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# taz.de -- „Dschungel“ nach der Räumung: Geschichte wiederholt sich
> Viele Bewohner sind bei Calais untergetaucht, Freiwillige und
> Hilfsorganisationen sind noch da. Wie sehen sie die Lage, wie ändert sich
> ihre Arbeit nun?
Bild: Calais am Freitagmorgen
Calais taz | Die Botschaft steht auf einem Dixi-Klo am Beginn der völlig
zerstörten Hauptstraße des Flüchtlingscamps: „Thank you all Volunteers of
Jungle. From bottom of my heart, I love you all.“ Die zwei Sätze verweisen
auf ein zentrales Merkmal der Situation in Calais: Seit die Stadt an der
nordfranzösischen Küste vor 17 Jahren ein Hotspot auf der Landkarte
europäischer Migrationsrouten wurde, haben freiwillige Helfer hier eine
tragende Rolle gespielt – schon deshalb, weil die Migranten, die von hier
aus das nur 34 Kilometer entfernte Großbritannien auf der anderen Seite des
Ärmelkanals erreichen wollten, in Frankreich keinerlei Anspruch auf
staatliche Unterstützung hatten.
Die volunteers sind es auch, die am Donnerstagnachmittag vor dem
abgeriegelten Dschungel ausharren, gemeinsam mit den letzten rund hundert
Bewohnern, für die weder ein Bus in ein Auffangzentrum bereitsteht noch
eine Unterkunft in und um Calais. Erkennbar sind die Helfer an ihren
farbigen Westen: Die gelben Westen sind die von Salam, die einst die
Pioniere der Essensausgabe waren, die roten die von Save The Children, die
weiß-blauen die von Refugee Youth Service.
Eine solche weiß-blaue Weste trägt auch Jonny Willis, ein Brite um die 30,
der die Organisation 2015 gründete. Sie verteilt Essen, kümmert sich um
Schlafplätze und unterhält ein Bildungsprojekt an Schulen. 20 Freiwillige
aus England, Irland und Dänemark sind in Calais für die Organisation aktiv,
dem einzigen Einsatzort außerhalb Großbritanniens. Finanziert wird sie
unter anderem von ihrer Partnerorganisation Save The Children.
2015 kam Jonny Willis zum ersten Mal nach Calais – wie so viele von der
anderen Seite des Kanals, nachdem das Thema durch die Tunnelstürmungen des
Sommers zum Medienereignis geworden war. In der Folgezeit entstanden große
Teile der Helfer-Infrastruktur. Viele Dutzend Unterstützer waren dauerhaft
vor Ort. An jedem Wochenende kamen weitere Dutzende Freiwillige aus
Großbritannien herüber nach Frankreich.
## Sorge um Minderjährige
Willis ist seitdem permanent on the ground, wie es im Fachjargon heißt. Und
er ist vertraut mit der Geschichte von Calais als Migrationsknotenpunkt.
Die Situation nun, nach der Räumung, vergleicht er mit derjenigen von 2002.
Damals wurde das berüchtigte Auffanglager im nahen Sangatte geschlossen. In
der Folge verschwanden zahlreiche Migranten nicht etwa, sondern schliefen
in den Straßen der Stadt. Daraus entstand schon damals ein Dschungel. „Auch
jetzt werden sie wiederkommen“, sagt er. „Die Geschichte wiederholt sich in
Calais. Es ist nur eine Frage, wann.“
Seine Organisation, sagt Willis, wolle dann gerne wieder vor allem für die
Minderjährigen da sein, die besonders verletzbar seien. Bis dahin will sich
der Refugee Youth Service zunächst um die Jugendlichen kümmern, die noch in
den Containern am Rand des Dschungels sind. Ansonsten richtet man sich auf
zwei Aufgaben ein: Man will den Menschen helfen, auf legalem Weg nach
Großbritannien zu kommen. Oder dabei, Schutz in Frankreich zu finden. „Wir
unterstützen nicht, dass ein neuer Dschungel auftaucht oder dass
Minderjährige in kleinere Camps ziehen, die noch prekärer sind“, sagt
Willis.
Am selben Abend in einem Wohnzimmer im Zentrum der Stadt: Auch hier wird
über die Ereignisse der vergangenen Tage gesprochen – wie schon so oft am
Tisch von Anne Dekeister und Patrice Druelle. Das Paar – sie ist
Psychologin, er repariert Blasinstrumente – engagiert sich seit Jahren für
die Migranten. Die beiden sind allerdings nicht Teil einer der
associations. „Dann hat man keinen Frieden“, sagt Anne Dekeister, etwas
grinsend – ein Hinweis auf die gelegentlichen inhaltlichen
Auseinandersetzungen zwischen den Hilfsorganisationen.
## Freiwillige wuschen Wäsche
Auch Freiwillige wie sie haben Calais’ jüngere Migrationsgeschichte
geprägt. 1999 kamen Dekeister und Druelle zum ersten Mal in Kontakt mit dem
Thema. Damals trafen sie im Bahnhof der Stadt auf zahlreiche Flüchtlinge
aus dem Kosovo. Als das Lager in Sangatte nahe Calais geschlossen wurde,
nahm Patrice Druelle an einer Noise Demo teil. Anne Dekeister nahm
Migranten im Auto mit, was damals noch als Unterstützung Illegaler unter
Strafe stand. Später brachten sie Teekannen in den Dschungel und wuschen zu
Hause Wäsche für Bewohner.
Mit den Jahren nahmen ihre Aktivitäten zu. Als einschneidend empfand es
Anne Dekeister, als sie miterlebte, wie das Zeltlager syrischer Flüchtlinge
auf dem Platz der damaligen Essensausgabe am Hafen geräumt wurde. „Es waren
200 Menschen. Mit Bulldozern wurden ihre Zelte zerstört. Ich fühlte mich
vollkommen leer.“ Und die Syrer? „Die wurden mit Bussen in den Osten des
Landes gebracht und dort ausgesetzt. Nach zwei, drei Tagen waren sie
zurück.“
Es folgten neue Besetzungen leerstehender Häuser und ein neuer Dschungel in
den Dünen. Als der 2015 geräumt wurde, transportierte Anne Dekeister
Bewohner ein paar Kilometer weiter, an den Ort, der bis diese Woche das
bekannteste Flüchtlingscamp des Kontinents war. Später half sie dort beim
Bau der ersten Hütten. In der letzten Zeit, mit den Bränden und
Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern, wurden ihre Besuche weniger.
Wie schätzt sie die Zukunft ein für Migranten in Calais? „Ich bin sicher,
dass sie zurückkommen“, sagt sie. „Aber es wird immer schwieriger. Man wird
sehr strikt versuchen, einen neuen Dschungel zu verhindern. Heute las ich
in der Zeitung, dass sich die Behörden einen Überblick über alle
leerstehenden Häuser in der Umgebung verschaffen wollen.“
Und ihre Möglichkeiten als unabhängige Unterstützerin? „Ich fürchte, die
einzige Option wird sein, Flüchtlingen Unterschlupf zu bieten. Aber dann
stellt sich die Frage, wie lange, oder: Warum nimmt man zwei auf und nicht
vier?“
## 4.000 Verschwundene
Bei den offiziellen Hilfsorganisationen stellt man sich derweil auf die
neue Lage ein. „Wir werden weiter Mahlzeiten ausgeben“, sagt François
Guennoc von L’Auberge des Migrants. Die Gruppe ist seit 2008 aktiv und
damit einer der älteren Akteure der Szene. „Und wir versuchen, mit
Migranten in Kontakt zu kommen, die sich nun in der Umgebung versteckt
halten.“ Er verweist auf 4.000 Menschen, die vor oder während der Räumung
aus Calais verschwunden seien. „Manche sind vermutlich in Paris oder
Belgien. Aber wir sind sicher, dass sie wiederkommen, um von hier aus den
Kanal zu überqueren.“
Guennocs Organisation L’Auberge des Migrants arbeitet inzwischen eng mit
ihrer britischen Partnerorganisation Help Refugees zusammen. Die
Aktivitäten der Vereinigung werden sich künftig ausdehnen. Schon in den
Wochen vor der Räumung versuchte man, ein Netzwerk im ganzen Land
aufzubauen, um auch in den Auffangzentren Unterstützung anzubieten. „In
manchen davon sind die Bedingungen sehr gut, aber in anderen sehr schlecht.
In manchen davon sind wir schon aktiv, etwa einem in der Normandie, wo die
Versorgung mit Essen sehr schlecht ist. Wir haben nun landesweit 3.000
Personen, die uns unterstützen wollen.“
Ein Fokus für die Helfer, sagt Guennoc, liege in der nahen Zukunft auf
Paris. In den letzten Tagen des Dschungels hörte man gelegentlich von
Bewohnern, die in die Hauptstadt ziehen wollten. Guennoc bestätigt das:
„Immer mehr Flüchtlinge schlafen dort in Zelten auf der Straße. Wir werden
nun verstärkt Organisationen vor Ort unterstützen.“
28 Oct 2016
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Calais
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Großbritannien
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