# taz.de -- Streitschrift zur Reformierung der EU: Europa, bitte links abbiegen | |
> Rechtspopulisten sind im Aufwind. Und die EU schwächelt. Mit einer | |
> Streitschrift wollen Rot-Rot-Grüne ein solidarisches und demokratisches | |
> Europa kreieren. | |
Bild: Links (von ihr aus gesehen) lang – letzter Ausweg für die EU? | |
Berlin taz | Die EU schwächelt, sie bröckelt, überall sind | |
Rechtsnationalisten im Aufwind. Ist Europa noch zu retten? „Europa geht | |
auch solidarisch“, postulieren die Politologin Gesine Schwan, Verdi-Chef | |
Frank Bsirske, Wirtschaftswissenschaftler und führende Finanzpolitiker der | |
Linkspartei und plädieren für eine radikale Reform der EU. | |
In einer Streitschrift, die der taz vorab vorliegt, kombinieren sie linke | |
Kritik mit linken Visionen. Forderungen aus dem eigenen Spektrum nach einem | |
Ausstieg aus dem Euro erteilen sie eine Absage und skizzieren die Vision | |
einer Europäischen Ausgleichsunion mit einer demokratisch gewählten | |
europäischen Wirtschaftsregierung, die Einfluss auf die Haushalte der | |
Nationalstaaten nimmt und in der Lage ist, aktuelle Herausforderungen, wie | |
die der Flüchtlinge, gütlich und solidarisch zu lösen. Die Verfasser wollen | |
die EU also retten, indem sie deutlich mehr Europa fordern, mithin eine Art | |
Lightversion der Vereinigten Staaten von Europa. | |
Schwan gehört der Grundwertekommission der SPD an, Bsirske ist Mitglied bei | |
Bündnis 90/Die Grünen und ein weiterer Autor, Harald Wolf, war zehn Jahre | |
lang Berlins Wirtschaftssenator und handelt gerade für die Linkspartei den | |
Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen aus. „Das ist mal eine andere Art von | |
Rot-Rot-Grün“, frohlockt Linksparteivize Axel Troost, der das Autorenteam | |
maßgeblich zusammenschmiedete. Der Finanzpolitiker, der in der Linkspartei | |
die zwischen rechtem und linkem Flügel angesiedelte Strömung „Mittelerde“ | |
vertritt, gewann auch Wirtschaftswissenschaftler wie Mechthild Schrooten, | |
eine der Sprecherinnen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik | |
(Memorandum-Gruppe), und Politologen wie Klaus Busch, der die Gewerkschaft | |
Verdi europapolitisch berät. | |
Ein gesellschaftlich und politisch breit aufgestelltes Autorenteam also. | |
Man kennt sich bereits aus der Gruppe „Europa neu begründen“, die im | |
vergangenen Jahr mit einem entsprechenden Aufruf im Internet auf sich | |
aufmerksam machte. | |
## Linke Euroskeptiker sind selten, aber laut | |
Das 82-seitige Papier für ein solidarisches Europa soll am4. November | |
veröffentlicht werden. Es ist nicht nur ein Versuch, dem linken Dilemma zu | |
entkommen, die stets kritisierte und mit Attributen wie „neoliberal“, | |
„bürokratisch“, „intransparent“ und „undemokratisch“ bedachte EU g… | |
rechte Nationalisten in Schutz zu nehmen. Es ist auch eine deutliche Kritik | |
an den Verfechtern linker Ausbruchsversuche aus dem Euro, die nicht mehr | |
daran glauben, dass die EU noch zum Besseren zu verändern sei. „Die | |
zentrale Botschaft dieser Streitschrift liegt in der These, dass die EU und | |
der Euro sich reformieren lassen“, heißt es fast trotzig. | |
„Es gibt überall Zweifel an der Reformierbarkeit des Euro, ja sogar der EU | |
insgesamt. Am stärksten ist er in der Partei Die Linke und natürlich noch | |
mehr bei der Rechten, aber auch bei renommierten Freidemokraten“, begründet | |
Schwan gegenüber der taz die Fokussierung. Wenn man jedoch die | |
Reformierbarkeit der EU infrage stelle, bedeute das praktisch – um der | |
Demokratie willen – eine Rückkehr zu einem lockeren Verbund von | |
Nationalstaaten. „Damit ist das Projekt der Europäischen Union am Ende“, | |
warnt Schwan. | |
Die linken Euroskeptiker sind zwar eine Minderheit, aber eine laute, erst | |
recht nachdem die Troika, das Triumvirat aus Europäischer Kommission, | |
Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, der | |
sozialistischen Syriza-Regierung in Griechenland als Gegenleistung für den | |
Verbleib im Euroraum eine kompromisslose Privatisierungs- und Sparpolitik | |
aufgezwungen hatte. Zu den Befürwortern eines „Plan B“, eines Notausgangs | |
aus dem Euro, für den Fall, dass sich die EU und der Euro nicht | |
demokratisieren lassen, gehören der deutsche Regionalpolitiker Oskar | |
Lafontaine, der französische Sozialist Jean-Luc Mélenchon und Griechenlands | |
Exfinanzminister Yannis Varoufakis. Sie hatten ihren Plan vor gut einem | |
Jahr vorgestellt. | |
Mittlerweile ist Varoufakis von der Exit-Idee als goldener Hintertür wieder | |
abgerückt und tourte stattdessen als Warner vor dem Brexit durch | |
Großbritannien. Doch in Frankreich will Präsidentschaftskandidat Mélenchon | |
sein Land nach wie vor aus dem Euro führen, und in Deutschland wirbt | |
Lafontaine für eine Rückkehr zu nationaler Währungs- und | |
Wirtschaftspolitik, prominent unterstützt von seiner Ehefrau, der | |
Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag, Sahra Wagenknecht. „Ein | |
einzelnes Land muss die Chance haben, eine linke Politik zu machen“, sagte | |
sie auf einer Konferenz zur Zukunft Europas, zu welcher ihre Fraktion im | |
September eingeladen hatte. Das „Reinregieren“ müsse aufhören, forderte | |
Wagenknecht. Ein anderes Währungssystem sei Teil dieser, wie sie es nennt, | |
Demokratisierung. | |
## Keine Rückkehr zu Peso, Drachme und Lira | |
Ohne Wagenknecht namentlich zu nennen, erteilen die Verfasser den | |
Exit-Gedankenspielen eine Absage. „Ihre politische Umsetzung würde die EU, | |
aber auch die Exit-Staaten in massive sozialökonomische Krisen stürzen“, | |
schreiben sie und sehen sogar die Gefahr eines Wirtschaftskrieges. | |
Zwar teilen sie die Analyse der Exit-Fans, dass es unter Nationalstaaten, | |
die in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung | |
konkurrieren, unweigerlich zu Verwerfungen kommt. Dies geschehe, weil | |
wirtschaftlich potente Länder, wie Deutschland, alle Vorteile der | |
gemeinsamen Währung auf ihrer Seite haben und ihre Exportüberschüsse auf | |
Kosten wirtschaftlich abgehängter Länder erzielen, die mit einem „zu | |
teuren“ Euro nicht wettbewerbsfähig produzieren. | |
Allerdings sehen Troost, Schwan, Bsirske und Co. die Rückkehr zu Peso, | |
Drachme und Lira und einem System fester Wechselkurse nicht als Ausweg. Mit | |
einer schwächeren Währung würden zwar die Produktionskosten zunächst | |
sinken. Gleichzeitig, so argumentieren sie, stiegen aber die Kosten für | |
Kredite und Importe, sodass die Regierungen gezwungen seien, Löhne und | |
Investitionen zu kürzen. „Es erweist sich damit als recht naive | |
Vorstellung, dass mit der Auflösung der Wirtschafts- und Währungsunion die | |
bisherigen Eurostaaten einen größeren Spielraum für eine fortschrittliche | |
Wachstums-, Beschäftigungs-, Sozial- und Lohnpolitik erlangen könnten“, | |
schreiben sie. | |
Diese Spielräume sehen sie nur, wenn die EU-Mitglieder ihre Egoismen | |
überwinden, ihre Schulden vergemeinschaften und einen größeren Teil ihrer | |
Einnahmen in einen gemeinsamen Topf abtreten. Radikale, aber keine neuen | |
Vorschläge und beileibe keine mit linkem Patentschutz. | |
## „Deshalb brauchen wir einen Regierungswechsel“ | |
Die Streitschrift verweist auf sechs Jahre alte Pläne des damaligen | |
Kommissionspräsidenten Manuel Barroso und des Ratspräsidenten Herman Van | |
Rompuy. Die sogenannte Blaupause für eine vertiefte Wirtschafts- und | |
Währungsunion, die die beiden konservativen Politiker unterbreiteten, um | |
die Mängel der Maastrichter EU-Verträge auszugleichen, wurde nie umgesetzt. | |
Dies gilt auch für die Eurobonds, die der damalige Premierminister | |
Luxemburgs, Jean-Claude Juncker, und Italiens Exfinanzminister unter Silvio | |
Berlusconi, Giulio Tremonti, vorschlugen. | |
„Es ist eine Vision, die nur umsetzbar ist, wenn es in Deutschland und | |
Frankreich einen Änderungswillen gäbe“, räumt Troost ein. Dass Merkel die | |
Streitschrift zur Grundlage ihrer Europapolitik machen wird, ist indes | |
nicht zu erwarten. Eine Voraussetzung, damit die Vorschläge Wirklichkeit | |
werden, wäre daher so Troost, „dass sich in Richtung Rot-Rot-Grün etwas | |
bewegt“. Selbst wenn das gelänge, müssten sich dann allerdings noch die | |
KritikerInnen in der eigenen Partei hinter der Version einer solidarischen | |
EU versammeln. | |
Auch Schwan hält einen Politikwechsel in Deutschland, der endlich | |
solidarische Lösungen für die EU ermögliche, für dringend erforderlich. | |
„Wenn Wolfgang Schäuble und Angela Merkel dazu bereit wären, wäre das | |
wunderbar“, so Schwan zur taz. Aber das sehe sie nicht. „Deshalb brauchen | |
wir einen Regierungswechsel.“ | |
30 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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