| # taz.de -- Podium in Berlin zur Lage in der Türkei: Regiert wird nur noch per… | |
| > Die Türkei im Ausnahmezustand: Die JournalistInnen Deniz Yücel und Dilay | |
| > Yalcin berichten von Repressionen und Willkür im Staate Erdoğans. | |
| Bild: Anfang Oktober schloss die türkische Polizei den linken Privatsender İM… | |
| BERLIN taz | Die Bierbänke im SO36, einem kollektiv betriebenen Club mitten | |
| im linken Berliner Stadtteil Kreuzberg, sind bis auf den letzten Platz | |
| gefüllt. „Ich war zum ersten Mal in meinem Leben heilfroh darüber, dass die | |
| Polizei Tränengas eingesetzt hat“, sagt Deniz Yücel auf dem Podium gerade | |
| ins Mikrofon. Es geht um die Putschnacht in Istanbul. Niemand widerspricht. | |
| Yücel, der vor knapp eineinhalb Jahren von der taz zur Welt wechselte und | |
| für das Springer-Blatt aus Istanbul schreibt, erzählt, wie er diese Nacht | |
| im Juli erlebte. Davon, wie am Istanbuler Atatürk-Flughafen Polizisten | |
| versuchten, die Besatzung eines Panzers der Putschisten zu einem | |
| Einsatzwagen abzuführen, ohne, dass diese von der wütenden Menge gelyncht | |
| werden. „Ich war froh, denn so musste ich mich nicht fragen, was ich hätte | |
| tun können. Und ich konnte nichts tun“, sagt Yücel. | |
| „Was passiert gerade in der Türkei“ – unter dieser Fragestellung hat die | |
| Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung ins SO36 geladen. Auf dem Podium sitzt | |
| neben Yücel die freie Journalistin und Medienexpertin Diyal Yalcin. Es sei | |
| ihnen wichtig gewesen, ExpertInnen aus der Türkei selbst zu diesem Gespräch | |
| einzuladen, sagt Moderator Fabian Kunow. „Leute, die das, was dort los ist, | |
| direkt erleben.“ Um die subjektiven Eindrücke soll es an diesem Abend | |
| gehen. | |
| Yücel erzählt vom Wahlkampfbus, den die islamistische Regierungspartei AKP | |
| noch in der Putschnacht zum Flughafen geschafft hatte. Vom triumphalen | |
| Auftritt des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, angehimmelt von eben jener | |
| Menge, die kurz zuvor noch am liebsten entwaffnete Soldaten gelyncht hätte: | |
| „Sag es und wir sterben. Sag es und wir töten“. | |
| ## Pinguine statt Protest | |
| Nach dem versuchten Putsch [1][folgte der Ausnahmezustand,] die | |
| Suspendierung von Tausenden Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die | |
| Schließung zahlreicher Zeitungen, Radio- und Fernsehsender. „Die Presse in | |
| der Türkei stand schon immer unter immensem Druck“, sagt Medienexpertin | |
| Dilay Yalcin. Doch unter der AKP-Regierung sei dieser Druck allmählich | |
| immer größer geworden, vor allem nach den Gezi-Protesten im Jahr 2013. „Die | |
| AKP hat von früheren konservativen Regierungen gelernt, denen die Kontrolle | |
| gefehlt hat“, so Yalcin. | |
| Es geht nicht nur um staatliche Kontrolle und Zwangsschließungen: „Während | |
| und nach der Gezi-Proteste hat sich gezeigt, wie abhängig die türkischen | |
| Medien tatsächlich sind“, fährt Yalcin fort. „Man muss sich nur erinnern: | |
| Während die Menschen auf dem Taksimplatz aufbegehrten, strahlte der Sender | |
| CNN Türk eine Dokumentation über Pinguine aus.“ | |
| Dies liegt vor allem daran, dass die Eigentümer der meisten Medien oft | |
| Geschäftsleute sind, die noch in anderen Branchen tätig sind, etwa im Bau- | |
| oder Rohstoffsektor – und damit oft angewiesen auf staatliche Aufträge. | |
| „Bei dem Normalzustand muss der Ausnahmezustand sich schon Mühe geben, um | |
| überhaupt aufzufallen“, habe er am Anfang gedacht, sagt Yücel. „Aber ich | |
| habe mich geirrt“. Zwar sehe man den Ausnahmezustand nicht, er präsentiere | |
| sich nicht in Form von Soldaten auf den Straßen. Aber er sei natürlich da. | |
| „Das zeigen die jüngsten Schließungen von 23 Radio- und Fernsehsendern. | |
| Regiert wird inzwischen nur noch per Dekret. Erdoğan hat sein gewünschtes | |
| Präsidialsystem jetzt praktisch. Das Parlament ist nur noch ein | |
| Freilichtmuseum“, kritisiert Yücel. | |
| ## „Nach Strafbeteiligung wird da nicht gefragt“ | |
| Die Regierung benutze den Ausnahmezustand, um systematisch die [2][Stimmen | |
| von Opposition und Minderheiten] zum Schweigen zu bringen, sagt Yalcin. | |
| [3][Beispiele] sind die Schließung des linken, als pro-kurdisch geltenden | |
| Senders İMC und des gewerkschaftsnahen Senders Hayatın Sesi TV. Doch auch | |
| unpolitische Medien seien betroffen: „Man muss sich die Sender nur mal | |
| genau anschauen. Einer davon war ein kurdischer Cartoonsender für Kinder, | |
| ein anderer berichtete über alevitische Kultur“. | |
| Durch die Hexenjagd nach dem Putschversuch sei die bürgerliche Existenz | |
| Hunderttausender Menschen zerstört worden, sagt Yücel. Damit meint er nicht | |
| nur die rund 100.000 Menschen, die wegen ihrer tatsächlichen oder | |
| angeblichen Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung ihre Jobs in Ämtern und | |
| Behörden verloren haben. Vielmehr sei jeder betroffen, der auch nur | |
| irgendwie in Kontakt mit der Bewegung stehe. „Nach Strafbeteiligung wird da | |
| nicht gefragt“, sagt Yücel. Wer an einer der Gülen-Universitäten studiert | |
| habe, bekäme jetzt Probleme, einen Job zu finden – obwohl die Einrichtungen | |
| staatlich anerkannt gewesen seien. | |
| „Ich habe eine Bekannte, die zehn Jahre Arbeit bei der Zaman im Lebenslauf | |
| stehen hat“, erzählt Yücel. Die Zaman war eine Gülen-nahe Zeitung, die | |
| bereits vor dem Putschversuch von der Regierung übernommen und Ende Juli | |
| dann ganz geschlossen wurde. „Die kann sich nicht mal mehr in der | |
| sprichwörtlichen Teestube bewerben“. | |
| 6 Oct 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
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