| # taz.de -- Ausstellung in Berlin: Tränen in den Augen | |
| > Amelie von Wullfen zeigt in Berlin Interieurs voll des Unbehagens, mit | |
| > vielen Szenen am Tisch und aus Kinderzimmern. | |
| Bild: Gemäldeausschnitt aus einem der Kinderbilder (Ohne Titel) von Amelie von… | |
| In ihrem Comic „Am kühlen Tisch“ (2014) illustriert Amelie von Wulffen | |
| scheinbar wahre Erfahrungen als Parodie auf ihre Existenz als | |
| zeitgenössische, weibliche, etablierte Künstlerin. Ein Kapitel schildert | |
| das typische Gerangel um den Platz am richtigen Tisch beim Dinner nach der | |
| Ausstellungseröffnung. Am coolen Tisch drängeln sich alle und von Wulffen | |
| sitzt am falschen. Sie muss nervige Gespräche über sich ergehen lassen, | |
| während sie sich an den heißen Tisch sehnt. | |
| Die Psychologie der Tischrunde greift von Wulffen in ihre erste | |
| Einzelausstellung in der Berliner Galerie Barbara Weiss erneut auf. Sie | |
| zeigt 15 aktuelle Malereien, von denen sich ein beachtlicher Teil um | |
| Tischszenen dreht, vor allem das Zusammentreffen in Bauernstuben. | |
| Das orale und soziale Vergnügen der kollektiven Nahrungsaufnahme wird in | |
| dem muffigen Ambiente der heimatlichen Räumlichkeiten von einer | |
| bedrückenden Unbehaglichkeit durchzogen. Es ist ein Unbehagen, das für von | |
| Wulffen von Verlogenheiten und dem Unausgesprochenen herrührt, das solche | |
| Runden prägt. Das ist ein Phänomen, das es nicht nur in Bauern- und | |
| Nazirunden gibt, sondern auch unter Künstler anzutreffen ist. | |
| ## Irritationen im Piefigen | |
| Zumeist orientieren sich von Wulffens Stuben an existierenden Gemälden. So | |
| stammt etwa das Originalmotiv einer ihrer Tischszenen von einem unbekannten | |
| Künstler, auf dessen Werk sie im Internet stieß. Sachte unterwandert von | |
| Wulffen die heimelige Atmosphäre mit kleinen Änderungen. In der bäuerlichen | |
| Stube irritiert das Foto einer Palmeninsel als deplatziertes exotisches | |
| Element, während vor dem Fenster keine Dorfidylle herrscht, sondern Pariser | |
| Großstadtflair mit der Piefigkeit im Innenraum bricht. | |
| Paris als Stadt der Impressionisten, deren Malweise des 19. Jahrhunderts | |
| von Wulffen inspirierender zu finden scheint als den zur selben Zeit in | |
| Deutschland vorherrschenden „unangenehmen Realismus“, wird in der | |
| Ausstellung nochmals zitiert. Der Blick auf Pariser Straßenzüge schleicht | |
| sich auch in die Adaption von Gustave Caillebottes „Das Frühstück“ (1876) | |
| ein, allerdings taucht Paris hier unnahbar in Form eines kleinen Gemäldes | |
| an der Wand auf. Caillebottes großbürgerliche Speisezimmer-Szene ist alles | |
| andere als ein Lichtblick. Freudlos und deprimiert sitzt ein Paar bei | |
| zugezogenen Gardinen am Esstisch. | |
| ## Die Suppe auslöffeln | |
| Ein dunkler Schatten der deutschen Vergangenheit durchzieht hingegen die | |
| lichtdurchflutete Bauernstube aus dem Internet in einer zweiten Fassung. Da | |
| schwebt über der Tischszene ein Porträt von Paul Celan. Während ein kleiner | |
| Junge sich wegen Celans Suizid die Tränen aus den Augen reibt, löffeln die | |
| Erwachsenen stumm die Suppe aus. Immer wieder schiebt die Künstlerin das | |
| Thema des Nationalsozialismus ein. Am offensichtlichsten wird das, wenn | |
| Martin Heidegger und Martin Buber an einem Tisch sitzen und (laut | |
| Pressemitteilung) über Fragen der deutschen und Heideggers persönlicher | |
| Schuld brüten. | |
| Interessant ist die Wahl des Ausstellungstitels „Der Tote im Sumpf“, der | |
| sich wie die Ankündigung eines deutschen TV-Krimis ließt. In einem | |
| Interview spekulierte von Wulffen einmal über die Funktion von | |
| „Aktenzeichen XY“ für die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Für die | |
| Künstlerin handelt das Krimigenre „wahrscheinlich vom schlechten Gewissen | |
| und der Angst, doch noch bestraft zu werden, zum anderen war diese fast | |
| lustvolle Art der Beschäftigung mit Mord und Verbrechen vielleicht ein | |
| Katalysator für die schrecklichen, mit der eigenen Schuld behafteten Bilder | |
| der Menschenquälerei und Massenmorde in den KZs“. | |
| ## Kinder, Kinder | |
| In von Wullfens Ausstellung geht es aber nicht nur um das verdrängte Erbe, | |
| das der Nationalsozialismus auf die Seele nachfolgender Generationen gelegt | |
| hat. Es tauchen auch groteske und surreale Szenen auf. Da sitzen dann | |
| tierartige Monster beisammen und scheinen sich um eine paar Münzen, die | |
| über den Tisch kullern, wie um eine Erbschaft zu streiten. | |
| Es gibt in ihren Bildern auch Bezüge zu einer Kindheit in den 1980er | |
| Jahren, wenn der Teenagerstar aus der US-Serie „Eine amerikanische Familie“ | |
| uns lächelnd anblickt, während das zweite Mädchen im Bild erschrocken | |
| dreinschaut. Scheinbar hat sie soeben ein Kätzchen mit Äther getötet. So | |
| wie Kinder oft kein Blatt vor den Mund nehmen, geht es in von Wulffens | |
| Kinderstuben gemein zu. Dafür wirken sie weniger verlogen als die | |
| bedrückenden Erwachsenenrunden. In beiden Fällen erzeugt die Künstlerin | |
| wunderbare Konstruktionen, die das Alltägliche mit dem Imaginären | |
| verknüpfen. | |
| 18 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Gwendolyn Schneider | |
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