älteren | |
Landsleute. Vorerst aber nächtigt er auf einer Matratze auf dem Boden | |
gleich neben dem Metro-Eingang. | |
## Häufig vorübergehend inhaftiert | |
„Das sind keine Evakuierungen, das sind Razzien“, schimpft Catherine über | |
die Identitätskontrollen unter den Menschen rund um die Metro-Station im | |
Norden von Paris. Wer keine Adresse angeben kann, und sei es auch nur mit | |
einer Bescheinigung für Asylbewerber der Organisation France Terre d’Asile, | |
riskiert eine vorübergehende Inhaftierung. | |
Seit drei Monaten kommt die 63-jährige Rentnerin zu diesen Menschen aus | |
Sudan, Eritrea, Äthiopien und Somalia, die in ihrem Wohnquartier im 19. | |
Arrondissement in der Mitte der Avenue de Flandre und unter der | |
Metro-Überführung campieren. An diesem Tag verteilt sie schwarze | |
Wollmützen, die sie von einem gemeinnützigen Verein erhalten habe, und gibt | |
Ratschläge auf Englisch und einigen rasch gelernten Brocken Arabisch. | |
Ihre Freundin Claire verteilt jeden Morgen, bevor sie zur Arbeit geht, | |
Frühstücksgebäck an die Migranten, die für ihre Hygiene nur eine | |
Wasserstelle und ein paar mobile Pisswände zur Verfügung haben. | |
## Räumung in Calais als Vorbild | |
Schon das ist für einige Anwohner und Geschäftsleute des Guten zu viel. | |
„Wenn du ihnen etwas gibst, sagen die sich: Da gibt es sicher noch mehr“, | |
sagt der Pakistaner Mohamad Ilias. Er steht mit seiner traditionellen | |
Pakol-Mütze händeringend vor seinem Basar an der Avenue de Flandre. | |
Seit fünf Monaten sei sein Umsatz um 70 Prozent gesunken, mit seinen | |
wenigen Verkäufen könne er heute nicht mal seine Miete bezahlen, klagt er. | |
Schuld daran seien nicht nur die Migranten, sondern auch die wohlmeinenden | |
Nachbarn, die diesen helfen. Wie Großbritannien müsse Frankreich einfach | |
die Grenzen schließen, schlägt er vor. Er erhofft sich von einer | |
Evakuierung von „Stalingrad“ nur eine kurze Besserung. | |
Für die Behörden gibt es keine Alternative zur polizeilichen Räumung. Nach | |
dem Vorbild der Operation in Calais, die als voller Erfolg dargestellt | |
wird, sollen die knapp 3.000 Menschen rund um Stalingrad registriert und | |
dann in Bussen in die diversen Aufnahmezentren gebracht werden. Wie in | |
Calais soll so zumindest für den Augenblick das Problem aus der Sichtweite | |
verschwinden. Notfalls mit Polizeigewalt. | |
2 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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