# taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Lieber Giovanni di Lorenzo | |
> Atomausstieg, Mülltrennung und keine Schwulenwitze: Haben wir in | |
> Deutschland eine Grüne Hegemonie, eine Grüne Kanzlerin, eine Grüne | |
> Allmacht? | |
Bild: Es ist noch längst nicht alles grün, aber das Bisschen sorgt schon für… | |
Wir haben in Deutschland eine grüne Hegemonie. Angela Merkel ist die | |
Kanzlerin der Grünen. Obwohl die Grünen im Bund lahm in der Opposition | |
sitzen, herrscht bei uns „Grüne Allmacht“. Dies ist, kaum verkürzt, die | |
Position der Zeit-Chefredakteure Giovanni di Lorenzo und Bernd Ulrich, zwei | |
der einflussreichsten Zeitdiagnostiker der Mediengesellschaft. | |
Meine Kinder würden jetzt genau zwei Worte sagen: Als ob. | |
Aber hören wir die Argumente. Die Anhänger des Grünen säßen an den | |
Schaltstellen des Landes und hätten durchgesetzt, dass keiner mehr über | |
Schwulenwitze lache, alle für Atomausstieg seien und der Aldi Bio verkaufe. | |
Leider sei es beim Durchregieren auch zu Grünen „Exzessen“ gekommen, wozu | |
für di Lorenzo offenbar die humanitäre Geflüchteten-Politik der Kanzlerin | |
aus dem vergangenen Jahr gehört. Diese Exzesse hätten zum Aufstieg der AfD | |
geführt. Außerdem – das ist jetzt von Ulrich – sollten die Grünen zu ihr… | |
Allmacht verantwortlich stehen. Und Schwarz-Grün machen. Mit Winfried | |
Kretschmann als Bundespräsident. | |
## Hegemonie-Behauptung | |
Es steht immer viel Kluges in der Zeit. Die Hegemonie-Behauptung zähle ich | |
nicht dazu. | |
Was in diesem Land vorangekommen ist, ist eine geschlechter-, | |
identitätspolitische und staatsbürgerrechtliche Liberalisierung. Das ist | |
aber nicht originär Grün, sondern die Verlängerung der | |
Emanzipationsbewegungen von '68. Vor allem die Konservativen haben sich | |
vorwärtsbewegt, das ist der Witz. Die Grünen haben etwas dazu getan und | |
anderes von der Mehrheit angenommen. | |
Deshalb ist die AfD eben nicht die Gegenbewegung zu den Grünen. Sie ist die | |
anti-emanzipatorische Gegenbewegung zur liberalen und gemäßigten | |
Emanzipation des Großteils der Gesellschaft. Heißt: Die klassische Ehe ist | |
und bleibt die bevorzugte Lebensform, und andere Orientierungen, Entwürfe, | |
Lebensstile sind auch okay. Europa ist okay. Einwanderung ist okay. Zu den | |
Emanzipierten gehören neben Grünen größere Teile der SPD-, CDU- und auch | |
CSU-Wähler, zur Gegenbewegung frühere Nichtwähler, sowie Ex-SPD- und | |
Union-Wähler. | |
Dass die Grünen jetzt in allen Schlüsselpositionen sitzen? Das stimmt doch | |
nicht mal für die taz und die Zeit. Dass die Grünen aus der Opposition | |
heraus das Land verändern? Sie haben es zwischen 1998 und 2005 verändert | |
und sie tun es jetzt in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und anderen | |
Ländern. Dass Merkel eine Grüne sein soll? Sie gilt auch schon als liberale | |
Marktradikale. Und als Sozialdemokratin. | |
Was heißt das? Es gibt überhaupt keine Hegemonie in Deutschland. Es droht | |
auch keine AfD-„Gegenhegemonie“. Es gibt gesellschaftliche und politische | |
Kompromisse, wer mitmischt, kann sie beeinflussen. Das gilt für AfD und | |
Grüne. | |
## Das, was fehlt | |
Vor allem aber: Wer Grün auf Geschlechter, Menschenrechte und | |
Sprachkorrektheit reduziert, vergisst den Kern. Das, was fehlt und wofür | |
die Grünen wirklich gegründet werden mussten: Das Wirtschaften und Leben | |
unter sauberer Energieerzeugung und besserer Ressourcennutzung. Die | |
sozialökologische Transformation. | |
Dieses Projekt vollzieht sich nicht durch Aldi-Bio, die gottverdammte | |
Mülltrennung und den Atomausstieg. Nicht durch die Große Koalition, wie man | |
sieht. Auch nicht durch Symbole wie eine Frau oder einen anatolischen | |
Schwaben als Außenminister. | |
Es gibt dafür keine Hegemonie und braucht auch keine. Was es braucht, ist | |
eine neue gesellschaftliche Mehrheit des Vertrauens, die sich zur Bewahrung | |
individualistischer Freiheit auf ein politisches Miteinander einlässt. Die | |
gemeinsame Basis hat nur drei Worte. Und umfasst doch alles: Im Zweifel | |
ökosozial. | |
22 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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