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# taz.de -- Demografischer Wandel in Brandenburg: Das Leben der Totgesagten
> Während Berlin wächst, schrumpfen im Umland die Ortschaften. Wie die
> brandenburgische Gemeinde Schipkau ihren Weg sucht.
Bild: Bei der Löschübung der Freiwilligen Feuerwehr im Jahr 2000 war in Schip…
Schipkau (Lausitz) taz | Zunächst weist wenig darauf hin, dass die Gemeinde
Schipkau gar nicht so ausgestorben ist, wie sie anmutet. Gleich am
Ortseingang von Klettwitz steht ein Haus, das zum Verkauf angeboten wird.
Und am Marktplatz ist das einzige Gasthaus des Orts heute geschlossen. Wer
etwas essen will, muss bis zur Tankstelle fahren, wo die Lastwagenfahrer
für Kundschaft sorgen. Nur ein bärtiger Mann mit zerzausten Haaren und
Mütze radelt über den Marktplatz. Es ist derselbe Radfahrer wie am Tag
zuvor.
Man könnte sagen, die Gemeinde Schipkau in der brandenburgischen Lausitz
ist ein Produkt des Verfalls. Sechs Dörfer, die nach der Wende mit dem
Wirtschaftseinbruch und dem Wegzug der Einheimischen zu kämpfen hatten.
Ende 2001 haben sie sich zu einer Gemeinde zusammengeschlossen, um die
einzelnen Dörfer vor dem Verschwinden zu bewahren.
Die Herausforderungen sind gigantisch: Der dominante Braunkohletagebau hat
nach der Wende schließen müssen. Und auch wenn die Bagger die Gemeinde
verschont haben, sind weitere Unternehmen und damit die Menschen
verschwunden. Von 8.350 Einwohnern bei der Gemeindefusion sind heute noch
rund 6.800 verblieben. Was also hält einen Ort am Leben, der so ums
Überleben kämpft wie Schipkau?
## Verkauf für eine D-Mark
Es braucht Einzelpersonen, es braucht ihre Ideen, ihr Engagement, um den
Verfall des Dorfs zu verhindern. Horst Pawlik ist einer von ihnen. Er ist
geblieben, als viele gingen. Pawlik, 70 Jahre alt, hat dünnes Haar, eine
laute Stimme und einen leicht wankenden Gang. Er erzählt leidenschaftlich
gern. Er ist hier geboren, hat wie die meisten im Glaswerk gearbeitet und
ist seit über zwanzig Jahren Ortsvorsteher in Annahütte.
Sein Amtsantritt fiel in eine besonders harte Zeit für den Ortsteil. Nach
der Wende wurde das Glaswerk mit rund 400 Beschäftigten mitsamt der
Arbeitersiedlung vom Liegenschaftsfonds an einen Investor aus dem Westen
verkauft – für eine D-Mark. Der betrieb das Werk zunächst weiter, strich
Subventionen in Millionenhöhe ein, schloss nach wenigen Jahren die Hütte
wieder, verkaufte die Reste des Werks für siebenstellige Beträge nach
Cottbus und die Häuser der Siedlung für 400.000 DM zurück an das Land
Brandenburg. „Wirtschaftskriminalität haben wir hier direkt vor der
Haustür“, sagt Pawlik dazu. Dabei ist das eigentlich Tragische, dass alles
legal war.
Pawlik und seine Freunde wollten nicht zusehen, wie der Ort langsam
ausstarb. Ein frisch gegründeter Verein machte sich daran, das zerfallende
Gotteshaus zu renovieren „Wir wollten die Kirche im Dorf lassen“, sagt
Pawlik lachend. Heute ist die Henriettenkirche die Sehenswürdigkeit des
Orts, und regelmäßig finden dort Veranstaltungen statt, darunter die
Brandenburgischen Sommerkonzerte.
Trotzdem fehlt es an Arbeit in Annahütte. Von einst 60 Gewerbetreibenden
sind nur noch 21 aktiv. Der größte Arbeitgeber ist jetzt das Altenheim mit
über 100 Arbeitsplätzen. Dessen Ansiedlung 2006 war ein großer Erfolg.
## Künstler in die Glaswerksiedlung?
Das Sorgenkind bleibt die Glaswerksiedlung. Sie steht unter Denkmalschutz,
das macht die Sanierung kostspielig. Heute stehen 70 Prozent der Häuser
leer, immerhin 30 Prozent sind liebevoll renoviert. Sie wirken etwas
verloren zwischen den anderen Backsteinhäusern mit bröckeligem Mauerwerk
und zugenagelten Fenstern. Es muss ein komisches Gefühl sein, von Häusern
umgeben zu sein, aber nicht von Nachbarn.
Dabei haben sie im Ort alles versucht, um neue Nachbarn zu finden. Bei der
Sanierung der Siedlung sollten zunächst Subventionen vom Land helfen – mit
der Auflage, die Häuser bis 2015 zu privatisieren. Da sich keine Käufer
fanden, musste die Gemeinde im großen Stil Subventionsmittel
zurücküberweisen. Fortan standen die Häuser für einen Euro zum Verkauf.
„Wir dachten, die rennen uns die Bude ein“, erzählt Pawlik. Aber kaum
jemand zeigte Interesse. „Mehr Menschen wie Herrn Kersten bräuchten wir
hier.“
Antonius Kersten ist eine der schillerndsten Figuren im Dorf – und
Zugezogener. Der Holländer trägt eine Lederjacke, die Haare zur Seite
geschwungen und eine dieser modernen Brillen mit breiten Bügeln. Er besitzt
auch eine Wohnung im Herzen Amsterdams, seine Zeit verbringt er aber lieber
in Schipkau. „Hier ist es einfach besser“, sagt er. „Zumindest, wenn man …
sich leisten kann, nicht ortsgebunden zu arbeiten.“
## Prinzip: selber machen
So wie er, der Filmemacher, der 2004 auf der Suche nach einem Grundstück
nach Schipkau kam. Was er fand, war das Haus des ehemaligen
Glashüttendirektors. „Welcher Wahnsinn reitet den Mann, diese Bude zu
übernehmen“, dachte Pawlik damals. Das Haus war heruntergekommen, aber
Kersten und seine Frau waren gewillt, etwas daraus zu machen. Heute kennt
jeder das herrschaftliches Haus wenige Meter von der Kirche entfernt.
Aufwendiger Stuck ziert die Decke, und antik möblierte Zimmer sowie alte
holländische Gemälde sorgen für Charme.
Villa Heyde, hat Kersten sein Haus genannt, zu Ehren des ehemaligen
Glashüttendirektors, und gelegentlich scheint es so, als sei Kersten auf
dem besten Weg, eine ähnlich wichtige Rolle für den Ortsteil einzunehmen.
Neben seinen Filmprojekten über das Dorf oder seinem Engagement in Film-AGs
an Schulen, finden in seinem Haus Veranstaltungen statt.
Selbermachen ist zu Kerstens Prinzip geworden. Der agile 64-Jährige hat
große Ideen für die verfallende Glaswerksiedlung: „Wir brauchen
Kreativität. Die Siedlung wäre super für Künstler.“ Doch Banken gewähren
häufig keine Kredite, da sie auf die Gewinnchancen in dieser Region kaum
vertrauen. Ortsvorsteher Pawlik stützt sich auf die Ellenbogen, beugt sich
nach vorn und sagt mit seiner kräftigen Stimme: „Unter diesen Umständen
musst du kämpfen.“
Gekämpft haben sie um ihren Kindergarten. Den wollte die Gemeinde
schließen, als er sich 1998 nur noch um 19 Kinder kümmerte. Heute sind es
über 100. Wie in der Kirche haben die verbliebenen Annahütter angepackt und
den Kindergarten schön gemacht. Auch die Grundschule hat in diesen Tagen
ihre Existenzzusicherung für weitere drei bis fünf Jahre erhalten. Es sind
die kleinen Erfolge, die zählen.
## Gemeinschaftsgefühl ist wichtig
Was ein Dorf zum Überleben braucht, sind die Vereine. Wichtiger als
Einkaufsmöglichkeiten. Macht der Dorfladen dicht, läuft das heute eben
größtenteils über Bestellungen per Internet. Aber die Gemeinschaft, die die
freiwillige Feuerwehr, Heimat- und Fußballverein oder Chor erzeugen, ist
kaum zu ersetzen.
Der Großstädter Kersten schwärmt davon: „In Amsterdam trifft man in einer
Stunde mehr Menschen als hier an drei Tagen. Dafür redet man hier in einer
Stunde mehr miteinander als in Amsterdam an drei Tagen.“
Solche Worte sind Balsam auf die Seele des Schipkauer Bürgermeisters Klaus
Prietzel (CDU), eines großen, schlanken Mannes mit festem Händedruck,
tiefer Stimme und gut sitzendem Anzug. Sein Ziel ist es, die Wende für
Schipkau zu schaffen: von der Schrumpfung zum Wachstum.
Die Entstehung von Solarenergieanlagen und ein Bürgerstrommodell, das für
jeden Bürger von den üppigen Einnahmen der Betreiber immerhin 80 Euro
jährlich ausschüttet, die neue Ladenzeile im gleichnamigen Ortsteil
Schipkau und die Sanierung der Kitas sind für den Bürgermeister genauso
Vorzeigeprojekte wie der Windpark Klettwitz. Trotzdem gilt in Schipkau: Die
fossilen Energien gingen, die erneuerbaren kamen, unterm Strich fehlen
Arbeitsplätze.
## Unkonventionelle Methoden sind erlaubt
Um das zu ändern, helfe nur eine schlanke Verwaltung und eine niedrige
Gewerbesteuer – meint Prietzel, der so unternehmensfreundlich wie möglich
agieren will. Wenn private Leute Ideen für den Ort haben, aber die Banken
keine Kredite geben, dann springt schon mal die Gemeinde als Kreditnehmer
ein. Unkonventionelle Methoden sind gefragt, wenn es mit Schipkau eines
Tages wieder bergauf gehen soll.
Trotzdem sind es kleine Schritte in einem langen Prozess, große Träume
gehören der Vergangenheit an: „Wir müssen uns von der Idee von Ansiedlungen
mit Tausenden Arbeitsplätzen verabschieden“, sagt Prietzel. „Bayerische
Verhältnisse stehen hier eben nicht in Aussicht.“ Er glaubt an die Kraft
der kleinen Unternehmen, mehr als an Großprojekte wie dem Lausitzring.
Als wirtschaftlichen Rettungsanker investierte das Land Brandenburg kräftig
in den Bau der Rennstrecke. Die Formel 1 sollte kommen und kam nie, genauso
wenig wie die versprochenen 1.000 Arbeitsplätze.
## Besonders mitarbeiterfreundlich
Eines von Prietzels Lieblingsbeispielen ist die Firma Haltec im Ortsteil
Meuro. Der Vorsitzende des Kleintierzüchtervereins Frank Noack leitet dort
seit 2001 ein technisches Büro. Noacks Bereich wächst. Mittlerweile
beschäftigt er 19 Mitarbeiter, die Pläne für Hallen und Zeltkonstruktionen
entwerfen und statistische Berechnungen liefern. „Wenn du generell an einem
unattraktiven Ort bist, musst du dich als Arbeitgeber anstrengen und
besonders mitarbeiterfreundlich sein“, sagt er .
Im Bürgermeisteramt kommen derweil jeden Montag die Einwohnerzahlen auf den
Tisch – als Messzahl für die Entwicklung des Orts. „Davon hängt dann ab, …
ich in der Woche gute oder schlechte Laune habe“, sagt Prietzel und holt zu
seinem größten Trumpf aus: eine Statistik des Jahres 2016, der zufolge die
Einwohnerzahl der lange geschrumpften Gemeinde um acht Einwohner gestiegen
ist.
Zwar spielen auch die schwankenden Zahlen von aufgenommenen Geflüchteten
eine Rolle, doch trotzdem scheint es, als wäre zumindest der Abwärtstrend
in Schipkau vorerst gestoppt. Vielleicht wächst es ja eines Tages wieder,
wenn die Städte so teuer geworden sind, dass das Land wieder beliebt wird.
Davon reden sie hier gern. Zukunftsmusik.
31 Oct 2016
## AUTOREN
Fabian Grieger
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